Vom Wissen zum Handeln - Integrierte Lagekompetenz für integrierte Entscheidungsprozesse

Stellungnahme zum Nationalen Sicherheitsrat


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

  • Afghanistan, die Flutkatastrophe und die Covid-19 Pandemie haben die bereits seit Jahren immer wieder monierten gravierenden strukturellen Defizite in Entscheidungsprozessen zur inneren wie äußeren, zivilen wie militärischen Sicherheit ebenso verdeutlicht wie die unabweisbare Notwendigkeit und Dringlichkeit ihrer Behebung im Interesse der Überlebens- und Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft.

  • Unter dem Eindruck der Ereignisse zeigt sich mittlerweile ein breiteres politisches Spektrum aufgeschlossener gegenüber der Idee eines Nationalen Sicherheitsrates mit ressortübergreifender Beratungs- und Koordinierungskompetenz.

  • Notwendige politische Grundlage für dessen Relevanz und Funktionsfähigkeit wird ein auf Kabinettsebene konsentiertes gesamtstaatliches Sicherheitsverständnis ebenso sein wie hierauf aufbauende nationale Strategien in allen Bereichen von äußerer und innerer Sicherheit.

  • Entscheidende praktische Voraussetzung für eine sachgerechte Funktionalität in den politischen Entscheidungsprozessen muss darüber hinaus die robuste Befähigung des Sicherheitsrats zu kompetenter, dynamischer und resilienter Lagefeststellung und Lagebeurteilung sein.

  • Diese Lagekompetenz muss themen- und ressortübergreifend innerhalb des Sicherheitsrates („Unterbau“) in Umsetzung eines „all sources“-Ansatzes mit hohen Anforderungen an spezifische Fach- und Sachkunde sowie analytische Syntheseleistung organisiert werden.

  • Die jeweiligen Arbeitsergebnisse müssen in Zeitgerechtigkeit, Form, Inhalt und Qualität eine maßgebliche Grundlage und Orientierung für die Beratungen und Entscheidungen der Bundesregierung bilden können.

  • Hierfür sind politische Unabhängigkeit in der Urteilsfindung und rechtlich klar bestimmte Kompetenzen notwendige Voraussetzungen.

 

Gesamtstaatliches Handeln und Resilienz

Die Jahre 2020 und 2021 stehen wie schon lange nicht mehr im Zeichen von Diskussionen zu strukturellen Defiziten in Kernbereichen des nationalen Lage- und Krisenmanagements.

Die im Detail noch aufzuarbeitenden und zu bewertenden dramatischen Ereignisse in und um Afghanistan stellen erneut drängende Fragen zumindest hinsichtlich der Leistungs- und Zukunftsfähigkeit der bestehenden nationalen zivilen und militärischen taktischen Lagebeurteilungs- und Entscheidungsstrukturen auf Bundesebene. Erste Bewertungen unterstreichen einmal mehr eindrucksvoll die im Munich Security Report vom Oktober 2020 zusammengefassten, seit Jahren bekannten und erörterten Defizite in den ressortübergreifenden außen- und sicherheitspolitischen Lage-, Koordinations- und Entscheidungsstrukturen.

Die jüngste Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen hat eine intensive öffentliche Erörterung der Themen Krisenvorausschau und Resilienz nach sich gezogen. Bereits im Frühjahr 2020 war das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ins Zentrum von Kritik geraten und wurde im Herbst unter neuer Leitung Gegenstand umfassender und notwendig langwieriger Reformbemühungen hin zu einem von Bund und Ländern getragenen „Gemeinsamen Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz“. Entsprechende Zielsetzungen sind auch im Wahlprogramm der CDU/CSU vom 21. Juni 2021 ausführlich formuliert worden, zumindest grundsätzlich auch im Programm von Bündnis90/Die Grünen.

Im Bereich der Pandemiebekämpfung haben die Lagefeststellungs-, Lagebeurteilungs- und operativen Koordinationsleistungen von Bund und Ländern schon frühzeitig Anlass zur kritischen Reflexion gegeben. Entsprechender Reformbedarf hat ebenfalls Eingang zumindest in einige Wahlprogramme gefunden.

 

Ende einer „ratlosen“ Zeit?

Im Deutschen Bundestag ist das Thema „Nationaler Sicherheitsrat/Bundessicherheitsrat“, seitens der FDP und in Form eines Nationalen Friedensrats auch seitens Bündnis90/Die Grünen, seit 2016 immer wieder eingebracht worden, ohne dass sich hieraus jedoch ein tragfähiger Dialog, geschweige denn ein fassbares Ergebnis entwickelt hätte.

Die Initiative der Bundesverteidigungsministerin vom 07. November 2019, die zunächst auf die übliche, partei- und ressortpolitisch motivierte Resonanz gestoßen war, hat nunmehr nicht nur Eingang in die Positions- und Eckpunktepapiere des Verteidigungsministeriums zur Zukunft der Bundeswehr vom 10. Februar 2021 gefunden, sondern auch in eine außen- und sicherheitspolitische Grundsatzrede von Kanzlerkandidat Armin Laschet, am 19. Mai 2021 vor der Konrad Adenauer Stiftung. Die entscheidenden Passagen seien hier aufgrund ihrer Bedeutung wörtlich in Transkription der bisher nur audio-visuell im Internet zugänglichen Wiedergabe dokumentiert:

„Wir dürfen nicht nur auf Krisen reagieren, sondern müssen vorausschauend agieren, und dazu brauchen wir neue Arbeitsmethoden, eine veränderte Sicherheitsarchitektur, die einen vorausschauenden strategischen Ansatz möglich macht. Durch Digitalisierung und Globalisierung verschwimmen die Grenzen zwischen militärischen und nichtmilitärischen Herausforderungen und die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Militärische Völkerrechtsbrüche werden heute häufig mit Wirtschaftssanktionen beantwortet, der Cyberraum ist gesellschaftliche Lebensader und sicherheitspolitische Schwachstelle. Neue zivile Technologien finden auch Anwendung in der militärischen Nutzung. Und in der Pandemie haben wir erlebt, dass auch nichtmilitärische Lagen unsere Sicherheit fundamental gefährden können.

All diesen Tatsachen muss das institutionelle Ineinandergreifen unserer staatlichen Sicherheitsarchitektur Rechnung tragen. Ich bin davon überzeugt, dass wir die Vernetzung der Sicherheit auch in unserer Administration abbilden müssen, und das geht am besten, indem wir den bestehenden Bundessicherheitsrat weiterentwickeln zu einem Nationalen Sicherheitsrat. Dieser muss im Bundeskanzleramt seinen Platz haben. Wir brauchen in den entscheidenden Momenten für unser Land die Expertise der gesamten Regierung einschließlich der Nachrichtendienste an einem Tisch. Und wenn dies Fragen der Gesundheit wie bei Corona oder der inneren Sicherheit wie bei Terrorlagen erfordern, müssen auch die Länder mit am Tisch sitzen. Deshalb genügt der bisherige Bundessicherheitsrat nicht. Wir brauchen einen Nationalen Sicherheitsrat, der ebenen- und ressortübergreifend die strategische Lage des Landes analysiert. Das ist es, was der Begriff der vernetzten Sicherheitspolitik beschreibt, und wir brauchen dieses Handeln nach außen aus einem Guss. Gerade weil die Antworten immer komplexer werden und unsere Instrumente multinationaler werden, müssen Stringenz und strategische Vorausschau gestärkt werden.

Ein Nationaler Sicherheitsrat muss die strategischen Antworten der Bundesregierung formulieren in den Bereichen Außen-, Sicherheit, Entwicklungszusammenarbeit, Klimaaußenpolitik, Außenhandel, globaler Gesundheitspolitik sowie europäischer Außenpolitik“.

Vor diesem Hintergrund ist es keine Überraschung, dass die Forderung nach einem Sicherheitsrat ebenfalls Eingang in das Wahlprogramm von CDU/CSU und aktuell auch in das Sofortprogramm von Kanzlerkandidat Laschet gefunden hat:

„Es reicht nicht, auf Krisen nur zu reagieren. Daher werden wir eine Sicherheitsarchitektur schaffen, die bessere Koordinierung und einen vorausschauenden strategischen Ansatz möglich macht“.

Wir müssen die Vernetzung der Sicherheit auch in unserer Regierung abbilden. Daher wollen wir im Bundeskanzleramt einen Nationalen Sicherheitsrat schaffen, der außen- und sicherheitspolitische Koordinierung, strategische Vorausschau und nachrichtendienstliche Erkenntnisse des Bundes und der Länder zusammenführt.

Auch die Dimension der europäischen und transatlantischen Zusammenarbeit wird entsprechend hervorgehoben:

„Wir wollen europäische Kooperation und Integration statt nationalistischer Abschottung. Nur so werden wir Deutschland und Europa widerstandsfähiger machen: bei Pandemien, ökonomischen Krisen, terroristischen Bedrohungslagen und Cyberangriffen.“

Mit vergleichbarer Zielrichtung formuliert auf der Grundlage der konsequenten Positionierung der vergangenen Jahre das FDP-Wahlprogramm vom 16.05.2021:

“Wir wollen deshalb, dass Deutschland stärker als bisher den vernetzten Ansatz in seinem internationalen Handeln umsetzt. Hierfür wollen wir die sicherheitspolitischen Entscheidungsstrukturen anpassen und die finanziellen Voraussetzungen schaffen. Äußere und innere Sicherheitsbedrohungen sind zunehmend miteinander verbunden. Wir fordern deshalb die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats, der es ermöglicht, bei internationalen Herausforderungen  vorausschauender und schneller planen, entscheiden und handeln zu können“.

Auch Bündnis90/Die Grünen nehmen in ihrem aktuellen Wahlprogramm ihre konzeptionellen Überlegungen von 2016 wieder auf :

„Wir wollen alle Politikbereiche in Deutschland auf die Transformation ausrichten und für ein strategisches und kohärentes Handeln in allen Ressorts und Politikbereichen einen Nationalen Rat für Frieden, Nachhaltigkeit und Menschenrechte einrichten.“

„Wir ergänzen den traditionellen Sicherheitsbegriff um die menschliche Sicherheit und rücken damit die Bedürfnisse von Menschen in den Fokus. Die Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ wollen wir um einen Aufbauplan mit zivilen Planzielen ergänzen und den Auswärtigen Dienst für dessen heutige Aufgaben fit machen… Wir wollen mehr ressortgemeinsame Analysen, Krisenfrüherkennung und Projektplanung, eine engere Abstimmung mit internationalen Partner*innen sowie einen angemessen ausgestatteten Fonds „Krisenprävention,  Konfliktbewältigung  und  Friedensförderung“.

Auch in Bezug auf die Bundeswehr lassen sich über die Forderung nach Einbettung von Auftrag und Aufgaben in ein gesamtstaatliches Handeln Elemente ressortübergreifender Strukturen ableiten:

Der Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr müssen sich an den realen und strategisch bedeutsamen Herausforderungen für Sicherheit und Friedenssicherung orientieren und in ein gesamtstaatliches Handeln einfügen.

Ansätze zur ressortübergreifenden Perspektive lassen sich auch dem Wahlprogramm der SPD entnehmen, wenngleich erneut nur in sehr grundsätzlicher Ausprägung:

„Das Silodenken der politischen Ebenen und Ressorts wollen wir überwinden und innovativ Regierungsprojekte in Plattformen organisieren. Denken außerhalb alter Muster ist gefragt. Wir brauchen eine Modernisierungsoffensive für den öffentlichen Dienst und eine bessere Zusammenarbeit der Verwaltung“.

Aus der Sicht des GKND ist die aktuell zu beobachtende Dynamisierung des außen- und sicherheitspolitischen Diskurses wie auch der Diskussion um Strukturen zur Erhöhung gesamtstaatlicher Resilienz im Vorfeld der Bundestageswahlen uneingeschränkt zu begrüßen. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass die Impulse diesmal über die Wahlen und Koalitionsverhandlungen hinaus Bestand haben und sich in konkretes Regierungshandeln in der kommenden Legislaturperiode umsetzen lassen mögen.

 

Gesamtlage als Grundlage für gesamtstaatliche Entscheidungsfindung

Das Hauptaugenmerk der Diskussion um einen Sicherheitsrat richtet sich – wie dies traditionell in Deutschland der Fall ist – auf die Koordination politischen Handelns, allenfalls inzidenter auf dessen zwingend notwendige Voraussetzung, eine ebenso ressortübergreifende, dynamischen und komplexen Entwicklungen standhaltende, nach Möglichkeit diesen sogar vorausschauend begegnende Gesamtlagefeststellung und Lagebeurteilung zu den jeweils in Frage stehenden Handlungsfeldern und Herausforderungen. Lagefeststellung und -beurteilung erfolgt bisher in Deutschland vor dem Hintergrund eines ausgeprägten föderalen Systems wie des Ressortprinzips innerhalb der Bundesregierung überwiegend in eigenständiger Kompetenzwahrnehmung von Bundes- und Landesressorts wie Behörden, und damit bereits dem Grunde nach disparat. Die jeweiligen Ergebnisse werden überwiegend erst auf der politischen Entscheidungsebene als „Hausmeinung“ in einen vornehmlich politisch-operativen Abstimmungsprozess eingeführt. Dieser Sachverhalt manifestiert sich unmissverständlich in der Vielzahl unterschiedlicher, jeweils innerhalb von Ressort- und Behördengrenzen eingerichteter und allenfalls innerhalb dieser integrierter und vernetzter Lagezentren. Kommunikation zwischen diesen ist nicht a priori ausgeschlossen; eine Konzertierung ihrer Arbeit oder gar eine Aggregierung und zentrale Bewertung ihrer Ergebnisse finden jedoch allein schon aufgrund der Tatsache nicht statt, dass hierfür keine ressort- oder behördenübergreifenden Strukturen und Sachleitungskompetenzen vorgesehen sind. Ein später Versuch zur Etablierung eines ressortübergreifend konzipierten, in erster Linie der Unterstützung des Bundeskanzleramtes, genauer gesagt der Bundeskanzlerin, dienenden außen- und sicherheitspolitischen Lage- und Analysezentrums der Bundesregierung (sic!) endete ungeachtet aller Ansätze zur Gesamtlagebetrachtung letztlich als eine Struktur im Auswärtigen Amt. Das immer wieder gerne als Beispiel für Ressort- und Bund-Ländergrenzen transzendierende Strukturen angeführte Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ) erweist sich bei näherer Betrachtung als horizontal organisierter Rahmen für einen Informationsaustausch nach Maßgabe der jeweiligen fachlichen, rechtlichen und nicht zuletzt auch hauspolitischen Interessen, nicht jedoch als eine Struktur zur verbindlichen gemeinsamen Lagefeststellung und -beurteilung terroristischer Gefährdungslagen als Grundlage für koordiniertes operatives Vorgehen.

Die Grenzen eines solchen fragmentierten Ansatzes und Vorgehens sind mittlerweile hinlänglich bekannt und sollten mit einer entsprechenden ressort- und behördenübergreifenden Struktur überwunden werden

Gesamtlagefeststellung und Lagebeurteilung sind sachlogisch eine ressortübergreifende Aufgabe, die einen gemeinsamen fachlichen – und nicht politischen – Ansatz der unterschiedlichen Ressourcen und Kompetenzen erfordert: Gesamtlagefeststellung und Lagebeurteilung dürfen nicht Verhandlungssache zwischen partei- und hauspolitisch geprägten Ressorts sein. Der Streit um die besten Lösungen darf nicht bereits auf der vorgelagerten Ebene der kognitiven Erfassung und Bewertung komplexer Realität beginnen. Haus- und Parteiinteressen haben nötigenfalls ihren Platz im Ringen um politische Handlungsansätze und Alternativen, dies aber auf der Grundlage zuvor rein sach- und problemorientiert definierter und weiter verfolgter Sachverhalte.

 

Ein Blick zu Freunden und Verbündeten

Wie so oft, gibt hier ein Blick über die Grenzen erste Anhaltspunkte für die Entwicklung geeigneter Strukturen. Staaten wie die USA und Großbritannien, die sich traditionell als eigenständige sicherheitspolitische Akteure im internationalen Maßstab verstehen, verfügen mit der Institution eines Nationalen Sicherheitsrats (White House National Security Council, UK National Security Council Cabinet Office) seit langem über derartige Gremien, einschließlich der diesen zugeordneten Analysekapazitäten wie der „Joint Intelligence Organization (JIO)“ des Cabinet Office in London und dem „Office of the Director of National Intelligence (ODNI)“ in Washington. Ihr Zweck und ihre Funktionalität sind offensichtlich: Sie dienen als spezifische Instanz der Exekutive in Politikfeldern, in denen ebenso komplexe wie dringliche und schwerwiegende Herausforderungen der inneren und/oder äußeren Sicherheit einer gesamtstaatlich koordinierten sach- und zeitgerechten Behandlung und Entscheidung zugeführt werden sollen. Mit seiner jüngsten Integrated Review 2021 ist Großbritannien hier noch einen Schritt weiter gegangen und schickt sich an, zum Vorbild für weitergehende amerikanische Reformbestrebungen in der nationalen Sicherheitsarchitektur zu werde. Auch Frankreich hat seit langem eine nationale Sicherheitsarchitektur mit einem dem Premierminister direkt unterstellten Secrétariat général de la défense et de la sécurité nationale (SGDSN) und dem diesem vorgesetzten präsidialen Conseil de défense et de sécurité nationale (CSDN) auf Ministerebene mit spezifischen Formaten unter Beiziehung der Chefs der Nachrichtendienste und des Nachrichtendienstkoordinators.

Ein Sicherheitsrat als Instrument gesamtstaatlichen Handelns (whole of government approach) umfasst damit notwendig ein breites Spektrum von Ressorts und Sicherheitsbehörden; als koordinatives Regierungsgremium untersteht er sachlogisch der politischen Leitung der Exekutive und unterliegt wie diese nach Maßgabe verfassungsrechtlicher Regelungen der Kontrolle von Parlament und Justiz.

Die Beispiele USA, Großbritannien und Frankreich verdeutlichen aber auch, dass ein Sicherheitsrat seiner Natur und Aufgabenstellung nach kein ministerielles ad hoc-Gremium sein kann. Grundvoraussetzung für zeit- und sachgerechte Handlungs- und Reaktionsfähigkeit ist vielmehr eine vorausschauende, gegebenenfalls auch reaktionsstarke systematische und fundierte Befassung mit Herausforderungen für die innere und äußere Sicherheit. Ein Sicherheitsrat als Entscheidungsgremium muss damit zuverlässig auf einen Unterbau zurückgreifen können, der die beratungs- und entscheidungsbegründenden Unterlagen zu erstellen und in geeigneter Form zeitgerecht vorzulegen hat. Angesichts der im Zeitalter des „Global Village“ und Cyber-Raums exponentiell gewachsenen Dynamik und Wirkungsmacht auch geographisch peripherer Lageentwicklungen sind an die Präsenz, Stabilität und Leistungsfähigkeit derartiger Strukturen besondere Anforderungen zu stellen.

 

Ein Blick nach Europa

Auch in der Europäischen Union sind Elemente einer solchen vernetzten Lagefeststellung und -beurteilung bereits seit 2002 schrittweise von den Mitgliedstaaten geschaffen worden und haben sich seither zu einer funktionalen Struktur, der zivil-militärischen „Single Intelligence Analysis Capacity (SIAC)“, entwickelt. Das zivile „Intelligence Analysis and Situation Centre (INTCEN)“ und das militärische „Intelligence Directorate“ des Europäischen Militärstabes
(EUMS.INT) erstellen für die EU-Institutionen Lageberichte und -analysen zu entscheidungsrelevanten Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wie der gemeinschaftlichen Sicherheitsgewährleistung angesichts terroristischer und hybrider Bedrohungen. EU INTCEN und EUMS INT sind eng mit den Konsultations- und Entscheidungsstrukturen der EU verbunden; zugleich können sie auf ein breites Spektrum freiwillig unterstützender ziviler und militärischer Nachrichten- und Sicherheitsdienste zurückgreifen, die Fachpersonal ebenso wie Expertise zur Verfügung stellen. Bei aller Notwendigkeit einer konsequenten Weiterentwicklung und Optimierung im Detail könnten auch die mit der „Single Intelligence Analysis Capacity“ gewonnenen Erfahrungen bereits als Anhaltspunkte für eine ergebnis- und handlungsorientierte Diskussion künftiger Strukturentwicklungen in Deutschland wie in der EU herangezogen werden. Wie so oft, muss das Rad auch hier nicht noch einmal völlig neu erfunden werden.

 

Grundsätzliche Konsequenzen für einen Nationalen Sicherheitsrat

Eine Grundvoraussetzung für fundierte gesamtstaatliche Entscheidungsfindung und verantwortungsvolles Handeln im Wissen um Ursachen und Konsequenzen ist damit eine leistungsstarke vorgelagerte Gesamtlagefeststellung und –beurteilung, die auch imstande und mandatiert sein muss, die Implikationen für das jeweilige nationale oder – wie im Fall der EU –  gemeinschaftliche Interesse zu berücksichtigen. Sicherheit ist in hohem Maße multikausal und interdependent. Sie umfasst  internationale wie nationale, externe wie interne, wirtschaftliche, zivilgesellschaftliche, ökologische wie militärische und technisch-wissenschaftliche Dimensionen, denen Daseinsvorsorge und Sicherheitsgewährleistung Rechnung zu tragen haben.

Die einem Sicherheitsrat zuzuarbeitende Lage- und Analysefunktion wird dem gemäß thematisch breit aufzustellen sein und über eine hohe fachliche und politische Deutungskompetenz zu verfügen haben. Fachkompetenz basiert auf abrufbarer Expertise in Ressorts, Nachrichtendiensten und Wissenschaft; politische Deutungskompetenz entsteht in enger Anbindung an die politische Entscheidungsebene auf nationaler oder gemeinschaftlicher Ebene.

Ein Gesamtlage- und Analysezentrum wird mithin an der Schnittstelle zwischen beiden Bereichen anzusiedeln und auf Fach- wie Leitungsebene adäquat zu besetzen sein.

Ein regulärer direkter Zugang der Leitung dieses Zentrums zur politischen Entscheidungsebene und eine Partizipation an den entsprechenden Entscheidungsprozessen sind daher essentiell. Es ist kein Zufall, dass der DNI in den USA und der Chief JIO in Großbritannien Kabinettrang haben.

Ein Gesamtlage- und Analysezentrum verfügt notwendig über eine breite und leistungsstarke Basis in den zuständigen Ressorts und Diensten, aus denen Personal abgeordnet und Expertise bereit gestellt werden.

Das Zentrum muss in der Lage sein, den Entscheidungsträgern fundierte Analysen zeitgerecht und damit notfalls in 24/7-Arbeitsabläufen vorzulegen. Angesichts der im Cyber-Zeitalter exponentiell gewachsenen Dynamik und Wirkungsmacht von Risiken und Gefahrenlagen müssen derartige Strukturen in besonderem Maße stabil, urteilssicher und leistungsstark sein. Das erfordert fachlich wie methodisch hochqualifiziertes Personal in sachgerechter Zahl und in stabilen, zugleich aber auch flexiblen Organisationszusammenhängen.  

Ein Lage- und Analysezentrum muss damit über verbindlich geregelte, verlässliche breite und leistungsstarke Unterstützung in den zuständigen Ressorts und Behörden verfügen, aus denen dauerhaft Personal abgeordnet und Expertise zur Verfügung gestellt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass es hier um die zeitgerechte Bereitstellung von interdisziplinär produzierter integrierter Lagefeststellung und Lageanalyse geht, nicht um die unkommentierte Zusammenstellung und Weiterleitung von Informationen. Diese wird bereits heute in verschiedenen Lagezentren mit 24/7-Kapazität geleistet, hat jedoch nichts mit Informationsverdichtung und Analyse zur Unterstützung dynamischer Entscheidungsprozesse zu tun. Fachlich fundierte Lagefeststellung und -beurteilung muss mit der Dynamik von Bedrohungen Schritt halten können, wenn sie entscheidungsrelevant sein soll. Eine 24/7-fähige eigenständige ressortübergreifende Analysekapazität ist daher erforderlich, zieht jedoch einen deutlich erhöhten Personalansatz nach sich.

Mit der organisatorischen Einbindung in die Entscheidungsstrukturen und -prozesse muss wiederum eine Ablauforganisation und technische Infrastruktur einhergehen, die zeitnahe Auftragssteuerung ebenso sicherstellt wie eine verzugslose, krisenfeste, sichere und nötigenfalls eigeninitiative Kommunikation der entscheidungsrelevanten Informationen und Analyseergebnisse in der erforderlichen Verdichtung, Klarheit und Prägnanz in Aussage und Bewertung an politische Entscheidungsträger. Größtmögliche räumliche, personelle und organisatorische Nähe der Unterstützungselemente eines Sicherheitsrates zur Entscheidungsebene bei gleichzeitiger fachlicher Autonomie in Lagefeststellung und Beurteilung ist mithin eine wesentliche Rahmenbedingung für eine erfolgreiche, sach- und zeitgerechte Beratungsleistung.

Ein funktionsfähiger Nationaler Sicherheitsrat als wirksamer Teil eines gesamtstaatlichen politischen Entscheidungsprozesses impliziert mithin recht weitreichende organisatorische und budgetäre Konsequenzen gerade auch im Bereich einer integrierten, ressortübergreifend organisierten Lagefeststellung und Lagebeurteilung und damit einen entsprechend frühzeitig definierten und konsequent umgesetzten Planungsvorgang, den es auf der Grundlage einer Koalitionsvereinbarung mit starkem und nachhaltigem politischen Mandat anzugehen gelten wird. Ein solcher Ansatz würde eine neue Qualität außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung ermöglichen, die nicht nur der GKND in den vergangenen Jahren immer wieder hat vermissen müssen.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender

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„Totalversagen“ des Bundesnachrichtendienstes in Afghanistan?!