Nichtwissen ist tödlich

Buchvorstellung und Diskussion


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Klaus Schmidt, Oberst a.D.

Am 20. Februar 2025 wurde das Ende 2024 im Econ-Verlag erschienene Buch von Gerhard Conrad, „Nichtwissen ist tödlich. Der Nahe Osten und die Rolle der Geheimdienste“ im Rahmen eines Berliner Treffens des GKND unter Leitung und Moderation des renommierten TV-Journalisten Werner Sonne vorgestellt und mit dem Autor diskutiert. Jürgen Diessl, Leiter des Econ-Verlags, skizzierte eingangs noch die Genese des Werkes, und hier insbesondere die Herausforderung für Autor und Verlag, mit den sich überstürzenden Ereignissen in der Region bis zum Erscheinungstermin Schritt zu halten. Es sei jedoch dank allseitigem Engagement gelungen, Aktualität und Grundsätzliches mit einander in Einklang zu finden.

Der Autor, Dr. Gerhard Conrad, ist Islamwissenschaftler, Völkerrechtler und Politologe, ehemaliger hochrangiger Angehöriger des Bundesnachrichtendienstes und in seiner letzten Verwendung als EU-Beamter Direktor des EU Intelligence and Situation Center (INTCEN)in Brüssel, der seit 2020 als Visiting Professor am King’s College, London, und an Sciences Po wie an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Berlin, mit zahlreichen Veröffentlichungen und medialen Diskussionsbeiträgen zu „Intelligence matters“ hervorgetreten ist. Für den Vorstand des GKND ist er für Analyse, Beratung und Medien zuständig.

Während der Vorstellung und anschließenden lebhaften Diskussion kamen die folgenden, im Buch detailliert dargelegten und belegten Kernaussagen zur Geltung:

  • Der Krieg im Nahen Osten verdeutlicht die Bedeutung von nachrichtendienstlicher Arbeit wie ihre Tragik in besonders augenfälliger Weise.

  • Er ist ein modernes Fallbeispiel für uns alle, eine eindringliche Mahnung und Anregung zugleich, eine der wichtigsten Dimensionen der Daseinsvorsorge, vorausschauendes und situationsadäquates Handeln, angemessen in den Blick zu nehmen, Vorsorge zu treffen und sich wo nötig rechtzeitig (!) zu ertüchtigen. Nur wer die Fähigkeit zur Lagefeststellung, Lagebeurteilung und Vorausschau besitzt, kann zielorientiert handeln. Der enge Verbund zwischen nachrichtendienstlicher Beschaffung, Auswertung, Analyse und wirkungsvoller Berichterstattung an Entscheidungsträger stellt hier eine der Kernkompetenzen für „situational awareness“ dar.

  • Israel ist trotz verschiedener Warnungen seiner weltweit renommierten israelischen Nachrichtendienste in eklatanter Weise nicht auf den Terrorangriff von Hamas am 07. Oktober 2023 vorbereitet gewesen. Das Land, insbesondere aber die Menschen, haben schwere Verluste bis hin zu einer so noch nicht dagewesenen Geiselnahme und Entführung von über 240 Menschen hinnehmen müssen.

  • Auch mehr als 500 Tage nach dem Terrorüberfall steht Israel innen- und sicherheitspolitisch vor einem Trümmerhaufen seiner Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit. Die bis heute andauernde, von Hamas ebenso zynisch wie ungehindert instrumentalisierte Geiselkrise verdeutlicht dies immer wieder aufs Neue.

  • Darüber hinaus hat Hamas gezeigt, welche nachrichtendienstliche Befähigungen sie ihrerseits unter den Augen der Israelis hat erwerben und bei der systematischen Aufklärung des Kriegsgegners hat einsetzen können. Hamas war in der Lage gewesen, in großem Stil taktische Informations- und damit Handlungsüberlegenheit auf dem Gefechtsfeld in Israel zum Einsatz zu bringen.

  • Der Überfall auf Israel zeigt, wie ein strategisch auf allen militärischen Gebieten im Grunde unterlegener Akteur durch professionellen Einsatz nachrichtendienstlicher Aufklärung und deren geschickte Umsetzung in operative Planung und Aktion taktische Überlegenheit erreichen kann.

  • Der weitere Verlauf der Auseinandersetzung zeigt allerdings auch, dass Hamas auf der Ebene der strategischen Aufklärung bezüglich der Interessenlage und Handlungswillig keit seiner regionalen Verbündeten schwerer Selbsttäuschung erlegen ist. Der angestrebte volle militärische Mehrfrontenkrieg gegen Israel ist ausgeblieben. Kein Verbündeter der „Achse des Widerstands“ war zum ultimativen Einsatz und Risiko im Kampf mit Israel bereit, wenngleich die Bedrohung durch den Raketen- und Drohnenbeschuss von Hizballah, schiitischen Milizen im Irak und die Houthis im Jemen zu erheblichen Beeinträchtigungen für die Bevölkerung in Israel führte und auf Dauer nicht hinzunehmen war.

  • Im Krieg gegen Hamas in Gaza und im massiven Angriff auf Hizballah in Libanon zeigten die israelischen Dienste dann allerdings ihre überlegenen Befähigungen zu hochaufgelöster und dynamischer nachrichtendienstlicher Aufklärung gegnerischer Stellungen und Präsenzen bereits im Vorfeld, aber auch während der Kampfhandlungen. Durch überlegenes und wirksames Targeting wird der Gegner in die Defensive gedrängt, wenn nicht gleich vernichtet. Einmal mehr zeigt sich, dass Targeting nichts anderes ist als die Anwendung aller Aufklärungsmittel zur Identifizierung, Lokalisierung und Qualifizierung von Zielen einschließlich der Art und Aussichten ihrer Bekämpfung. Intelligence in Form der umfassenden Befähigung zur hochaufgelösten, zeitkritisch aktions- und reaktionsfähigen Joint Intelligence Surveillance and Reconnaissance (JISR) ist hier unabdingbar. Dies gilt nicht nur für den Nahen Osten.

  • Die israelischen operativ-taktischen Aufklärungsbefähigungen gehen bekanntlich bis hin zur Identifizierung und Lokalisierung einzelner Personen in Gaza, Libanon, aber auch in Syrien, Irak und Iran, wo nötig auch außerhalb der Region im internationalen, ja globalen Umfeld.

  • Im Ausnahmefall haben durch einen solchen umfassenden Mitteleinsatz sogar Geiseln lokalisiert und mit Hochrisiko-Operationen befreit werden können. Zugleich lauert jedoch auch hier ein besonders hohes Risiko tragischer Irrtümer in Intelligence und Operationen. Glanz und Elend liegen hier nur einen Wimpernschlag auseinander.

  • Der Nahostkonflikt zeigt damit bis in den Einzelfall hinein, welchen Anforderungen nachrichtendienstliche Aufklärung, von der strategisch-langfristigen bis hin zur taktisch-dynamischen Dimension gerecht werden muss. Er zeigt, dass „intelligence power in peace and war“ eine lebenswichtige Kernbefähigung zur Daseinsvorsorge bereits in einem intransparenten, volatilen, geschweige denn feindseligen Umfeld ist.

  • Hierbei geht es aber nicht nur um militärische Sachverhalte, sondern gerade auch um ein vertieftes Verständnis der Akteure, ihrer Interessen, Möglichkeiten und ihres politischen, wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Umfelds. „Kenne Deinen Gegner, kenne Dich selbst“ ist die Quintessenz der Lehren von Sun Tsu bereits vor 2.400 Jahren gewesen. Sie ist bis heute eine der zeitlosen Leitlinien für verantwortliches sicherheitspolitisches Handeln. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist hochaufgelöste, zeitgerechte und zutreffende nachrichtendienstliche Aufklärung und Analyse in einem hierauf aufbauenden strukturierten politischen Entscheidungsprozess.

  • Ohne ein vertieftes Verständnis sicherheitspolitisch relevanter oder gar feindseliger Akteure kommen schwerwiegende Fehlurteile und Fehlentscheidungen zustande. Die jüngsten Berichte der Enquête-Kommission und des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses haben dies aktuell parteiübergreifend im Fall Afghanistans festgestellt. Das Gleiche gilt für Russland, dessen „eternal interests“ über Jahre wenn nicht Jahrzehnte verkannt oder, bedenklicher noch, verdrängt worden sind. Umso dringlicher wird eine optimale Befähigung zur nachrichtendienstlichen Lageanalyse und Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden fundamentalen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels, der mit der zweiten Administration Trump eingeleitet worden ist und auch vor der amerikanischen Intelligence Community nicht Halt macht.

  • Kenne Deinen Gegner: Am Beispiel von Hamas in Gaza und seinen Unterstützern können die fachlichen und methodischen Implikationen dieser Maxime im aktuellen Buch erläutert werden. Historische, ethnologische wie religions-, rechts- und sozialwissenschaftliche Ansätze sind hier ebenso wichtig wie die Ermittlung konkreter militärischer und terroristischer Befähigungen. Beide Dimensionen sind entscheidend: Befähigungen und Absichten. Und in beiden Dimensionen sind Vorurteile, Wunschdenken und Realitätsverweigerung potentiell tödlich. Ihnen gilt es, mit einem umfassenden, auch wissenschaftliche Erkenntnisse vollumfänglich berücksichtigenden nachrichtendienstlichen Ansatz nachhaltig entgegenzuwirken.

  • Ein derart vertieftes Verständnis der Akteure und ihres Umfelds gibt dann auch wichtige Anhaltspunkte für die Identifizierung und Qualifizierung der Konsequenzen und Implikationen des aktuellen Nahostkonflikts für die eigene innere Sicherheit und Stabilität in Deutschland, in Europa, in der westlichen Welt.

  • Im Buch werden die Gefahrenmomente, denen wir in unserer Sicherheit und politischen Willensbildung durch die Implikationen des Konflikts ausgesetzt sind, benannt und erläutert. Diese gilt es, im Interesse sachgerechter eigener Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit nachrichtendienstlich wie fachlich zu erfassen und in ihren gesellschafts- und sicherheitspolitischen Implikationen zu analysieren:

    • Salafitische Jihad- und Kalifats-Ideologien in ihren Inhalten wie ihren gesellschaftlichen und psychologischen Treibern, ihren Triggerpunkten in den muslimischen Communities auch außerhalb der islamischen Welt.

    • Information Warfare, gerade in Zeiten der Social Media und den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der selektiven Wahrnehmung, der Informationsmanipulation und der globalen Verbreitung von Desinformation, die ihrerseits gravierende Auswirkungen auf öffentliche Meinung und hiervon beeinflusste politische Willensbildung haben.

    • Lawfare, um auf der Grundlage selektiver, im Bedarfsfall auch grob verzerrter Realitätswahrnehmungen völkerrechtliche oder strafrechtliche internationale Prozesse zu initiieren. Im Vordergrund steht hier der Vorgang als solcher in seinen politischen und psychologischen Dimensionen, mit denen Politik von verschiedenster Seite und mit den verschiedensten Motiven betrieben werden kann.

    • Psywar, der unter gezieltem Missbrauch menschlicher Schicksale, seit Jahrzehnten von Hamas und Hizballah im Rahmen asymmetrischer Kriegführung systematisch gegen Israel und seine Bevölkerung geführt wird. Ziel ist es zum einen, über die zwischenmenschliche Solidarität mit der Not von Familien maximalen Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, zum anderen mit triumphalen Gesten „Sieg und Selbstbehauptung gegenüber dem Feind“ nach innen wie nach außen zu demonstrieren.

  • Der Konflikt in und um Gaza hat sich zu einem Brandbeschleuniger für islamistisch motivierte gesellschafts- und ordnungspolitische Auseinandersetzungen in westlichen Staaten entwickelt, bis hin zur Internet-basierten globalen propagandistischen wie operativen Förderung islamistisch motivierter terroristischer Gewalt gegen die „Ungläubigen“, sei es in Australien, Kanada, USA, Großbritannien oder Kontinentaleuropa.

  • All diese Phänomene verdeutlichen, wie lebenswichtig leistungsfähige Nachrichtendienste im Inneren wie international und global für die frühzeitige Detektion und Analyse von Gefahren ebenso sind wie für ihre Bewältigung.

    • Strategic intelligence ist dabei nur eine Dimension, die keinesfalls mit analytischer Weltbetrachtung verwechselt werden darf. Intelligence muss stets konkret handlungsleitend sein.

    • Auf ihrer Grundlage müssen vorausschauend national wie in Bündnissen Befähigungen geschaffen werden, mit denen sich abzeichnende Bedrohungen wirksam abwehren lassen, allein oder im Verbund.

    • Auf ihrer Grundlage muss vorausschauend operativ taktische nachrichtendienstliche Aufklärung gegen identifizierte Gegner und Gefahren betrieben werden, um im Ernstfall rechtzeitige, wo nötig auch vorbeugende gezielte Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

    • Die damit einhergehende Lageentwicklung muss wiederum im Rahmen von „current intelligence“ ständig aktuell festgestellt und bewertet werden, um situationsangemessen handeln zu können.

    • Überlegenheit in „situational awareness“, also Informationsüberlegenheit, ist eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung von politischen oder militärischen Konflikten. Wer diese Befähigung nicht im erforderlichen Umfang besitzt, steht auf verlorenem Posten.

  • Vor diesem Hintergrund befasst sich das Buch wie bereits sein Vorgänger (Keine Lizenz zum Töten, Econ 2022) auch noch einmal in einigen Kapiteln ausführlich mit den fachlichen, personellen, organisatorischen, materiellen, aber auch rechtlichen und ordnungspolitischen Voraussetzungen für kompetente nachrichtendienstliche Arbeit, eben mit den „intelligence matters“.

  • Schwerpunkte der Diskussion lagen auf den rechtlichen Voraussetzungen für eine Ertüchtigung der Dienste in Deutschland mit dem Ziel eines Gleichstandes mit den demokratischen Partnern aus der westlichen Wertegemeinschaft und der konkreten Ausgestaltung einer ressortübergreifenden Sicherheitsarchitektur auf Bundesebene, insbesondere eines Nationalen Sicherheitsrates, der auf die Arbeitsergebnisse eines gemeinsamen Lage- und Analysezentrums zurückgreifen kann.

  • Eine derartige öffentliche und fachliche Diskussion zu Art und Umfang nachrichtendienstlicher Befähigungen ist im angloamerikanischen Raum seit Jahrzehnten Standard; in Deutschland steckt sie in den Kinderschuhen.

  • Das Buch soll hier im deutschsprachigen Raum anhand des „Lehrstücks Nahostkonflikt“ einen Beitrag aus fachlicher nachrichtendienstlicher und sicherheitspolitischer Sicht leisten, der zu weiterer Befassung gerade auch im Rahmen der nunmehr anstehenden mehr als dringlichen Umorientierung und Reorganisation der deutschen wie europäischen Sicherheitsarchitektur anregt.

Angesichts des sich abzeichnenden epochalen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels im Verhältnis zu einer sich transformierenden Weltmacht USA sind „intelligence matters“ für alle europäischen Staaten und so auch insbesondere für Deutschland mit seinem über Jahrzehnte eher unbeeindruckt gepflegten minimalistischen Ansatz in Sicherheitsfragen, zu überlebenswichtigen Dimensionen der Daseinsvorsorge und Selbstbehauptung geworden. Wehe dem, der hier zurückgefallen ist und gravierende Defizite und Rückstände nicht rechtzeitig aufholen kann.

Klaus Schmidt, Oberst a.D.

Vorsitzender des Vorstands

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