Nachrichtendienste und Entscheidungsprozesse

Anmerkungen zum Verhältnis von Politik und Nachrichtendiensten vor dem Hintergrund des sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Gerhard Conrad

Seit 2021 haben sich mit dem Abzug aus Afghanistan (2021), dem russischen Angriff auf die Ukraine (2022), dem Zusammenbruch der westlichen Antiterrorkoalition in Westafrika (2023) und dem terroristischen Überfall von Hamas auf Israel samt dem sich hieraus ergebenden Krieg in Gaza (2023) schwerwiegende sicherheitspolitische Erschütterungen ereignet, die in ihren Konsequenzen erst in Umrissen abzuschätzen sind. Ihnen allen ist gemein, dass sie zumeist als strategische Überraschungen qualifiziert worden sind, was zumindest in dem Sinne unstreitig zutrifft, dass offenbar niemand auf derartige Ereignisse ausreichend vorbereitet war. Gemeinhin wird seitens politischer Entscheidungsträger in solchen Fällen den jeweiligen Nachrichtendiensten die Hauptverantwortung zugewiesen: Man sei falsch informiert, jedenfalls aber nicht in angemessener Weise und rechtzeitig gewarnt worden. Dass derartige pauschale Schuldzuweisungen in den meisten Fällen Ausdruck eines länder- und systemübergreifenden Instinkts zur „politischen Fahrerflucht“ bei Großschadensereignissen sind, tritt jedoch bei näherer Betrachtung und Analyse in den meisten Fällen zu Tage.

Fehlperzeptionen und Versäumnisse: Afghanistan, Ukraine, Sahel und Hamas

Entsprechende politikwissenschaftliche Forschungsergebnisse deuten ebenso klar in diese Richtung, wie erste fachliche Bewertungen der Ereignisse in Afghanistan und Ukraine auf der aktuell zur Verfügung stehenden Informationsgrundlage. Auch der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zum Afghanistandebakel kann sich der Erkenntnis schwer entziehen, dass die „Überraschung“ in erster Linie in einer politisch motivierten mangelnden Befassungs-, Entscheidungs- und Handlungswilligkeit auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Ressorts und den bekannten strukturellen Schwächen des außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozesses begründet lag. Unwidersprochen bleibt auch die Feststellung des BND-Präsidenten in der öffentlichen Anhörung vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium vom 17.10.2022, dass der „Angriffskrieg gegen die Ukraine eine „Zäsur“ (gewesen sei), die aber „nicht wirklich“ überrascht habe. Es sei eingetreten, wovor seine Behörde über Jahre hinweg gewarnt habe, dass Russlands Präsident Wladimir Putin weiterhin bereit sei, Gewalt anzuwenden, um seine Ziele zu erreichen, und dass sich an diesen Zielen auch nichts geändert habe. ‚Bedauerlicherweise‘ sei es im öffentlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte üblich gewesen, Bedrohungen zu ignorieren und Warnungen der Sicherheitsbehörden als Panikmache abzutun. Die Berichterstattung des BND über Putins Gewaltneigung sei immer ‚ziemlich vorbehaltlos‘ gewesen, indes:

“Die Neigung von Politik und Öffentlichkeit, lieber auf eine positive Wendung zu vertrauen, die ist einfach da.‘“

Zu den Entwicklungen in den Sahel-Staaten wird ebenfalls „westliche Realitätsverweigerung“ konstatiert: „Weil in der Sahelzone die Eliten gemeinsam mit ihren ausländischen Kooperationspartnern versagen, hat sich die Sicherheitslage bis ins Unerträgliche verschärft“. Europa sei in der Sahelzone „wie ein Zug, der entgleist ist“. Auch hier werden über Jahre hinweg entgegen offenkundiger politikwissenschaftlicher wie nachrichtendienstlicher Evidenz gepflegte gravierende politische Fehlperzeptionen auf Regierungsebene zu den Lageentwicklungen, ihrer Ursachen und Vektoren, für eine in Ansatz wie Ergebnis verfehlte Sahelpolitik verantwortlich gemacht.

Von besonderer Tragik und Dramatik erweisen sich die Entwicklungen, die offenbar den verheerenden Terrorangriff der Hamas vom 07. Oktober 2023 ermöglicht haben: Vorbehaltlich einer zwingend erforderlichen nachträglichen umfassenden Aufarbeitung der Ereignisse kann bereits heute im Ergebnis unwiderlegbar festgehalten werden, dass ein solches Szenario keinen operativen Eingang in das israelische Sicherungs- und Verteidigungsdispositiv gegenüber dem Gazastreifen gefunden hatte, dass Indizien für entsprechende langfristige und umfängliche militärische und infrastrukturelle Vorbereitungs- und Ertüchtigungsmaßnahmen der Hamas entweder nicht wahrgenommen oder aber nicht zutreffend bewertet worden waren, und auch konkrete operativ-taktische Hinweise im Vorfeld des Überfalls keine sach- und zeitgerechten Konsequenzen mehr haben konnten. Nach derzeitigem Sach- und Erkenntnisstand überwog offenbar die Fehlperzeption auf politischer, militärischer und nachrichtendienstlicher Ebene, dass Hamas weder ein politisches Interesse noch die militärischen Befähigungen habe, einen breit angelegten Angriff auf Israel durchzuführen. Eine maßgebliche Rolle scheint hierbei die politische Intention gespielt zu haben, durch die indirekte Duldung einer finanziellen Unterstützung von Hamas durch Dritte deren Mäßigung zu fördern, quasi eine regionalspezifische Ausformung des nicht nur in Bezug auf Russland so gerne von westlichen Staaten evozierten Konzepts des „Wandels durch Handel“.

Diese Fälle von besonderer Aktualität und operativen Relevanz stehen nicht allein: Das Spannungsverhältnis zwischen strategischer Lagefeststellung, Lagebeurteilung und sicherheitspolitischem Handeln ist auch im epochalen Fall von China ebenso unübersehbar wie etwa in der Sanktionspolitik gegenüber Russland, den unzureichenden Konsequenzen, die seit Jahren aus der weitgehend unstrittigen sicherheits- und militärpolitischen Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union oder auch des stetigen Aufbaus nuklearer und interkontinentaler Kapazitäten in Iran bzw. Nordkorea gezogen werden, um nur einige weitere Beispiele zu nennen.

In all diesen Konstellationen wird eine offenbar kaum überbrückbare oder gar auflösbare Divergenz zwischen zumindest objektiv möglicher oder auch tatsächlicher Erkenntnis und daraus resultierendem Handeln bzw. Nichthandeln, gerade auch zwischen nachrichtendienstlicher Lagefeststellung, Lagebeurteilung und operativen Konsequenzen erkennbar, die den kollektiven sicherheitspolitischen Fehlleistungen zugrunde liegt.

Lagefeststellung, Lagebeurteilung, politische Willensbildung und Entscheidungsfindung

Die problematischen Schnittstellen zwischen Nachrichtendiensten und Politik hat der amerikanische Politologe Robert Jervis bereits 2010 unter die Überschrift „Why Intelligence Fails“ analysiert16. Im Kern stellt Jervis fest, dass:

  • Politik eine konsistente und überzeugende Ausgangslage und Zielsetzung benötigt, um überzeugend zu sein, Mehrheiten zu gewinnen und zu halten. Nachrichtendienstliche Berichterstattung und Analyse fokussiert zu oft auf Imponderabilien, Erkenntnislücken und Risiken, die ein entschiedenes Vorgehen immer wieder in Frage zu stellen geeignet sind. Sie unterminieren damit faktisch das Bedürfnis von Entscheidungsträgern nach Klarheit und Handlungssicherheit.(S. 187-187)

  • Entscheidungsträger stehen unter dem Druck ihrer operativen Verantwortung für Erfolg und Misserfolg, Nachrichtendienste in erster Linie „nur“ unter dem Druck, zeitgerecht eine möglichst fundierte zutreffende Lagefeststellung und Lagebeurteilung anzubieten, ungeachtet ihrer Konsequenzen und Implikationen für die aktuell verfolgte Politik (S.190-191)

  • Nachrichtendienstliche Hinweise oder auch Erkenntnisse, die eine einmal eingeschlagene Politik in Frage stellen, werden zumindest so lange ignoriert oder verworfen, wie ihre Berücksichtigung als „zu teuer“ gewertet wird. Die Abkehr von einer einmal eingeschlagenen und öffentlich vertretenen Politik zugunsten eines „Plan B“, ist meist mit erheblichen politischen oder auch wirtschaftlichen Kosten verbunden. Sie wird damit in der Regel erst in extremis vollzogen und nötigenfalls opportunistisch, auch kontrafak tisch, begründet, z.B. mit vorherigen Fehlleistungen der Nachrichtendienste, die einen gravierenden Paradigmenwechsel nicht vorhergesehen hätten. (S. 190-195)

  • Nachrichtendienstliche Erkenntnisse haben nur ein sehr enges Zeitfenster für ihre Wirksamkeit und damit Relevanz: Entscheidungsträger müssen die Dringlichkeit und Relevanz eines Problems erkannt, zugleich jedoch noch nicht spontan eine eigene abschließende Meinung gebildet haben. „Early Warning“ steht hier vor einem grundsätzlichen Relevanz- und Effektivitätsproblem. (S. 196).

  • Die Akzeptanz und Wirksamkeit von nachrichtendienstlichen Lagefeststellungen und Lagebeurteilungen wird generell in erheblichem Maße durch bewusste wie unbewusste kognitive Prädispositionen auf Empfängerseite beeinflusst. Verschärft wird dieses Problem durch den nahezu unvermeidlichen, allenfalls nach Kräften zu minimierenden und zu relativierenden soziokulturellen und politischen Bias auf Seiten der Produzenten, also der Nachrichtendienste. (S. 197-200)

Damit stellt sich die selbstkritische Frage, auf welcher Grundlage außen- und sicherheitspolitische Grundüberzeugungen auf der Ebene von politischen Entscheidungsträgern und Meinungsbildnern entstehen, in welcher Weise sie, wenn überhaupt, einem Realitätscheck unterworfen werden, und auf welcher Informationsbasis dieser wiederum beruht. Kurz gesagt:

  • Woher beziehen Außen- und Sicherheitspolitiker in Regierung, Parlament und Parteien ihr Lagebild, und in welcher Weise korreliert dieses mit den Ergebnissen der Wissenschaft, aber eben auch mit nachrichtendienstlicher Aufklärung und Analyse, beziehungsweise bereits zuvor mit der fachlichen wie politischen Auftragserteilung an die Nachrichtendienste?

  • Wie und auf welcher kognitiven Grundlage werden die Fragen und Aufträge an die Nachrichtendienste gestellt?

  • Präjudizieren Fragestellungen aus dem politischen Raum durch inhärenten Bias bereits Aufklärungsziele, -ergebnisse und darauf aufbauende Lagebeurteilungen?

  • Haben Nachrichtendienste das Mandat und die reale organisatorische Position, eigeninitiativ Fragestellungen nachzugehen und Entwicklungen zu verfolgen, um im Sinne einer Frühwarnfunktion wirksam auf Gefahren und Risiken hinzuweisen, und dies insbesondere dann, wenn dies der jeweiligen politischen Prädisposition widerspricht?

  • Welchen Fragestellungen müssen Nachrichtendienste konkret nachgehen um im Sinne des DNI-Mantras „Speaking Truth to Power“ zu sachlich relevanten, konkreten und klaren Lageinformationen und Bewertungen zu gelangen, aus denen sich Handlungsnotwendigkeiten, eventuell bereits auch schon Handlungsoptionen für Entscheidungsträger ergeben?

  • Welches Maß an fachlicher Unabhängigkeit und Sachbezogenheit wird Diensten und ihren Angehörigen eingeräumt, um ihrem Auftrag als Überbringer auch unwillkommener Informationen und Analysen gerecht werden zu können?

Geforderte oder auch nur indirekt geförderte politische Willfährigkeit bei Lagefeststellung und Lagebeurteilung ist ein gravierendes Risiko für die adäquate Wahrnehmung von Realität und ihrer Handlungserfordernisse, nicht nur in autoritären Systemen. Und schließlich:

  • Gibt es geeignete organisatorische Strukturen und Rahmenbedingungen, um einem umfassenden, keineswegs nur auf nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, aber eben auch auf diesen vollumfänglichen basierenden Lageverständnis zur Geltung im Entscheidungsprozess zu verhelfen?

Grundlagen von sicherheits- und ordnungspolitischer Willensbildung

Bereits Jervis hat dem Grunde nach überzeugend darlegen können, dass nachrichtendienstliche, aber auch politik- und sozialwissenschaftlich umfassend generierte Lagefeststellung und Lagebeurteilung weniger Berührungspunkte mit der Meinungs- und Willensbildung im politischen Raum haben, als gemeinhin angenommen werden könnte. Politische Weltsicht und Problemperzeption werden häufig von Wert- und Wunschvorstellungen geprägt, die ihrerseits auf selektiver, nicht selten auch dem jeweiligen individuellen biographischen und politischen Werdegang geschuldeten Wahrnehmung von Realitäten beruhen und sich im jeweils gruppenspezifischen gemeinsamen kognitiven und normativen Referenzrahmen weiterentwickeln und konsolidieren. Mit breit angelegter, strikt faktenorientierter und – wo möglich – empirisch basierter Etablierung und Bewertung von Realität hat dies dann eher weniger zu tun, ist jedoch aufgrund des konstitutionell legitimierten und sachlich als Grundlage für Gestaltungskraft ja auch erforderlichen politischen Gewichts von Mandatsträgern tendenziell ausschlaggebend und vorprägend für die Sacharbeit von Diensten wie allgemein von Administration.

Es hängt folglich entscheidend von den organisatorischen und prozeduralen Rahmenbedingungen, darüber hinaus jedoch in besonderem Maße von persönlichen Dispositionen und gruppendynamischen kognitiven Prozessen ab, in welcher Weise derart auf politischer Ebene vorgeprägte Perzeptionen, Wert- und Zielvorstellungen in einen sachgerechten Bezug gesetzt werden können zu den Ergebnissen und Erkenntnissen, die Wissenschaft und Nachrichtendienste zur Verfügung stellen. Einseitige kognitive, programmatische oder ideologische Präferenzen können hier auch eine nicht sachgerechte Einschränkung in der Berücksichtigung und Förderung zivilgesellschaftlicher Institutionen und ihrer Arbeitsergebnisse im außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess nach sich ziehen. Entscheidend für Sachgerechtigkeit, Faktenori entierung und fachliche Qualifikation ist jedoch auch hier ein „all sources approach“ mit kritischer Würdigung von Hintergründen, Tendenzen und Zielsetzungen zu konsultierender Akteure in Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Voraussetzungen für valide Bewertungs- und Entscheidungsprozesse

In der Regel bedarf es mithin neben der nicht notwendig immer gegebenen grundsätzlichen Dialog- und Lernbereitschaft politischer Entscheidungsträger und ihrer Berater innerhalb und außerhalb der jeweiligen Regierungsstrukturen eines festen organisatorischen Rahmens, in dem dieser Austausch und gegenseitige Lernprozess geregelt, nachhaltig und ergebnisorientiert stattfinden kann. Dass dies in einem Nationalen Sicherheitsrat mit unterstützendem Gesamtlagund Analysezentrum geleistet werden kann, gilt inzwischen zumindest fachlich als weitgehend unstrittig.

In einem solchen Format könnte zumindest das Fehlerrisiko in Lagebeurteilung und darauf aufbauender Auftragserteilung an die Nachrichtendienste ebenso minimiert werden wie im hierauf Bezug nehmenden sicherheitspolitischen und administrativen Entscheidungsprozess. Faktisch nicht ausreichend validierbare Grundannahmen und Handlungsprämissen könnten jedenfalls in einem solchen Rahmen einer kontinuierlichen kritischen Überprüfung und Korrektur unterzogen werden. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass für eine sachgerechte institutionelle und fachliche Zusammensetzung und Geschäftsordnung gerade bei der Etablierung ressortübergreifender sachlich valider und nicht notwendig auch politisch genehmer Analysen und Lagebilder Sorge getragen wird.

In gleicher Weise würde so eine breit angelegte Fundierung und Orientierung von Sicherheitspolitik und der aus ihr resultierenden nachrichtendienstlichen Arbeit geleistet werden können, die von einigen grundlegenden, sachlogisch aufeinander aufbauenden und sich gegenseitig bedingenden Fragen auszugehen hat.

Am Anfang einer strategischen sicherheitspolitischen Lagebeurteilung muss die systematische, fach- und ressortübergreifende Bestandsaufnahme und Analyse der eigenen äußeren Abhängigkeiten und strukturellen internen Verletzlichkeiten stehen. Wesentlich ist hierbei, einen erweiterten, möglichst umfassenden Sicherheitsbegriff zugrunde zu legen:

  • Welche Faktoren und Leistungsparameter bestimmen die Funktionalität und Leistungsfähigkeit des eigenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems in der Gewährleistung von Prosperität, Sicherheit und Zukunftsfähigkeit?

  • Wo und wie sind diese Faktoren angreifbar, sei es im direkten Zugriff oder aber über deren internationale Abhängigkeiten?

  • Welche Kapazitäten und Befähigungen sind hierfür erforderlich?

  • Welche internen oder externen, staatlichen oder nichtstaatlichen Akteure sind dazu in welcher Weise und in welchem Umfang der Lage?

  • Welche Notwendigkeiten ergeben sich hieraus für die Härtung der eigenen Infrastruktur und die Bereitstellung geeigneter eigener Abwehrkapazitäten?

Sachlich unabweisbar liegt die Bearbeitung dieser die eigene strukturelle und prozedurale Resilienz betreffenden Fragestellungen mehrheitlich im Bereich der zuständigen Ressorts der Bundes- und Landesregierungen und der ihr nachgeordneten Behörden. Sie werden zu ergänzen sein durch die mehrheitlich durch die Auslandsnachrichtendienste zu leistende Identifizierung und Qualifizierung konkreter Handlungsoptionen und Intentionen möglicher internationaler staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, insbesondere unter den Aspekten von Relevanz, Schädigungspotential, Wirksamkeit und direkten wie indirekten Konsequenzen für den Bestand der eigenen Sicherheitsinteressen. Priorität wird hier allerdings stets den Befähigungen einzurämen sein, nicht den möglichen Absichten: Diese können sich wesentlich schneller ändern als Potentiale, die es bekanntlich meist über Jahre hinweg aufzubauen, zu konsolidieren und weiterzuentwickeln gilt. Es sind bekanntlich die konkreten Befähigungen, die positiven wie negativen Intentionen erst Relevanz in der Welt der Realien verleihen.

Beide Kernbereiche, die Bewertung der eigenen Resilienz wie der diese gefährdenden Potentiale und Akteure, sind ganz offensichtlich zwei Seiten derselben Medaille und müssen folglich einer detaillierten Gesamtbetrachtung und nachfolgender Entscheidungsfindung zugeführt werden. Erneut ist hier ein Nationaler Sicherheitsrat mit einem vorgeschalteten Gesamtlage- und Analysezentrum das Forum, in dem dieser Prozess mit realistischer Aussicht auf fassbare und operationalisierbare Ergebnisse implementiert werden kann.

Details und Fakten als Basis für Abstraktionen und Schlussfolgerungen

Offensichtlich sollte es sein, dass die Bearbeitung und Beantwortung dieser Fragen nur in einer strikt faktenbezogenen und damit notwendig detaillierten Form zu einer ausreichenden Handlungsgrundlage führen kann. Eine abstrakte und allgemeine Umschreibung der Faktoren wie in der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie für Deutschland ist ein wichtiger erster Schritt zur übergreifenden Orientierung. Entscheidend ist jedoch, was daraus nun im Sinne von Konkretisierung und Operationalisierung gemacht wird. Eigene Risiken und Vulnerabilitäten müssen nach Art, Zeit und Raum konkret gefasst werden, ebenso wie die konkreten Befähigungen möglicher Akteure zur Schädigung der eigenen Sicherheitsinteressen. Hier können – und sollen – gerade auch die Nachrichtendienste mit ihren spezifischen Beschaffungs- und Analysekapazitäten einen signifikanten Beitrag leisten, der dann allerdings auch entsprechend eingefordert und berücksichtigt werden muss. Bezeichnend für den bisherigen Stand der deutschen Intelligence Culture ist jedoch, dass auch in der aktuellen Nationalen Sicherheitsstrategie die Nachrichtendienste als wesentliche Elemente im Entscheidungsprozess keine Rolle spielen.

In der Sache erforderlich sind hier letztlich systematische, regelmäßig zu aktualisierende listenartige Zusammenstellungen von objekt- und prozessbezogenen Vulnerabilitäten und Gefährdungsmomenten, quasi die stellvertretende Erstellung der „Target-Liste“ eines potentiellen oder aktuellen gegnerischen Akteurs durch die eigenen Behörden und Dienste. Dass derartige Unterlagen aufgrund ihrer Sicherheitsempfindlichkeit in weiten Bereichen unter Geheimschutz zu stehen haben werden, versteht sich von selbst.

Dies gilt dann auch für die sich hieraus sachnotwendig ergebenden, ebenfalls zwingend einen hohen Detaillierungsgrad erfordernden Aufklärungsforderungen für die Nachrichtendienste von Bund und Ländern. Staatliche wie nichtstaatliche, national wie international oder transnational aufgestellte Akteure und deren konkrete Befähigungen zur Beeinträchtigung der ermittelten eigenen Sicherheitsinteressen (nuisance capacity) müssen so eindeutig und detailliert wie möglich identifiziert und bewertet werden. Auch hier helfen Abstraktionen und Verallgemeinerungen nicht weiter: Erforderlich sind Erkenntnisse und Bewertungen, die sich auf konkrete Mittel und Methoden beziehen, die dem jeweils untersuchten konkreten Akteur aktuell zu Gebote stehen oder von diesem entwickelt werden. Hier ist eine vertiefte Befassung mit dem jeweiligen Akteur und seiner erkennbaren technischen, methodischen und professionellen Befähigung zur konkreten Aktion, allein oder im Verbund mit Gleichgesinnten, erforderlich, unabhängig davon, ob derartige konkrete Intentionen bereits bestehen oder sich abzeichnen. Entscheidend sind die militärischen wie nichtmilitärischen Befähigungen zur Schädigung oder Gefährdung der eigenen Interessen, die dem in Frage stehenden Akteur im Fall einer entsprechenden Absicht zur Verfügung stehen, und vor denen es sich nötigenfalls durch Härtung der eigenen Strukturen zu schützen, oder aber gegen die es politisch oder notfalls auch militärisch vorzugehen gilt. Eine systematische, katalogartige Zusammenstellung als „living document“ bietet sich auch hier für jeden Akteur an.

Neben den Befähigungen (nuisance capacity) des jeweiligen Akteurs sind sachlogisch ebenfalls auch dessen konkrete politische, wirtschaftliche, infrastrukturelle oder militärische Vulnerabilitäten und ihre Auswirkungen auf dessen strukturelle und prozedurale politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, infrastrukturelle und militärische Resilienz, Durchhaltefähigkeit und Willensbildung von entscheidender Bedeutung. Erneut gilt es hier, diese mit der erforderlichen handlungsbefähigenden Faktenorientierung und Detailtiefe zu identifizieren und zu bewerten. Nur so lassen sich relevante Erkenntnisse und damit die Voraussetzungen für die Entwicklung von Optionen für die eigenen Entscheidungsträger generieren

Integrierte Lage als Vorgabe für nachrichtendienstliche Aufklärung und Ausgangspunkt für politische Entscheidungsfindung

Vorausschauendes sach- und problemorientiertes Handeln erfordert eine möglichst belastbare, problemadäquate und zeitgerecht zur Verfügung stehende Informationsgrundlage. Angesichts der Komplexität und Detailfülle der meisten anzugehenden sicherheitsrelevanten Realien ist hier ein besonderes Augenmerk auf die Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Qualität der zuständigen Strukturen und Prozesse zu richten.

Am Anfang muss hier jedoch die Überzeugung im politischen Raum bestehen, dass ein möglichst realitätsnahes, von Wunsch- und Zielvorstellungen möglichst freies, auf breiter Grundlage etabliertes integriertes Lagebild Ausgangspunkt für die weiteren politischen Entscheidungsprozesse sein soll. Voraussetzung hierfür wird auch die Bereitschaft sein müssen, eigene Lagebilder immer wieder einem Realitätscheck zu unterziehen und hierfür bereitzuhaltende fachlich spezifisch qualifizierte, ressortübergreifende, partei- und tagespolitisch ungebundene Strukturen in Anspruch zu nehmen. Notwendige Voraussetzung hierfür ist allerdings auch der nach dem Februar 2022 im Rahmen der Zeitenwende immer wieder thematisierte gesellschaftliche und damit auch politische Mentalitätswandel in Bezug auf Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind Kerndisziplinen zur Wahrung staatlicher Handlungsfähigkeit wie auch sozioökonomischer Resilienz und Zukunftssicherheit. Ihre Marginalisierung in der irrigen Annahme eines „Endes der Geschichte“ hat zu einer mangelnden Befassung mit diesem Themenbereich in Wissenschaft und insbesondere Politik und damit zu einer „Unbeholfenheit der deutschen Gesellschaft, mit Krieg als sozialer Realität umzugehen“, geführt. Politische Relevanz, Akzeptanz und Karrierechancen sind über Jahrzehnte eher in anderen Feldern gesucht und geboten worden. Hier gibt es, auch im Vergleich zu Freunden und Verbündeten, Nachholbedarf im Interesse einer breiten, fachlich fundierten, sachorientierten Befassung mit den schwierigen und beschwerenden Themen der Gegenwart und Zukunft.

Das von Jervis und anderen dargelegte Spannungsverhältnis zwischen politischen Entscheidungsprozessen und Lagearbeit wird als generelles gesellschaftliches, organisations- und sozialpsychologisches Phänomen dem Grunde nach wohl nicht aufgehoben werden können. Die Risiken von Fehlentscheidungen und die Chancen für ein notfalls erforderliches sachgerechtes Umsteuern sollten sich jedoch durch leistungsfähige Strukturen und Prozesse zur kontinuierlichen Bereitstellung optimaler Informations- und Bewertungsgrundlagen reduzieren lassen. Dies wiederum zählt bekanntlich auch im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts zum Kernauftrag der Nachrichtendienste, die hier ihren wesentlichen Beitrag zu leisten haben und dafür auch entsprechend befähigt und mandatiert werden müssen:

„Die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen hilft ihr, sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten, und kann folgenreiche Fehlentscheidungen verhindern“.

Für den Vorstand

Dr. Gerhard Conrad

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Die Reichsbürgerszene - Akteure, Ideologie, Gewaltpotenzial

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Vorsicht bei komplexer Aktenlage!