Wenn nicht jetzt, wann dann?
Konsequenzen für die Nachrichtendienste aus der „zweiten Zeitenwende“
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Dr. Gerhard Conrad
Bereits am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem völkerrechtwidrigen russischen Großangriff auf die Ukraine, hatte sich der GKND schon einmal mit der Frage „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ an die Öffentlichkeit gewandt. Angesichts der präzedenzlosen militärischen und politischen Bedrohung der Ukraine wurde hierbei darauf verwiesen, dass die seinerzeit von der Bundesregierung in Aussicht gestellte optimale Ausrüstung der Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung ohne gleichzeitige komplementäre Ertüchtigung der Nachrichtendienste die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen könne.
Bekanntlich sind die Maßnahmen der vergangenen drei Jahre weit hinter den sachlich gebotenen Erwartungen zurückgeblieben. Die damaligen Ausführungen haben somit nichts von ihrer beklemmenden Aktualität verloren, im Gegenteil. Sie gewinnen durch den dramatischen, in seinen tiefgreifenden Konsequenzen für die Sicherheit Europas und Deutschlands noch gar nicht abzusehenden Paradigmenwechsel der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik in geradezu exponentiellem Maße an Bedeutung und Dringlichkeit. Erhebliche Zweifel an Sicherheitszusagen und Bündnistreue Amerikas unter Trump 2.0 drängen sich inzwischen auf; sie werden sich wohl absehbar zu einer wesentlichen Bestimmungsgröße für sicherheitspolitisches Handeln aller Staaten in Europa und weit darüber hinaus entwickeln.
Mit großer Klarheit und Eindringlichkeit hat der künftige Bundeskanzler Friedrich Merz bereits vor den Wahlen, dann aber auch am Abend des Wahltages öffentlich darauf hingewiesen, dass Deutschland weitreichende Konsequenzen in allen Dimensionen der Sicherheitspolitik zu ziehen haben werde, und dies unter außergewöhnlichem Zeitdruck, mit höchster Priorität und massivem, nötigenfalls vervielfachtem Mittelansatz.
Eine solche strategische Neuorientierung hat erhebliche Implikationen auch für die Nachrichtendienste, deren bisherige Befähigungen zum eigenständigen Handeln in Aufklärung und Analyse wie zur rechtzeitigen qualitätsvollen Information der Bundesregierung, zuständiger Ressorts und Exekutivbehörden einer grundlegenden Neubewertung und Neukalibrierung im Lichte der aktuellen und absehbaren Herausforderungen zu unterziehen sein werden.
Es wird mithin gelten, in kürzest möglicher Zeit massive Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen in allen Bereichen der Sicherheitsarchitektur im Allgemeinen und der Dienste im Besonderen zu erzielen, andere nur längerfristig realisierbare Vorhaben zumindest zu konzipieren, anzustoßen, zu planen und finanziell entsprechend auszustatten. Im Vordergrund werden zunächst Maßnahmen zur maximalen Ertüchtigung auf nationaler Ebene zu stehen haben, dicht gefolgt von Konsultationen mit einer Auswahl von Partnern in Europa, aber auch in Übersee, zu allen Fragen einer komplementären Bündelung, wo immer möglich auch Angleichung und Verzahnung von Befähigungen in Beschaffung, Auswertung und Sicherheit. Gleiches wird in Bezug auf einen konsequenten Ausbau nachrichtendienstlicher Unterstützung von Lagefeststellung und Lageanalyse der EU gelten müssen. Der künftige Bundeskanzler hat an seinem Willen zu einer neuen Dynamisierung deutscher EU-Politik gerade auch im Hinblick auf ihre sicherheitspolitischen und militärischen Dimensionen keinen Zweifel gelassen; hier darf somit eine hochrangige und frühzeitige Initiative der neuen Bundesregierung auf der Ebene der Kommissionspräsidentin und der HR/VP zugunsten der Strukturen von EU INTCEN und EUMS.INT nicht fehlen. Darüber hinaus wird auch die in Aussicht gestellte massive deutsche Involvierung in europäische Projekte und Initiativen in Forschung und Entwicklung zur Erhöhung europäischer technologischer Eigenständigkeit auf ihre Relevanz für nachrichtendienstliche Befähigungen (Space, KI, Quantum Computing, Cloud, Cyber) hin zu prüfen und wo möglich zu nutzen sein.
Deutsche Sicherheitsarchitektur
Die von allen Parteien in der Enquête-Kommission wie im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Afghanistan festgestellten erheblichen Defizite in der bisherigenste Praxis ressortübergreifenden Außen- und Sicherheitspolitik werden durch neue Strukturen und Prozesse überwunden werden müssen.
Die Zielvorstellungen der künftigen Regierungspartei und ihres Vorsitzenden sind hier seit geraumer Zeit sehr klar: Im Bundeskanzleramt soll die herausgehobene Funktion eines Nationalen Sicherheitsberaters ebenso eingerichtet werden wie ein Bundessicherheitsrat samt einem diesen unterstützenden ressortübergreifenden Gesamtlage- und Analysezentrum. Vor der Körber Stiftung kündigte Friedrich Merz am 23.01.2025 einen neuen Nationalen Sicherheitsrat im Kanzleramt an. Er werde „der Dreh- und Angelpunkt der Bundesregierung“ für innere und äußere Sicherheit werden. In Krisenlagen würden dort alle Informationen gebündelt, „um ein einheitliches Lagebild zu erhalten“. Eine unionsgeführte Bundesregierung werde dann auch in unterschiedlichen Ministerien mit einer Stimme reden. Das sei wichtig, bekräftigte Merz. Denn:
„Deutschland trägt Verantwortung. Nicht nur für die eigenen Interessen, sondern auch für die Handlungsfähigkeit Europas.“
Die Umsetzung dieses Projekts in seinen ressortübergreifenden und Bund-Länder-Dimensionen wird nicht trivial sein. Unter praktischen Aspekten weniger voraussetzungsvoll dürfte hierbei die politische Koordinations- und Vorbereitungsfunktion eines Sicherheitsrates auf Minister und Staatssekretärsebene sein, solange dieser – wie bisher schon der Bundessicherheitsrat (BSR) – als Kabinettsausschuss verstanden wird. Der Aufbau eines Gesamtlage- und Analysezentrums und dessen Verzahnung auf Bundes- und Länderebene wird dagegen – je nach Ambition der neuen Bundesregierung – konzeptionell wie in der strukturellen Umsetzung Expertise und Ressourcen binden. Hier wird am Anfang auch auf jeden Fall eine Klärung der konkreten Erwartungen an die Beratungsleistung eines derartigen Zentrums im Rahmen von Routineberichterstattung wie anlass- und entscheidungsbezogener Lagearbeit stehen müssen.
Es wird sich im konkreten Fall anbieten, bestehende Strukturen wie das in Zukunft einem Nationalen Sicherheitsberater sachlogisch zu unterstellende Lagezentrum im BKAmt (Referat 010) daraufhin zu überprüfen, ob es unmittelbar als Nukleus für den Aufbau eines Gesamtlage und Analysezentrums genutzt werden kann, in dem künftig kurzfristige taktische wie auch strategisch mittel- bis langfristig angelegte Lageberichte und Analysen aus den Diensten (BND, BfV/Verfassungsschutzverbund, BAMAD, MilNwBw) und den sicherheitspolitisch relevanten Ressorts der Bundesregierung (u.a. AA/BMZ, BMVg, BMI, BMF, BMWK, BMG, „Digitalministerium“) eingehen und zu ressortübergreifenden Gesamtlagepapieren für den BSR aggregiert werden. Festzustellen sein wird in diesem Zusammenhang wohl auch, ob und in welcher Weise die Spiegelreferate der Ressorts im BKAmt als Schnittstellen zwischen Gesamtlage- und Analysezentrum und den jeweiligen Ressorts genutzt werden können. Hierbei werden dann allerdings auch einheitliche methodische Maßstäbe und Befähigungen durch eine entsprechende Schulung in Lagearbeit und Berichterstattung für das betroffene Personal in den Ressorts und Spiegelreferaten zu schaffen sein. Sicherzustellen sein werden zudem auch redundante gesicherte IT-basierte Kommunikationsverbindungen im Bundeskanzleramt und zu allen anderen Ressorts. Dies gilt auch für die dem Bundeskanzler und seinem Stab gegebenenfalls zur Verfügung zu stellenden mobilen Endgeräte.
Eine sachlich in jedem Fall gebotene Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise zumindest in die strategische Lagearbeit wird wohl erst nach Etablierung von Kernstrukturen in Betracht kommen können, da hier generell auch Aspekte der personellen und materiellen Sicherheit eine wichtige Rolle spielen, deren Lösung Zeit erfordert.
Von Anfang an sollte darüber hinaus in jedem Fall eine leistungsfähige Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung etabliert werden, um in konzeptioneller und operativer Abstimmung mit den Diensten und den betroffenen Ressorts (AA, BMVg, BMI, Bundespresseamt) das öffentliche Profil der Nachrichtendienste des Bundes zu akzentuieren und das Verständnis für die Bedeutung qualifizierter nachrichtendienstlicher Aufklärung im Rahmen der sicherheitspolitischen Daseinsvorsorge ebenso umfassend zu fördern wie dies in den Bereichen Landes- und Bündnisverteidigung im Zuge der Zeitenwende nach 2022 zunehmend der Fall geworden ist.
Zukunftsfähigkeit der Dienste
Angesichts der präzedenzlosen Herausforderungen für die innere und äußere Sicherheit Deutschlands, seiner Verbündeten und Freunde wird eine Bestandsaufnahme der kurz-, mittel- und langfristig anzugehenden operativen, analytischen, organisatorischen oder auch rechtlichen Anforderungen für die künftige Auftragserfüllung unter neuen Vorzeichen vorzunehmen sein.
Hierzu zählen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aus Sicht des GKND jedenfalls folgende Schritte:
Prüfung und Einleitung zusätzlicher Projekte zur Erweiterung von technischen Optionen (OSINT, IMINT, SOCMINT, SIGINT, CNO) zur Gewährleistung zukunftsfähiger eigenständiger „situational awareness“ in prioritären Aufklärungsräumen.
Etablierung eines Beschaffungs- und Entwicklungsschwerpunkts „Künstliche Intelligenz“ zur breitenwirksamen Unterstützung aller Aufklärungs- und Analysebereiche, auch unter dem Aspekt der Befähigung zur Massendatenerfassung und Analyse.
Prüfung von sicherheitlich und rechtlich vertretbaren Kooperations- und Outsourcing-Optionen im Bereich OSINT/ SOCMINT, unter Einbeziehung ausgesuchter nachrichtendienstlicher Partner, ggf. auch unter Nutzung von Kapazitäten der EU.
Konsequente Ausweitung redundanter zukunftsfähiger (Quantum-Computing) gesicherter Kommunikationsverbindungen im Bundeskanzleramt sowie zwischen diesem und allen anderen Ressorts und sachlich zuständigen Oberen Bundesbehörden.
Entwicklung einer politischen Initiative für eine deutlich intensivierte nachrichtendienstliche Unterstützung der EU in Lagefeststellung und Lagebeurteilung (EU INTCEN, EUMS.INT, SIAC).
Umfassende, bereits kurzfristig einzuleitende perspektivische personalwirtschaftliche Sachstandserhebung in den Diensten zur Erfassung der künftigen Bedarfe an spezifischer auftragsgerechter Fach- und Sachkompetenz in den einzelnen Arbeitsbereichen. Ziel muss, gerade im Hinblick auf die sich demographisch abzeichnenden Veränderungen im Personalbestand ein maximaler Prozentsatz an ausgewiesener aufgaben- und fachspezifischer Expertise in allen Bereichen von Beschaffung und Auswertung sein. Möglichen künftigen Defiziten wird von vornherein durch ambitionierte, auch kosteneffektive Nachschulungen und Ausbildungsgänge vorzubeugen sein.
Perspektivische quantitative personelle Stärkung der operativen und auswertenden Bereiche. Nachrichtendienstliche Arbeit erfordert aufgrund des mit ihr verbundenen besonders ambitionierten Anspruchs auf spezifische Informationsbeschaffung („known unknowns, unknown unknowns“) und deren kompetente Analyse einen hohen Ansatz spezifisch qualifizierten und motivierten Personals. Massive Stellen- und Personalzuwächse werden in den Kernbereichen, hier kurzfristig insbesondere auch bei Spionageabwehr, Gegenspionage und militärischer Aufklärung, unumgänglich sein.
All dies wird ohne eine Wiedervorlage der personalwirtschaftlichen, personalrechtlichen, status-, besoldungs- und vergütungsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Dienste kaum zu leisten sein. Ziel muss es sein, größtmögliche Flexibilität und Effektivität in der Akkumulation und Förderung von spezifischen fachlichen Kompetenzen der Mitarbeiterschaft zu gewährleisten. Ob dies mit den bisherigen Regelungen der .Bundeslaufbahnverordnung und des TVÖD geleistet werden kann, steht dahin.
Eine Straffung von Mechanismen der gerichtsähnlichen Kontrolle (Verlagerung von einer niederschwelligen Vorab- zur strengeren Verlaufskontrolle mit Korrekturfunktionen) unter Einbeziehung der Erfahrungswerte des UKR und der betroffenen Behörden sollte angestrebt werden, ebenso wie eine konsequente personalwirtschaftliche Kompensation der in Kontrollverfahren gebundenen Fachkräfte zur Wiederherstellung der vorherigen operativen und analytischen Kapazitäten in den betroffenen Bereichen.
Geboten sein wird ebenfalls eine Wiedervorlage der Übermittlungsvorschriften im BNDG und BVerfSchG unter dem Aspekt ihrer Praktikabilität und rechtlichen Unabdingbarkeit ebenso wie eine Wiedervorlage und wo nötig und möglich Revision der in Umsetzung der BVerfG-Entscheidungen erfolgten Gesetzgebung.
Viele dieser Handlungserfordernisse sind seit Jahren nicht nur durch den GKND definiert und kommuniziert worden. Eine seit langem überfällige massive Ertüchtigung muss nun wohl „unter Feuer“ erfolgen, jedoch am besten unter dem unverzagt-stoischen Motto unserer britischen Freunde:
„Better late than never“.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad