Vorsicht bei komplexer Aktenlage!

Kritische Anmerkungen zum Bericht der ZEIT vom 02.01.2024 zum Afghanistan-Debakel von 2021


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Gerhard Conrad

Am 02. Januar 2024 veröffentlichte die ZEIT einen vernichtenden Bericht zu den Vorgängen in und zwischen den Ressorts der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Regimes in Kabul am 15. August 2021, der damit einhergehenden Machtübernahme der Taliban und den sich hieraus ergebenden deutschen Evakuierungsbemühungen.

Grundlage der ebenso drastisch wie wohl letztlich auch zutreffend mit dem Ausruf „"Wahnsinn. Eine Riesenscheiße" überschriebenen umfänglichen Reportage sind offensichtlich die dem 1. Untersuchungsausschuss des Bundestages zu Afghanistan übermittelten Unterlagen in einem Umfang von 220 Gigabyte, die offenbar ihren – wohl rechtswidrigen – Weg in den journalistischen Rechercheverbund der ZEIT gefunden haben. Allein der BND hatte dem Vernehmen nach 22.500 Dokumente – die ZEIT spricht von mehr als 10 Gigabyte – als einschlägig für den Untersuchungsausschuss identifiziert. Ungeachtet der durchaus kommentierungsbedürftigen Löschung von Kalendereinträgen sämtlicher ausgeschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kanzleramts, dürfte auch dieses, zusammen mit den zuständigen Kernressorts (AA, BMVg, BMI, BMZ), noch reichlich zu diesem Aktenberg beigetragen haben.

Wie soll ein derartiges Volumen mit begrenzten Mitteln und einem – so die ZEIT selbst – offenbar auf sechs Monate begrenzten Zeitansatz des Rechercheteams systematisch ausgewertetwerden? In welchem Umfang bestanden die für ein Verständnis der Vorgänge erforderlichen Kenntnisse über Arbeitsmethoden, Zuständigkeiten und Abläufe in den verschiedenen Ressorts, im Bundesnachrichtendienst, in der Bundeswehr, und insbesondere auch in Bezug auf das Zusammenwirken zwischen den einzelnen sicherheitspolitischen Akteuren?

Die Durchsicht des Artikels deutet eher darauf hin, dass dies nicht überall, und jedenfalls nicht für den BND, der Fall gewesen ist – letztlich angesichts der Spezifika von Materialien, Methodik und Strukturen auch nicht gewesen sein kann. Dies wiederum muss einige Sachverhaltsdar stellungen und Schlussfolgerungen jedenfalls solange relativieren oder ganz in Frage stellen, bis eine entsprechende Auswertung erfolgt ist und im Bericht des Untersuchungsausschusses zur Verfügung gestellt wird.

Zweifel sind so bereits zur Aussage zu Beginn des Artikels anzumelden, in der – kontextlos – eine „BND-Prognose“ vom 03.08.2021 zitiert wird, der zufolge „ein Taliban-Emirat … ein frühestens in zwei Jahren wahrscheinliches Szenario sein könne“. Dies korrespondiert in keiner Weise mit der bisherigen medialen Berichterstattung, auch unter Berufung auf PKGr und Untersuchungsausschuss, dass der BND bis in den Sommer 2021 ein Ende des bisherigen Regimes binnen 30 bis 90 Tagen für möglich gehalten und bereits zum Jahreswechsel 2020/2021 die Perspektive eines Taliban 2.0-Regimes nach Abzug der westlichen Streitkräfte aufgezeigt habe. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich sicherlich bei solider Zuordnung der jeweiligen Aktenstücke nach Inhalt, Ersteller, Adressat und Datum klären; dies muss jedoch eben auch geleistet werden, wenn man sich nicht dem Vorwurf einer pointen- und interessegeleiteten Florilegien-Sammlung aussetzen möchte.

Es wird davon auszugehen sein, dass der BND dem Untersuchungsausschuss die Afghanistanberichterstattung wie auch alle thematisch einschlägigen Eingangsmeldungen und internen Lagevermerke pflichtgemäß vollumfänglich zur Verfügung gestellt hat. Nur in einer strukturierten Gesamtschau dieser Materialen lassen sich die Meldungs- und Berichterstattungsflüsse einschließlich ihrer möglichen Brüche und Fehler in Sachverhaltserstellung und -bewertung erfassen und in ihrem Weg durch die Zuständigkeitsbereiche des Dienstes und des Bundeskanzleramtes verfolgen.

Nur auf dieser Grundlage lassen sich dann ausreichend belastbare Indizien für mögliche Fehlleistungen, deren Ursachen und Auswirkungen ermitteln und weiter verfolgen. So nützt es wenig festzustellen, dass „im Sommer 2021 den Analysten vom BND eine kleine Reisegruppe im fernen Afghanistan aufgefallen, beobachtet und als Taliban-Aktivität zur Vorbereitung des Vormarschs im Süden des Landes (Ausbau von Raumkontrolle), zur Rekrutierung von Kämpfern für die Rückeroberung des Landes“ qualifiziert worden sei. Dass diese Berichterstattung dann offenbar „in den Akten verschwindet“ und „man unter deutschen Geheimdienstlern nicht alarmiert“ gewesen sei, ist ebenfalls eine Aussage, die dem zugrundeliegenden Sachverhalt in seiner wenig spezifischen Darstellung in keiner Weise gerecht wird:

  • Welche Qualität hatte dieses Meldungsaufkommen?

  • Wie wurde es bewertet und in ein Lagebild eingeordnet - oder möglicherweise eben auch nicht?

  • War dies eine Einzelmeldung oder Teil einer kontinuierlichen Berichterstattung, was dem Ganzen ein wesentlich höheres Gewicht verleihen würde?

  • War der Vorgang bestätigt?

  • Welchen Umfang und damit welche Relevanz hatte die beobachtete oder vermutete Rekrutierungsaktion?

  • Wurden über fachliche Steuerungshinweise der Auswertung weitere Aufklärungsmaßnahmen veranlasst?

Die in der ZEIT zitierte Meldung indiziert erst einmal nur ein operatives Interesse der Taliban an ihrer weiteren militärischen Ausdehnung in den Süden, was als solches eher naheliegend und damit banal ist, jedoch nichts über deren Kräfteansatz und Erfolgsaussichten aussagen kann. Eine derartige Meldung hat erst einmal Relevanz als wertvolles Indiz für weitere Aufklärung. Sie wird im Kontext weiterer eingehender Berichterstattung in einem Meldungs- und Lagebild einzuordnen sein. Zur Bewertung des Vorgangs sind diese Aspekte entscheidend, nicht der simple Umstand, dass hier eine Meldung vorlag.

Inkonsistent bleibt auch die Sachverhaltsdarstellung im den dem Bundeskanzleramt und dem Bundesnachrichtendienst gewidmeten Abschnitten: So hätte der Geheimdienst „spätestens am 11. August Großalarm schlagen müssen. Kabul zunehmend isoliert, Versorgungslinien‚ wahrscheinlich kollabiert‘, ein Kipppunkt erreicht, heißt es dort“. Damit kann in der Sache niemand etwas anfangen:

  • Wo und was ist „dort“?

  • Sind dies Eingangsmeldungen z.B. aus der BND-Residentur in Kabul, interne Lageanalysen einzelner Referate, ist es (wohl weniger wahrscheinlich) BND-Berichterstattung an die Arbeitsebene von Ministerien, des Bundeskanzleramts?

Erst eine derartige Zuordnung verleiht diesen Aussagen Substanz und Relevanz, gerade auch erneut im Hinblick auf die Frage, welchen Weg diese alarmierenden Informationen innerhalb des Dienstes und ggf. innerhalb der zuständigen Ressorts genommen haben oder eben auch nicht.

Ein beinahe unfreiwilliges, wenngleich mit früheren medialen Darstellungen korrespondierendes Lob enthalten dann die folgenden Ausführungen:

„Rund 30 vertrauliche und geheime Analysen beweisen, wie gut der BND schon ab März 2020 über den Staatszerfall im Bilde war ("bis hin zur bedingungslosen Kapitulation").

Im Januar 2021 heißt es: Die Taliban seien

"wohl umkehrlos überlegen".

Bald darauf:

‚Es gibt kein Patt.‘“

Erneut wird hier die Frage zu erörtern sein, ob dies nun eingehende Berichte aus BND-Aufkommen oder von Partnerdiensten waren, ob es sich hier um hausinterne Lagefeststellung und Lagebeurteilung oder gar um Ausgangsberichterstattung an die Bundesregierung handelte, um die Relevanz des Materials und die Umstände seiner Beachtung oder eben auch Nichtbeachtung zu erkennen und zu bewerten. Die Andeutungen des ZEIT-Artikels „Der BND hat fast alle Informationen, nur verbindet sie niemand zu einem Gesamtbild. Es folgen Personalwechsel und abgebaute Abhörgeräte“ könnten so verstanden werden, dass eine konsistente Lagearbeit im Jahresverlauf 2021 aufgrund interner Vorgänge, ggf. auch angesichts des Bundeswehrabzugs bis Juni 2021 und der ab Juli beginnenden Ferienzeit, nicht mehr erfolgte, so dass die offenbar weitgehend zutreffende strategische Berichterstattung des Jahreswechsels 2020/2021 und Frühjahrs 2021 keine angemessene Konkretisierung und Entsprechung in der Beobachtung und Analyse der zunehmend dynamischen Lageentwicklung in Afghanistan mehr fand? Dies wäre ein ebenso banaler wie gravierender Umstand, dem in einer Fehleranalyse der letzten Monate westlicher Präsenz in Afghanistan nachzugehen wäre. Entscheidend wäre hier gerade auch die Feststellung, ob diese Bewertungen Teil der Ausgangsberichterstattung des BND an die Bundesregierung waren. Sollte dies so gewesen sein, wäre der Vorwurf, die Fäden nicht zusammen bekommen zu haben, in erster Linie an die Abnehmer der Berichterstattung zu richten. Dem BND könnte dann gegebenenfalls „nur“ vorgehalten werden, nicht mit der nötigen Durchschlagskraft seine alarmierende Lagebeurteilung in den verschiedenen Ressorts und auf den entsprechenden Hierarchieebenen zur Geltung gebracht zu haben. Bekanntlich ist dies ein nicht nur in Deutschland zu beobachtendes und bereits wissenschaftlich beschriebenes Phänomen im schwierigen Verhältnis zwischen Nachrichtendiensten und Regierungen.

Derartige Defizite haben häufig ihre Entsprechung auf der Seite der Abnehmer von ND-Berichterstattung in Regierung und Ressorts, wenn nicht sogar ihre Ursache. Hierauf soll wohl die Aussage, ein „Versagen des BND“ sei auch ein „Versagen des Kanzleramts“ als vorgesetzter Stelle, hinweisen. Unstreitig ist das Unterstellungsverhältnis des BND unter das Bundeskanzleramt, doch ist es zu kurz gesprungen, wenngleich natürlich angemessen spektakulär, hier nur auf Bundeskanzlerin und Chef Bundeskanzleramt hinzuweisen. Darunter stand und steht ein ganzer Apparat, hier insbesondere vertreten durch zwei maßgebliche Bereiche, die Abteilung 2 (Außen- und Sicherheitspolitik) sowie die Abteilung 6 (Fach- und Dienstaufsicht über den BND und Koordinierung der Nachrichtendienste des Bundes). Zur Regierungszeit Merkel waren hier die maßgeblichen Akteure der außen- und sicherheitspolitische Berater der Bundeskanzlerin (Leiter der Abteilung 2) sowie ein der Abteilung 6 vorgesetzter Staatssekretär zur Koordination der Nachrichtendienste. Entsprechend wird die Anmerkung in der ZEIT „Wer Bruno Kahl kritisiert, muss über Kanzleramtschef Braun reden“ zu ergänzen sein: Wir haben es hier mit einem wesentlich umfangreicheren und komplexeren organisatorischen Umfeld zu tun, in dem sicherheitspolitische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung unter Einbeziehung der zuständigen Ressorts auf Arbeits- und Leitungsebene erfolgt,. Es ist dieses Umfeld, in dem nachrichtendienstliche Berichterstattung und Lagebeurteilung ihren Niederschlag findet – oder eben auch nicht. Es sind diese Strukturen und Abläufe, die über viele Jahre hinweg in ihrer Funktionalität, oder besser Dysfunktionalität, immer wieder Anlass zu Kritik und Reformvorschlägen gewesen sind, jedoch aufgrund politischen und institutionellen Beharrungsvermögens nie wirksam haben überwunden werden können.

So sind auch Inhalte des geheimen "Auftragsprofils der Bundesregierung (APB)" nicht das Ergebnis einer einsamen Entscheidung im Bundeskanzleramt, sondern werden im Zusammenwirken mit den Ressorts der Bundesregierung als Bedarfsträgern der BND-Berichterstattung, also auf jeden Fall von AA, BMVg und BMI, entwickelt. Die Aussage in der ZEIT könnte dann dahingehend zu verstehen sein, dass eine Herabstufung von Afghanistan aufgrund mangelnden sicherheitspolitischen Interesses wohl vor dem Hintergrund des im Juni abgeschlossenen Bundeswehrabzugs erfolgt sein könnte, nur um angesichts der krisenhaften Lagezuspitzung wenige Wochen später schleunigst wieder rückgängig gemacht zu werden. Das müsste dann allerdings auch in dieser Weise ausgeführt und dargelegt werden, um fachlich und sachlich Bestandskraft zu haben.

Ansatzpunkte hierfür finden sich allenfalls in den, allerdings erneut nur einer Zitatauswahl belegten, Ausführungen der ZEIT zur damaligen Haltung der Leitungsebene des Auswärtigen Amts wie auch anderer Ressorts: Vorbehaltlich der gleichen methodischen Fragezeichen wie im Fall des BND entsteht der Eindruck, als hätte hier eine kollektive fehlerhafte Lageperzeption und insbesondere auch eine politische Abwendung von einem für die anstehende heiße Phase des Bundestagswahlkampfes toxischen Problem vorgeherrscht. Zudem war das politische Berlin wie stets zu dieser Jahreszeit im Begriff, in die Sommerpause zu gehen, die zudem von der beginnenden Umorientierung zum Ende einer Legislaturperiode geprägt sein würde. Vor diesem Hintergrund würde dann offenbar niemand mehr mit dem „Loser-Thema Afghanistaneinsatz“ politisch noch etwas zu tun gehabt haben wollen. In diesem Zusammenhang stünde ja dann offensichtlich auch der öffentlich kritisierte betont „stille Empfang“ des letzten Afghanistan-Kontingents der Bundeswehr aus der NATO-Mission „Resolute Support“ am 30. Juni 2021. Dies alles wäre jedoch erneut erst einmal mit einer konsistenten und konsequenten Aktenauswertung, nicht aber mit einem selektiven Ansatz, zu belegen.

Dies gilt erst recht für das auszugsweise und kontextlos wiedergegebene Zitat aus einem wohl aus dem Bundeskanzleramt stammenden internen Vermerk zur BND-Innenrevision „Selbstkritik ja, nicht jedoch institutionelle Zweifel“. Die Annahme, dass hier möglichen BND-induzierten Ansätzen für eine grundsätzliche Diskussion der außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozesse der Bundesregierung vorgebeugt werden sollte, liegt natürlich nahe. Gerade deshalb ist es jedoch umso wichtiger, mit einem sauber etablierten und belegten AktenKontext den Verdacht einer gezielt manipulativen Darstellung des Vorgangs zu entkräften.

Die Zwänge, denen journalistische Berichterstattung in Stil, Umfang und Pointierung unterliegen, sind bekannt. Gleichwohl sollten sie nicht zu Lasten von sachlicher Bestandskraft und damit Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit gehen. Dies wird um so bedeutsamer sein, wenn es sich – wie hier – um einen schwerwiegenden Fall mit potentiell weitreichenden systemischen Konsequenzen für die deutsche Sicherheitsarchitektur handelt. Dem umfassenden und sachlich fundierten Bericht des Untersuchungsausschusses sollte daher gerade auch bei der öffentlichen Meinungsbildung nicht vorgegriffen werden. Auch dies zählt zum verantwortungsvollen Umgang mit den Akteuren und Institutionen von Außen- und Sicherheitspolitik und damit zur politischen Kultur im Allgemeinen wie zur „Intelligence Culture“ im Besonderen.

Für den Vorstand

Dr. Gerhard Conrad

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Zeitenwende: Herausforderungen für die deutschen Nachrichtendienste und das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr