„Totalversagen“ des Bundesnachrichtendienstes in Afghanistan?!

Eine Stellungnahme zur aktuellen Diskussion


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Angesichts der aktuellen Diskussion um die Rolle des Bundesnachrichtendienstes bei der Lagefeststellung und Lagebeurteilung der Bundesregierung ist es hohe Zeit, auf die Notwendigkeit einer strikten Versachlichung und Professionalisierung der Betrachtung auf einer konsolidierten und umfassenden Informationsgrundlage hinzuweisen.

Die Kernfrage, nicht nur für die Bundesregierung samt den involvierten Ressorts und Behörden, sondern auch für die in Afghanistan engagierte Staatengemeinschaft ist bekanntlich, wieso der rasche völlige Zusammenbruch der regulären afghanischen Streitkräfte und die damit einhergehende kampflose Aufgabe nahezu aller Provinzstädte bis hin zur Hauptstadt Kabul nicht so rechtzeitig hatte erkannt werden können, dass Evakuierungsmaßnahmen frühzeitiger möglich gewesen wären. Die grundlegenden Schwächen und gravierenden Unzulänglichkeiten der in Afghanistan geschaffenen staatlichen Strukturen sind seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, allseits bekannt und kein arkanes Expertenwissen. Ein Plädoyer auf Nichtwissen wäre eine zusätzliche Bankrotterklärung, darüber hinaus aber auch wenig glaubhaft. Entscheidend ist hier die Frage, wo die taktische Lagefeststellung und Lagebeurteilung durch die Dienste, aber auch durch alle mit der afghanischen Realität unmittelbar konfrontierten Bereiche von Diplomatie, Militär und NGOs aller Art den tagesaktuellen Bezug zu den Ereignissen und internen Perzeptionen der afghanischen Regierung verloren haben mag. Bekanntlich wurde seitens afghanischer politischer Entscheidungsträger in der Öffentlichkeit, vermutlich auch in einem Großteil der Gespräche mit „Freunden“ und „Partnern“ bis zuletzt – und dies aus nachträglicher Perspektive offenkundig wahrheitswidrig – der Eindruck entschiedener Verteidigungsbereitschaft vermittelt, gerade auch in den letzten Tagen, als Kabul zunehmend von den Taliban eingekreist wurde. Die Frage stellt sich hier, welche Faktoren dazu geführt haben, diesen Beteuerungen jedenfalls soweit Glauben zu schenken, dass sie zumindest zur irrtümlichen Annahme einer längeren „Gnadenfrist“ für Evakuierungsmaßnahmen geführt hatten. In diesem Zusammenhang wird aber auch die Frage zu stellen sein, auf welcher Grundlage die amerikanische Nacht und Nebelaktion des Rückzugs aus der Green Zone in Kabul erfolgte, und warum dies offenbar auch ohne „Vorwarnung“ an die Verbündeten geschah.

Die Ursachenforschung für die Defizite in der taktischen Lagearbeit der letzten Tage und Wochen wird sich daher in der Sache nicht nur auf die eigenen möglichen Schwächen in der Realitätswahrnehmung in Afghanistan selbst zu beziehen haben, sondern auch darauf, in welcher Weise die Verbündeten, in erster Linie die Vereinigten Staaten als Hauptakteur, zu ihrer offenbar auf Regierungs- wie Dienstebene womöglich im Innen-, jedenfalls aber im Außenverhältnis kommunizierten Lagebeurteilung kamen. Hierbei wird insbesondere zu hinterfragen sein, wie diese bei einer jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils zu unterstellenden privilegierten direkten und umfassenden Involvierung in die Schaffung der vitalen Rahmenbedingungen für die afghanischen Entscheidungsträger um Präsident Ghani zustande gekommen sein und bis zuletzt jedenfalls im Außenverhältnis aufrecht erhalten werden konnte.

In diesem Zusammenhang sei nochmals die grundlegende methodische Differenzierung zwischen strategischer und taktischer Lagebearbeitung in Erinnerung gerufen: Eine strategische Bedrohungs- oder Fähigkeitsanalyse setzt sich zusammen aus Erkenntnissen über das jeweils zur Verfügung stehende Potential eines Akteurs, seine erklärten beziehungsweise tatsächlichen politischen Absichten und das zu erwartende Vorgehen. Potentiale lassen sich zumindest in ihrer materiellen Qualität und Quantität auch mit technischen Mitteln aufklären, während bereits die qualitativen Kriterien von Einsatzbereitschaft und Führungsfähigkeit deutliche komplexere und detailliertere Ansätze aus größerer Nähe erfordern. In gleicher Weise sind erklärte Absichten eher zu ermitteln als tatsächliche, deren Detektion anspruchsvolle HUMINT- und/oder SIGINT-Operationen von großer Eindringtiefe und insbesondere auch Persistenz erfordert. Gleiches gilt in noch stärkerem Maße für die Ermittlung oder Analyse eines geplanten Vorgehens. Hier bieten nur die Beschaffung von Plänen oder die Überwachung einschlägiger Kommunikation verlässliche Grundlagen. Den zeitlichen Verlauf einer zu erwartenden Aktion im Rahmen einer taktischen Lagebearbeitung vorhersagen zu wollen, setzt schließlich Echtzeiterkenntnisse über Handlungen des Akteurs, aber eben auch seiner Widersacher oder möglichen Verbündeten unter Einschluss der daraus resultierenden weiteren jeweiligen Entscheidungsprozesse und Absichten voraus. Dies ist auch im historischen Rückblick Nachrichtendienten nur in Ausnahmefällen möglich gewesen. In jedem Fall aber setzen eine belastbare Beurteilung und die darauf aufbauende Entschlussfassung die Einbeziehung aller Erkenntnisse voraus die den einschlägigen Ministerien und Behörden eines Landes vorliegen.

Für eine integrierte Lagefeststellung und Beurteilung des komplexen Engagements in Afghanistan stand und steht allen hier in Frage stehenden Regierungen grundsätzlich ein überaus breites Spektrum an Sensoren und Instrumentarien zur Verfügung, das von Medien aller Art über die Berichterstattung von NGOs und Botschaften (nicht nur in Afghanistan) bis hin zu den dislozierten Streitkräften und Nachrichtendiensten reicht. Es ist eine der zentralen staatlichen Herausforderungen, das hiermit einhergehende vielfältige, häufig widersprüchliche und disparate Informationsvolumen sachgerecht, strukturiert und zeitgerecht aufzunehmen, aufzuarbeiten und zu fundierten, faktenbasierten, fachkompetenten und unabhängigen Lagebildern für die Entscheidungsträger zu verdichten. Hierzu bedarf es einer gemeinsamen, ressort- und behördenübergreifend organisierten Anstrengung ebenso wie eines hierauf aufbauenden, gesamtstaatliches Handeln ermöglichenden Entscheidungsprozesses, in dem auch eine angemessene Rezeption des einmal erstellten Lagebildes durch die Entscheidungsträger gewährleistet sein muss. Jeder Staat hat hier seine eigenen aufbau- und ablauforganisatorischen Strukturen geschaffen, deren Sachgerechtigkeit und Leistungsfähigkeit es immer wieder zu prüfen und zu bewerten gilt. Für die Bundesrepublik Deutschland wird hier – leider – unverändert auf die kritische Bestandsaufnahme der Munich Security Conference vom Oktober 2020 zu verweisen sein, die – bekanntlich nicht zum ersten Mal – auf das Fehlen funktionaler und leistungsfähiger gesamtstaatlicher Strukturen zur integrierten Lagefeststellung, Lagebeurteilung und zeitgerechten gemeinsamen Entscheidungsfindung und -umsetzung ebenso hingewiesen hat wie auf die hiermit verbundenen Ursachen.

Es wird hier einer gesonderten Aufarbeitung und Analyse der ressortübergreifenden wie der ressortinternen Prozesse bedürfen, um erneut die dem Grunde nach bekannten, in ihrer aktuellen Ausprägung jedoch ein weiteres Mal zu identifizierenden und zu qualifizierenden Schnitt- und Schwachstellen zu erfassen. Dies wird auch im Hinblick auf die Frage zu geschehen sein, ob und gegebenenfalls in welchem Maße das erst 2020 im Auswärtigen Amt mit ressortübergreifendem Anspruch eingerichtete außen- und sicherheitspolitische Lage- und Analysezentrum der Bundesregierung (Referat 041) eingebunden worden ist, und auf welcher Grundlage und mit welchen Mitteln Lagearbeit in diesem Rahmen möglich war. All dies sollte nunmehr jedoch mit der Zielsetzung vorgenommen werden, aus dem unbestreitbaren außen- und sicherheitspolitischen Debakel in Afghanistan endlich sachgerechte Konsequenzen für bessere Strukturen und Abläufe zu ziehen.

Innerhalb eines gesamtstaatlichen außen- und sicherheitspolitischen Lagefeststellungs- und Beurteilungsprozesses kommt dem Bundesnachrichtendienst eine wesentliche, wenngleich eben nicht exklusive Funktion zu. Im Rahmen seiner aktuellen Berichterstattung zur Lage in und um Kabul ist der Dienst ausweislich im Kern unbestrittener Medienberichterstattung offenbar zu dem Schluss gekommen, dass die Taliban kurzfristig kein Interesse an einer gewaltsamen Einnahme Kabuls bei andauernden US-Präsenz hätten. Von der Option eines „Spaziergangs“ in eine „offene Stadt“ war dagegen nicht die Rede, und es wird hier zu ermitteln sein, wie und auf welcher Grundlage sowie mit welchen Absprachen zwischen Präsident Ghani, seinen engsten Vertrauten und schließlich auch den US-Kräften vor Ort, dieser Zustand überhaupt zustande gekommen ist. Dieses Moment einer zweifellos gelungenen allseitigen taktischen Überraschung ist erklärungsbedürftig, und zwar von allen Seiten.

Ausgangspunkt für eine qualifizierte Diskussion zu möglicherweise vermeidbaren Fehlern in der taktischen Lagefeststellung und Lagebeurteilung des Bundesnachrichtendienstes ist und bleibt damit zunächst einmal eine ebenso umfassende wie sorgfältige Aufarbeitung der strategischen Berichterstattung zu Afghanistan in den vergangenen Jahren, insbesondere aber zu den Entwicklungen im Gefolge der Entscheidung von Präsident Trump, mit den Taliban in Verhandlungen über einen Abzug der Truppen aus Afghanistan zu treten. Nicht ohne Grund leben die entsprechend qualifizierten Mitglieder des GKND in der Vorstellung, dass der Dienst über die Jahre überwiegend zuverlässig und sachkompetent die Lageentwicklung in und um Afghanistan verfolgt und bewertet hat. Erste Verlautbarungen aus dem Kreis des PKGr deuten darauf hin, dass dies auch in der jüngsten Zeit nicht anders gewesen sei. Zugleich wird jedoch auch zu erkennen gegeben, dass diese Berichterstattung, meist aufgrund negativer Bewertungen und Prognosen zur Lageentwicklung nicht immer auf adäquate Resonanz bei den Abnehmern in den Ressorts gestoßen sei. Es würde sich hier um ein typisches, politikwissenschaftlich immer wieder behandeltes Phänomen und Spannungsverhältnis zwischen Nachrichtendiensten und politischen Entscheidungsträgern handeln, dessen Ursachen, Hintergründe und Auswirkungen gerade auch im aktuellen schwerwiegenden Fall einer gesonderten Betrachtung zugeführt werden sollten, erneut mit dem Ziel, Mittel und Wege zu suchen, dem nachrichtendienstlichem Handeln zugrundeliegenden Imperativ „Speaking Truth to Power“ zu besserer Geltung zu verhelfen.

Wenn Afghanistan ein Wendepunkt für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sein soll, wird dies gerade auch im Hinblick auf den Umgang mit den staatlichen Kapazitäten für Lagefeststellung und Lagebeurteilung als Grundlagen für politische Entscheidungsfindung gelten müssen.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender

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Anmerkungen zur Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland