Anmerkungen zur Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland

Hintergrundinformation zum Vortrag von BND-Präsident a.D. Gerhard Schindler am 08. Juli 2021 beim Berliner Treffen von GKND e.V. und Clausewitz-Gesellschaft


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Im Rahmen seiner Bemühungen um eine sachgerechte Diskussion von Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit und ihren Implikationen für die Nachrichtendienste konnte der GKND den ehemaligen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Gerhard Schindler, für einen Vortrag vor den Mitgliedern der Clausewitz-Gesellschaft und des GKND im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Berliner Treffen“ gewinnen.

Der Vortrag steht in der Kontinuität vergleichbarer, bislang allerdings in erster Linie auf Fragen der inneren Sicherheit bezogenen Veranstaltungen, um die sich der GKND immer wieder, so bereits am 20. Juni 2012 zusammen mit der DGAP, bemüht hat. Ein Rückblick auf die damali-gen Ausführungen der prominenten Vortragenden1 zeigt eine nicht immer ermutigende Bestandskraft der Problemstellungen in zentralen Fragen unserer Sicherheitsarchitektur.

Umso mehr dankt der GKND Herrn Schindler für seine freundliche Unterstützung und insbesondere auch für die Bereitschaft, seinen Vortrag zu inneren, aber eben auch äußeren Dimensionen des Problemkreises als Denkanstoß zu einer im Herbst und Winter mit Sicherheit anstehenden Diskussion zur Verfügung zu stellen. Der GKND wird seinerseits in Kürze zu zentralen Fragen, wie etwa dem erneut zur Debatte stehenden Nationalen Sicherheitsrat, unter dem zu häufig übersehenen Aspekt von Gesamtlagefeststellung und -beurteilung als notwendiger Voraussetzung für fundierte politische Entscheidungen Stellung nehmen.

Der Vortrag von Herrn Schindler wird nachfolgend in von ihm autorisierter leichter redaktioneller Kürzung und Überarbeitung wiedergegeben.

Ein „Ende der Geschichte“? Jedenfalls nicht im Sinne von Fukuyama!

Im Jahr 1992 erschien der allseits bekannte Bestseller "Das Ende der Geschichte" des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama. Mit „Ende der Geschichte“ meinte er den beginnenden Weltfrieden nach Beendigung des kalten Krieges zwischen Ost und West, also eine Welt ohne Kriege und Krisen. Wie wir alle wissen, hat sich seine Analyse leider nicht verwirklicht. Im Gegenteil!

Ich möchte daher, quasi als Basis für die späteren Ausführungen, mit der These beginnen, dass die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer geworden ist.

Ich benutze hier bewusst das Wort „These“, weil man sich natürlich trefflich darüber streiten kann, ob nicht etwa eine Kuba-Krise gefährlicher für die Menschheit war als alle heutigen Krisen zusammen, da wir ja damals am Rande eines Atomkrieges standen. Ich begründe meine These u.a. damit, dass dem damaligen Gleichgewicht des Schreckens eine Art Stabilität innewohnte - siehe eben die Kuba-Krise, gerade nicht zum Krieg geführt hat. Diese bi-polare Stabilität ist immer mehr in Auflösung begriffen.

Wenn Sie einmal gemeinsam mit mir fünf, zehn, zwanzig Jahre zurückblicken, dann werden wir feststellen, dass in den letzten Jahren eine Krise nach der anderen hinzu kam, ohne dass je eine von ihnen nachhaltig (!) gelöst worden wäre.

Besonders deutlich wird dies im sogenannten nah-/mittelöstlichen Krisenbogen, also von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis hin nach Pakistan und Afghanistan. Eine Instabilität nach der andern, eine Krise nach der anderen.

Krisen sind auch komplexer geworden. Wenn man etwa den Krieg in Syrien betrachtet und dort insbesondere die beteiligten Akteure, dann beeindruckt insbesondere deren Vielzahl und Vielfalt. Ein ähnliches Bild finden wir in Libyen oder auch im Jemen. Allein diese Anzahl der vielen Akteure mit ihren gegenläufigen Interessen macht es schwierig, Befriedungslösungen zu finden.

Die Konflikte im Krisenbogen zeigen auch, dass immer öfter die Grenzen zwischen Bürgerkrieg und Krieg zwischen Staaten verschwimmen.

Neben staatlichen Akteuren sind nichtstaatliche Akteure hinzugekommen, etwa terroristische Gruppierungen oder Milizen. Viele in diesen Gruppierungen haben überhaupt kein Interesse an einer Befriedung, weil sie vom und mit dem Kriegszustand ganz gut leben können.

Geopolitisch kommt hinzu, dass die USA zumindest unter ihrem alten Präsidenten dabei waren, ihr weltweites Engagement herunterzufahren, während China und Russland im Gegenteil dazu vermehrt und verstärkt nach Einflusszonen suchten.

Hinzu kommen Mittelmächte, die sehr robust agieren, wie etwa die Türkei oder der Iran.

Gleichzeitig sehen wir, dass internationale Befriedungsmechanismen immer weniger funktionieren. Die Vereinten Nationen, der Sicherheitsrat, internationale Gerichtshöfe, aber auch die NATO oder die EU haben allein schon aufgrund vielfältiger außen- und sicherheitspolitischer Antagonismen der führenden Großmächte mehr und mehr an politischer Wirkungsmacht bei der Schlichtung von Konflikten verloren. Die Vorstellung einer „regelbasierten Weltordnung“ steht mehr denn je auf dem Prüfstand.

Zusätzlich begünstigt wird diese Entwicklung durch den Umstand, dass die Gefährdungslage sich zwar fortentwickelt hat, aber die Regeln, nämlich das humanitäre und das Kriegsvölkerrecht die alten geblieben sind. Und diese "alten" Regeln passen oft nicht mehr, zum Beispiel bei der Terrorismusbekämpfung oder auch bei der Cyberabwehr. Dort hat man nicht nur Definitionsprobleme, sondern auch die Trennung zwischen Inland und Ausland wird schwierig bis unmöglich.

Gerade dieses Zusammenwachsen von Inlands- und Auslandssachverhalten beim Terrorismus, bei der Cyberabwehr, bei der illegalen Migration, bei der Organisierten Kriminalität bringt uns die Probleme der Welt nach Deutschland. Oder umgekehrt: Wir rücken also näher an die Krisen der Welt heran.

Ein letzter Punkt in diesem Zusammenhang: Unserem Demokratiemodell sind als Befriedungsmodell Grenzen gesetzt. In vielen Regionen der Welt kann man damit nichts anfangen. Ein Clan-Chef etwa in Afghanistan hat kein Interesse an demokratischer Teilhabe oder der Gleichberechtigung der Geschlechter. Auch in Syrien kämpft die große Mehrheit der bewaffneten Oppositionskräfte nicht für freie Wahlen und liberale Rechtsstaatlichkeit. Im Westen müssen wir uns eingestehen, dass die Versuche, zum Beispiel in Afghanistan oder in Libyen westliche Demokratiemodelle einzuführen, an den – im Übrigen allseits bekannten – gesellschaftlichen und politischen Realitäten gescheitert sind.

Worin liegen für uns die gefährlichsten Entwicklungen?

Ich bin oft gefragt worden, was ich denn angesichts dieser Lage für die gefährlichsten Entwicklungen halte. Die Antwort ist schwierig. Nach welchen Kriterien soll man das messen? Aber ich möchte es trotzdem versuchen:

Autoritarismus und Nationalpopulismus

Zunächst ist da die Herausforderung der westlichen Politik durch den Vormarsch autoritärer Nationalpopulisten zu nennen, und hier insbesondere Xi Jin Ping in China, Narendra Modi in Indien, Recep Tayyip Erdogan in der Türkei und Wladimir Putin in Russland.

Gemeinsame Elemente dieses unstreitig erst einmal erfolgreichen und darum umso problematischeren Diskurses sind Nationalismus und Populismus, einhergehend mit der Postulierung eigener Stärke und Überlegenheit – auch in kultureller Hinsicht. Das jeweilige System wird bewusst als Gegenmodell zum – als dekadent abqualifizierten – Westen mit eigenen höherwertigen ideellen Werten propagiert.

Die Sicherung und Demonstration der eigenen Macht, nach Möglichkeit auch Überlegenheit, nach außen und nach innen hat damit notwendig höchste Priorität, was diese Staaten konfliktbereiter und internationale Lösungsansätze komplizierter macht. Und auch der mit nationalpopulistischer Ideologie zumeist verbundene Personen- und „Führer“-kult trägt dazu bei, Politik zunehmend irrationaler werden zu lassen. „Gesichtswahrung“ nach innen und außen steht an oberster Stelle.

Das hochgradig Gefährliche an dieser Entwicklung ist nicht etwa, dass diese Systeme als „Erfolgsmodell“ im Begriff sind, zum internationalen oder gar globalen Exportschlager werden, auch wenn die „Verlockung des Autoritären“ bekanntlich auch nicht vor eher westlich geprägten Gesellschaften Halt macht.

Das sicherheitspolitisch Brandgefährliche an dieser Entwicklung ist vielmehr, dass die Schwelle zum Einsatz militärischer Mittel sinkt, dass Gewalt als Mittel der Wahl zur Durchsetzung eigener außen- und sicherheitspolitischer Partikularinteressen begriffen und ausgeübt wird. Nicht zuletzt die Ukrainekrise – mit der Besetzung der Krim und der militärischen Destabilisierung der Ost-Ukraine - spricht für die Relevanz dieser These. Kiew ist im Übrigen nur wenig weiter von Berlin entfernt als Paris. Und klar ist: das ist keine regionale, sondern eine Weltkrise direkt vor unserer Haustür.

Für uns weiter entfernt, aber mindestens genauso aggressiv und im Zeichen globaler Abhängigkeiten schwerwiegend in seinen potentiellen Konsequenzen für die Stabilität der Region auch als zentraler Innovations- und Wirtschaftsraum für Europa ist das Vorgehen Chinas im Süd- und Ostchinesischen Meer.

Die westlichen Demokratien haben bislang noch keine tragfähige Strategie gefunden, um dieser gefährlichen Entwicklung zu begegnen. Im Gegenteil, sie sind selbst von der Verdrossenheit der eigenen Bevölkerung mit dem politischen System und den etablierten Eliten betroffen.

Internationaler Terrorismus

Nicht nur ich befürchte, dass der internationale Terrorismus kurz- bis mittelfristig nicht zu besiegen ist.

Auch bei einer endgültigen Zerschlagung des sogenannten „Islamischen Staates“ im Irak und in Syrien und einer weiteren Dezentralisierung Al-Qaidas – die „Marken“ IS und Al-Qaida mit ihrer Suggestionskraft durch Verherrlichung von Gewalt und Heilsversprechungen werden be-stehen bleiben. "Franchisenehmer" aus aller Welt werden sich ihrer immer wieder gerne bedienen. Dezentralisierung, Regionalisierung und eine weitere Steigerung asymmetrischer Gewaltausübung im Rahmen eines „autonomen Dschihad“ werden sich fortsetzen.

Allein in Deutschland gibt es etwa 28.000 erkannte Islamisten, davon rund 12.000 Salafisten (Hardcore!), und rund 1.000 Personen, die dem islamistisch-terroristischen Personenpotenzial zuzuordnen sind. Noch vor einigen Jahren war eine solche Zahl – 1.000 – noch jenseits unserer Vorstellungskraft.

Eine letzte Bemerkung zum Thema Terrorismus: Die Bekämpfung des Terrorismus darf nicht alleine auf die Sicherheitsbehörden abgewälzt werden. Sie können allenfalls die Symptome bekämpfen, nicht aber die Ursachen. Nötig ist daher ein gesamtgesellschaftlicher, ein ganzheitlicher Ansatz, und dies auf nationaler wie internationaler Ebene!

Bedrohungen aus dem Cyberraum

Ohne Übertreibung kann man sagen, im Internet tobt ein stiller Krieg. Tagtäglich zum Beispiel erfolgen Tausende von IT-Angriffen auf das Regierungsnetz der Bundesregierung. Über 200.000 neue Schadprogramme werden weltweit pro Tag entdeckt. Geschätzte rund 100 Milliarden Euro Schaden entstehen allein der deutschen Wirtschaft jährlich durch IT-Spionage.

Staatliche Akteure, meist Nachrichtendienste, und nichtstaatliche Akteure, meist Kriminelle, jedoch durchaus auch im Einzelfall staatlich kooptiert, tummeln sich auf diesem Feld. Bei den staatlichen Akteuren fallen besonders China und Russland auf, aber auch der Iran und Nordkorea haben beachtliche Kapazitäten insbesondere für die Cyberspionage aufgebaut.

Wer Cyberspionage kann, der kann allerdings auch Cybersabotage. Damit ist unsere gesamte kritische Infrastruktur gefährdet. Horrorvorstellungen aller Art, man denke allein an das Abschalten der Energieversorgung, sind hier keine Grenzen gesetzt.

Diese Entwicklung ist auch deshalb so beunruhigend, weil sie bedeutet, dass machtvolle Mittel in den Händen vieler sind. Zynisch könnte man auch von einer „Demokratisierung“, jedenfalls aber einer „Popularisierung der Bedrohung“ sprechen.

Während man früher viele Soldaten, viele Panzer und viele Flugzeuge brauchte, um den Nachbarstaat, die Region oder die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen, braucht man heute nur noch eine Handvoll versierter IT-Spezialisten.

Damit besteht zusätzlich die Gefahr, dass morgen Staaten oder Organisationen als gefährliche Akteure auf die Weltbühne treten, an die wir zur Zeit noch nicht einmal denken!

Wo stehen wir angesichts einer „zunehmend destruktiven Dynamik der Weltpolitik“?

Als Zwischen-Fazit zur Beschreibung der Lage möchte ich unseren Bundespräsidenten zitieren.

"Wir werden heute Zeugen einer zunehmend destruktiven Dynamik der Weltpolitik. Vom Ziel internationaler Zusammenarbeit zur Schaffung einer friedlichen Welt entfernen wir uns von Jahr zu Jahr weiter",

kommentierte er die Entwicklung in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2020. Ich erlaube mir eine kleine Korrektur: Wir sind nicht "Zeuge", sondern "Teil" der Entwicklung.

Wenn man sich als Staat, als Gemeinwesen, im ureigensten Überlebensinteresse dieser "destruktiven Dynamik" (um bei der Wortwahl des Bundespräsidenten zu bleiben) stellen will, sei es sicherheitspolitisch, diplomatisch oder militärisch, dann sollte man vorbereitet sein, dann sollte man gut aufgestellt sein.

Lassen Sie mich zwei Prüffragen hierzu stellen:

  1. Welchen Stellenwert hat eigentlich das Thema „Sicherheit“ bei uns?

  2. Wie gut sind unsere Sicherheitsbehörden für die Zukunft, angesichts der „destruktiven Dynamik“ aufgestellt?

Stellenwert von Sicherheit in Deutschland

Die Antwort zur ersten Frage haben wir ja alle in unserem dienstlichen Alltag immer wieder erlebt: der Stellenwert der „Sicherheit“ ist in unserer Gesellschaft unterentwickelt – um es ein-mal so auszudrücken. Es ist natürlich das Problem, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, aber allein der Umstand, dass im Rahmen der derzeitigen Pandemie-Bekämpfung der Datenschutz eine gewichtigere Rolle einnimmt als der Gesundheitsschutz, ist schon ein typisches Beispiel für den Stellenwert von „Sicherheit“ in der politischen Diskussion.

Obwohl ich mich seit längerem mit diesem Phänomen befasse, ist mir bislang nicht hinreichend klar, woran dies bei uns in Deutschland liegt.

Und da es auch gar nicht Gegenstand meines heutigen Vortrages ist, will ich nur ganz kurz einen Punkt in diesem Zusammenhang ansprechen, nämlich die Rolle der Nichtregierungsorganisationen im politischen Diskurs, also auch die Rolle von GKND und Clausewitz-Gesellschaft. Allein ein Blick in die USA zeigt uns, dass es dort eine Vielzahl von Gruppierungen, Verbände und Think Tanks gibt, die sich vernehmbar in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs zum Thema „Sicherheit“ einbringen. Traditionell fehlt dies bei uns in Deutschland. Der Blick zurück ist müßig, aber der Blick nach vorne mit dem Ziel, sich einzubringen, vielleicht sogar mit dem Ziel, die Diskussion zu bestimmen, dieser Blick ist wichtig und richtig. Und da sehe ich den GKND auf einem guten Wege!

Wie sind unsere Sicherheitsbehörden aufgestellt?

Auch die vorhin gestellte zweite Frage, wie gut sind denn unsere Sicherheitsbehörden aufgestellt, ist grundsätzlich leicht zu beantworten. Natürlich können wir besser werden, denn das Bessere ist der Feind des Guten!

Punktuelle Veränderungen, Insellösungen, sind aber nur die zweitbeste Option. Nötig ist vielmehr angesichts der globalen Herausforderungen mit ihren unmittelbaren wie mittelbaren Auswirkungen auf Deutschland eine Gesamtrevision der deutschen Sicherheitsarchitektur, die es bislang so noch nicht gegeben hat. Dabei geht es nicht nur um organisatorische Fragen, sondern auch um eine konsequente Anpassung von Aufgabenzuschnitt und Befugnisse an die jeweilige Bedrohungslage.

Hier kann ich nur einmal eine Reihe von Punkten anführen, die man hinterfragen, jedenfalls aber einmal unvoreingenommen diskutieren sollte, nicht ohne jedoch nochmals darauf hinzuweisen, dass eine Gesamtrevision eindeutig vorzuziehen wäre.

Innere Sicherheit im Spannungsfeld von Bund und Ländern, Polizeien und Nachrichtendiensten

Besonders deutlich wird der Optimierungsbedarf, wenn man sich einmal das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin-Treptow anschaut. Dort arbeiten 40 Behörden von Bund und Ländern an der Bekämpfung eines Phänomens, des Terrorismus. Es gibt keinen Leiter dieses Zentrums, alle 40 Behörden sind gleichberechtigt. Daher gibt es dort eine ständige komplexe Abstimmungsmaschinerie, die – wie der Fall Anis Amri zeigte – natürlich fehlerträchtig und in ihrer Koordinations- und Steuerungsfunktion strukturell defizitär ist. Wenn man, quasi auf der grünen Wiese, eine optimale Sicherheitsarchitektur für einen Staat kreieren wollte, dann käme wohl niemand auf die Idee, hierfür 40 Behörden gleichzeitig und gleichberechtigt aufzustellen.

Optimierung des Verfassungsschutzverbundes!

Kann man also den Verfassungsschutzverbund mit seinen 16 Landesämtern, dem MAD und dem BfV optimieren? Ich denke, das kann man, ohne die Axt an den Föderalismus anzulegen. Ich habe in diesem Zusammenhang ja zwei Vorschläge gemacht, ein Optionsmodell der Kompetenzübertragung vom Land auf den Bund und – zweiter Vorschlag – die Zusammenführung der Auswertung bei Bundesamt.

Das Optionsmodell besagt, dass den Bundesländern, hier insbesondere den kleinen, die Möglichkeit gegeben wird, die Aufgabe „Verfassungsschutz“ an den Bund abzugeben. Sie können dies tun, sie müssen es aber nicht, d.h. die Länder behalten uneingeschränkt die Entscheidungshoheit.

Die Zusammenlegung der Auswertung belässt die Beschaffungskomponente bei den Ländern, während die zentrale Auswertung beim BfV eine deutliche qualitative Aufwertung erfahren wird, weil das Nebeneinander in diesem Bereich wegfällt.

Zusammenlegung von Bundespolizei und Bundeskriminalamt?

Ich denke, die letztlich rein historisch bedingte Dopplung der Polizeien auf Bundesebene können wir uns auf Dauer nicht leisten. Es ist ja längst nicht mehr so, dass man zwischen Kriminalpolizei (= BKA) und Schutzpolizei (= BPol) unterscheiden kann. Die Bundespolizei bearbeitet zum Beispiel inzwischen mehr kriminalpolizeiliche OK-Verfahren als das BKA. Eine Zusammenführung ließe viele Synergieeffekte erwarten und ist ja bereits schon einmal vor über zehn Jahren von Experten, nämlich der sogenannten Werthebach-Kommission, aus gutem Grunde vorgeschlagen worden.

Einrichtung eines technischen Nachrichtendienstes?

Ist ein technischer Nachrichtendienst, vergleichbar der amerikanischen NSA oder dem britischen GCHQ, sinnvoll? Ich denke, ja! Denn ich befürchte, die rasante technische Entwicklung auf diesem Gebiet wird die einzelnen Sicherheitsbehörden überfordern. Die Abteilung Technische Aufklärung (TA) des BND in Pullach und die erst 2017 im Geschäftsbereich des BMI geschaffene Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS) in München könnten Keimzelle eines solchen neuen technischen Dienstes sein, der für den Verfassungsschutz, den MAD und natürlich für den BND in der ersten Aufbaustufe zuständig sein sollte. Ein gemeinsamer technischer Nachrichtendienst wäre auch folgerichtig, da man ja – wie bereits erwähnt – Inlands- und Auslandssachverhalte gerade bei der Cyberabwehr immer schwieriger trennen kann.

Und die Briten und die USA sind ja nicht zufällig auf dieses Modell gekommen und haben dieses über die Jahrzehnte konsequent weiterentwickelt.

Bündelung der nachrichtendienstlichen Terrorismusbekämpfung beim BfV?

Ich bin dafür. Auch diese Entwicklung hielte ich für folgerichtig, denn der Terrorismus lässt sich nur noch in den wenigsten Fällen sinnvoll dem Inland oder dem Ausland zuordnen. In Deutschland werden Kämpfer rekrutiert für Krisengebiete im Ausland, ausländische Kämpfer sickern nach Deutschland ein, um hier Anschläge zu begehen, und das Internet als globales Kommunikations-, Propaganda- und Rekrutierungsmedium ist ohnehin losgelöst von den Staatsgrenzen. Und da eine Zusammenführung dieser Aufgabe bei BND weder sachgerecht noch politisch durchsetzbar wäre, kommt eben nur eine Bündelung beim BfV in Betracht. Auch hier lohnt ein Blick über die Grenzen: In Großbritannien hat der Inlandsdienst MI5 die strategische wie taktische Sachleitungsbefugnis bei der Terrorismusbekämpfung, dem der Auslandsdienst MI6 ebenso zuzuarbeiten hat wie der technische Aufklärungsdienst GCHQ.

Unterstellung des Bundesnachrichtendienstes?

Es sollte zumindest auch einmal diskutiert werden, ob es nicht sinnvoller ist, den BND dem BMVg zu unterstellen anstelle dem Bundeskanzleramt. Aus meiner Sicht spräche hierfür allein schon der Umstand, dass der BND zugleich auch der militärische Nachrichtendienst in Deutschland ist. Und gerade die Aufgaben der militärischen Auslandsaufklärung werden aufgrund der erneut gestiegenen Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung wie durch die vermehrten Kriseneinsätze der Bundeswehr immer zahlreicher und relevanter. Die Aufgabe „Einsatzbegleitung“ wie auch die Gemeinsamkeiten bei der Technischen Aufklärung und der Satellitenaufklärung sind daher gewichtige Elemente, die für eine Zuordnung zum BMVg sprechen. Die hohe Anzahl von Soldaten im BND zeigt schließlich faktisch auf, dass die Verzahnung mit der Bundeswehr schon längst ein solch intensives Stadium erreicht hat, dass die formale organisatorische Unterstellung überfällig ist. Dass das BMVg und die Bundeswehr als „Abnehmer“ die meisten Berichte und Meldungen des Dienstes erhalten, rundet das Bild lediglich noch ab. Klar ist allerdings, dass die gesamtstaatliche Aufgabenstellung des BND, die Bundesregierung in allen Politikbereichen mit den Ergebnissen seiner Auslandsaufklärung zu unterstützen, von einer derartigen Zuordnung nicht berührt werden kann und darf. Die Zusammenführung, Steuerung und Koordination der nachrichtendienstlichen Kapazitäten des Bundes würde hier durch einen Nationalen Sicherheitsrat zu gewährleisten sein.

Wahrheit und Klarheit bei militärischen oder polizeilichen Missionen im Ausland!

Gerade dieser Punkt ist mir wichtig, denn die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten dürfen zu Recht erwarten, dass Klarheit über die politischen Ziele von Operationen besteht, in denen sie Leben und Gesundheit aufs Spiel setzen. Das Weißbuch 2016 und die Leitlinien der Bundesregierung zum Krisenmanagement von 2017 sind gute Ansätze, aber sie bleiben im Ergebnis immer noch vage! Welches sind unsere ganz konkreten Interessen und Ziele – dies zu formulieren fällt uns schwer!

Gerade der eben erfolgte Abzug aus Afghanistan zeigt meines Erachtens leider viel zu deutlich unser Dilemma auf: Wenn man keinen überzeugenden Grund hat, in ein Land hineinzugehen, dann hat man auch keine überzeugende Exitstrategie. Der am Anfang stehende NATO-Bündnisfall als Folge des Terroranschlags vom 11. September 2001 hatte sich ja längst überholt. Die Maßgabe zu gehen, wenn die Amerikaner aus welchem Grund auch immer gehen, kann hier in keiner Weise überzeugen. Es ist traurig genug, dass dafür über 50 Soldaten gefallen sind – Wofür? Denn eines ist klar, die Sicherheit Deutschlands wurde spätestens nach der Zerschlagung von Al-Qaeda nicht am Hindukusch verteidigt.

Ein Nationaler Sicherheitsrat zur Bündelung gesamtstaatlichen Handelns!

Und nicht zuletzt ist die Idee eines Nationalen Sicherheitsrates es wert, diskutiert zu werden. Auch hierzu gibt es bekanntlich im Hinblick auf die nächste Legislaturperiode bereits etliche Vorschläge. Eckpunkte sollten aus meiner Sicht sein,

  • ein Ausschuss des Bundeskabinetts auf Ministerebene,

  • ein eigener Unterbau zur periodischen Berichterstattung zur Sicherheitslage,

  • ein Link zur Wissenschaft, zum Beispiel durch Beiräte.

Über all diese Detailfragen sollte gerne lange und öffentlich diskutiert werden. Denn von einer solchen Diskussion, aber auch durch die Etablierung eines Nationalen Sicherheitsrates selbst erhoffe ich mir auch eine Diskussion über die Frage, welchen Stellenwert "Sicherheit" in unserer heutigen Gesellschaft hat.

Das Thema Sicherheit muss politisch breit diskutiert und beherzt angegangen werden

Es verwundert, dass angesichts der kriselnden Weltlage viele Fragen zum Thema "Sicherheit" nicht hinreichend beantwortet werden können. Und es verwundert, dass wir uns so zaghaft auf die zukünftigen Herausforderungen vorbereiten. Eine unvoreingenommene Evaluierung aller Sicherheitsbehörden und ihrer Zusammenarbeit wäre daher der richtige Schritt.

Beispiel BND: Seit seinem Bestehen gab es keine breite, öffentliche Diskussion darüber, was unser Auslandsnachrichtendienst leisten und im Ausland dürfen soll. Soll der BND einfach nur die Welt beobachten, analysieren und berichten, oder soll er als Krisenfrühwarnsystem fungieren? Steht die klassische Spionage zur privilegierten Information der Bundesregierung im Vordergrund oder die Einsatzbegleitung der Bundeswehr? Reichen die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten aus, um prioritäre Aufträge erfüllen zu können? Und was sind eigentlich prioritäre Aufgaben und wer bestimmt sie? Es ist kein gutes Zeichen, dass es erst das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Mai 2020 war, das hier konstitutive Aussagen zur Aufgabenstellung und Bedeutung einer wirksamen Auslandsaufklärung machen musste. Gefordert sind hier zunächst einmal Legislative und Exekutive in ihrer Verantwortung für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der hier lebenden Menschen.

Wer einen Auslandsnachrichtendienst will, sollte zudem wissen und akzeptieren, dass dieser im Ausland gegen dortiges Recht verstößt. Spionage ist zwar als Wahrnehmung eines überragenden öffentlichen Interesses an staatlicher Selbstbehauptung im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen völkerrechtlich nicht verboten, doch wird sie regelmäßig in dem jeweiligen betroffenen Staat strafrechtlich verfolgt. An diesem Normenkonflikt, den auch das Bundesverfassungsgericht klar benannt hat, kommt man selbst durch noch so viele Vorgaben im Inland ebenso wenig vorbei wie an der Erkenntnis des Gerichts, dass es hier zugleich „um die Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung – und damit um Verfassungsgüter von hohem Rang (geht). In Frage steht mithin ein gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht.”

Die Notwendigkeit einer Revision der Sicherheitsarchitektur ist mithin überfällig und wird im Übrigen auch von der bisherigen Bundesregierung ebenso propagiert wie aktuell von Parteien im Vorfeld der Bundestagswahlen. Im Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie vom Februar 2020, das gemeinsam vom BMWi, BMVg, BMI, AA und weiteren Ressorts erarbeitet worden ist, wird festgestellt, dass eine Anpassung der Sicherheitsarchitektur an die zukünftigen Herausforderungen erforderlich ist. Das Ziel ist also vorgegeben, jetzt müsste gehandelt werden.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender

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„Totalversagen“ des Bundesnachrichtendienstes in Afghanistan?!

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Stand der Nachrichtendienstforschung