Die Reichsbürgerszene - Akteure, Ideologie, Gewaltpotenzial
Kurzzusammenfassung des Vortrags des Leiters der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt am 08. Februar 2024
Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen
Klaus Schmidt, Oberst a.D. , Vorsitzender des Vorstandes GKND
Am 08. Februar 2024 konnte der GKND den Leiter der Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt beim Sicherheitspolitischen Stammtisch begrüßen.
MDgt Jochen Hollmann trug zu den Phänomenbereichen „Reichsbürger und Selbstverwalter“ vor und stand für eine anschließende Aussprache zur Verfügung.
Der GKND dankt Herrn Hollmann für die Bereitschaft, seine Vortragsunterlagen für eine kurzgefasste Zusammenfassung mit dem Ziel der Veröffentlichung auf der Homepage des GKND zur Verfügung zu stellen und die nachfolgenden Kernaussagen freizugeben.
Ideologie der „Reichbürger“ und „Selbstverwalter“
Der Phänomenbereich der „Reichbürger“ und „Selbstverwalter“ wird seit 2016 flächendeckend durch die Verfassungsschutzbehörden beobachtet. In ideologischer Hinsicht unterscheiden sich die Teilmilieus der „Selbstverwalter“ und „Reichbürger“ voneinander. „Selbstverwalter“ erklären i.d.R. ihren Austritt aus der Bundesrepublik Deutschland und deklarieren die Gründung eines unabhängigen Staates mit autonomer Selbstverwaltung, dessen „Staatsterritorium“ meist durch ihr Privatgrundstück definiert wird. „Reichsbürger“ sehen sich als Staatsangehörige des fortbestehenden Deutschen Reiches. Aber auch innerhalb dieser zwei Teilmilieus lassen sich ideologische Differenzen beobachten: So beziehen sich z.B. manche „Reichsbürger“ auf das von 1871 bis 1918 bestehende Kaiserreich, wenn sie den Fortbestand des Deutschen Reiches behaupten, während sich andere „Reichsbürger“ hierbei auf die Weimarer Republik beziehen.
Die Überzeugung, Deutschland sei nicht souverän, sondern stehe als besetzter Staat unter einer Militäradministration der Westalliierten (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force), ist unter „Reichsbürgern“ weit verbreitet.
Die Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß, die neben den „Reichsbürger“-typischen Vorstellungen auch andere Verschwörungsnarrative teilt, ist zudem der Überzeugung, Deutschland werde von einem bösartigen „Deep State“ regiert, der demnächst von einer internationalen Allianz, einem Geheimbund aus Militär, Geheimdiensten und Regierungen anderer Staaten befreit werde. Auf diesen Tag X gelte es mit eigenen Mitteln hinzuarbeiten.
Seit der Corona-Pandemie sind Überschneidungen zwischen den verschiedenen extremistischen Milieus deutlicher geworden. Dabei kommt Verschwörungsnarrativen, u.a. mit antisemitischer Ausrichtung, eine Scharnierfunktion zu, die somit auch Möglichkeiten der Vernetzung und Kooperation zwischen „Reichbürgern“ und Rechtsextremisten bieten.
Ideologische und personelle Schnittmengen zwischen Reichsbürgermilieu und Rechtsextremismus sind festzustellen, jedoch ist nach Bewertung der Verfassungsschutzbehörden lediglich eine kleine Minderheit von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen.
Einige der Akteure der Reichbürgerszene weisen zudem aber ideologische Schnittmengen zum Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ auf.
Akteure der „Reichsbürger- und Selbstverwalterszene“
Als herausragendes Beispiel für die Aktivitäten der Szene ist das von Peter Fitzek deklarierte „Königreich Deutschland“ (kurz KRD) zu nennen. Hier wird eine angebliche jüdische Weltverschwörung behauptet, die u.a. suggeriert, dass die Juden für die Kriege der Welt verantwortlich sind. Es ist daher nich überraschend, dass diese Gruppierung auch mit Rechtsextremisten kooperiert. Der gemeinsame Has auf das demokratische System bildet dabei die Brücke zwischen den Phänomenbereichen.
Das KRD ist bundesweit die größte Reichsbürgergruppierung und agiert mit einer durchaus bemerkenswerten Öffentlichkeitsarbeit. Seinen Anhängern wird ein Leben außerhalb der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland versprochen. Hierzu werden Parallelstrukturen als Alternative zur bundesdeutschen Rechts- und Wirtschaftsordnung aufgebaut, in welche die Angehörigen über eine „GemeinwohlKasse“ einzahlen können. Diese durchaus beträchtlichen „Anlagen“, ohne rechtliche Ansprüche der Einzahlenden, setzen das KRD seit 2020 u.a. in die Lage großflächige Grundstücke mit repräsentativen Bauwerken zu kaufen und damit die Expansion des Fantasiestaates voranzutreiben. Eine wesentliche Einnahmequelle stellen großzügige Spenden und Erbschaften dar.
Zwar hat das Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht im Zuge umfangreicher Exekutivmaßnahmen erreicht, dass die bestehenden Filialen der „GemeinwohlKasse“ geschlossen wurden, jedoch wurden über Tarnvereine Immobilien durch das KRD erworben. Von besonderer Bedeutung sind dabei landwirtschaftlich nutzbare Objekte, um das KRD wirtschaftlich autark zu machen.
Während das KRD dem Milieu der „Selbstverwalter“ zuzurechnen ist, dem es nicht darum geht, eine Reichverfassung von 1871 oder 1919 zu reaktivieren, ist die seit 2018 bestehende Gruppierung „Ewiger Bund“ ein typischer Akteur der Reichsbürgerszene. Sie strebt die Wiederherstellung des Kaiserreiches an. Über ihre Unterorganisation „Vaterländischer Hilfsdienst“ gehört diese Gruppierung zu den aktivsten der Reichbürgerszene.
War die Reichbürgerszene lange Jahre ein für die Öffentlichkeit wenig sichtbares Phänomen, so ist seit den Protesten gegen die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen während der Corona-Pandemie eine verstärkte öffentliche Mobilisierung zu beobachten. Diese Entwicklung wird durch die Proteste gegen die deutsche Unterstützung der Ukraine verstärkt.
Überregional agierenden Akteuren gelingt es zunehmend, Demonstrationen mit hunderten Teilnehmern aus ganz Deutschland zu versammeln. 2023 wurden so bei zwei „Großen Treffen der Bundesstaaten“ 350 bzw. 500 „Reichsbürger“ in Magdeburg und Dresden mobilisiert.
Dennoch ist festzuhalten, dass die Reichsbürgerszene eher lose organsiert ist. Feste Strukturen sind selten. Der Kreis der Personen, die der Szene zugeordnet werden können, hat sich seit 2016 auf ca. 23.000 verdoppelt. Die meisten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind Männer und älter als 40 Jahre.
Sozialwissenschaftliche Studien belegen, dass bei den „Reichsbürgern“ alle Bildungs- und Einkommensgruppen vertreten sind. Auffallend ist aber auch, dass viele Szeneangehörige private, berufliche und wirtschaftliche Krisenerfahrungen im mittleren Alter erlebt haben.
Gewaltpotenzial der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“
Die Missachtung der gesetzlichen Bestimmungen durch die Szenemitglieder ist zunächst Angelegenheit der Polizei und der Justiz. Die Tatsache, dass sich eine zunehmende Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern von der Ideologie angezogen fühlt und zu deren Realisierung beiträgt, gibt Anlass zur Sorge.
Die wird verstärkt durch die gestiegene Bereitschaft zur Gewalt. Aktuell stufen die Verfassungsschutzbehörden ca. 10% der Szeneangehörigen als gewaltorientiert ein. Hinzu kommt, dass innerhalb de „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ eine große Affinität zu Waffen festzustellen ist. Trotz umfangreicher Entzugsmaßnahmen sind noch etwa 400 Angehörige der Szene in Besitz mindestens einer waffenrechtlichen Erlaubnis.
Besorgniserregend ist auch die Tatsache, dass unter den Personen, die beschuldigt werden, der mutmaßlich terroristischen „Reichsbürger“-Gruppierung um Heinrich XIII. Prinz Reuß angehört zu haben, auch aktive und ehemalige Angehörige der Sicherheitsbehörden (Bundeswehr, Polizei) sind. Damit war in dieser Gruppe ein entsprechendes waffentechnisches Know-how vorhanden.
Für den Vorstand
Klaus Schmidt