Stand der Nachrichtendienstforschung
Am Beispiel der irakischen Nachrichtendienste in den 70er und 80er Jahren
Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen
Dr. Ali Dogan, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO)
Mit dieser Hintergrundinformation soll ein erster Einblick in den aktuellen Stand der Nachrichtendienstforschung in Deutschland aus akademischer Perspektive gegeben werden. Im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Raum ist diese Disziplin in Deutschland bisher noch wenig etabliert, jedoch für ein fundiertes Verständnis und eine darauf aufbauende sachgerechte Behandlung nachrichtendienstlicher Belange in Politik und Öffentlichkeit unerlässlich. Wichtig ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Master-Studiengang „Intelligence and Security Studies“ (MISS) an der Hochschule des Bundes und der Universität der Bundeswehr noch ein Format jenseits der öffentlichen Academia aufweist und deshalb in diese Betrachtung nicht einbezogen werden kann. Umso mehr dankt der GKND seinem Mitglied Ali Dogan und dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient, Berlin, für den folgenden Beitrag zur öffentlich zugänglichen akademischen Forschung, der auf einem internen Vortrag vor Mitgliedern des Vereins vom 11.05.2021 beruht.
Das Ziel der Nachrichtendienstforschung ist nicht die Entdeckung von „Skandalen“, sondern die wissenschaftliche Untersuchung nachrichtendienstlicher Ereignisse. Durch wissenschaftliche Analysen in den verschiedenen Disziplinen (Bsp. Politikwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Soziologe, Rechtswissenschaften) kann die Nachrichtendienstforschung zum adäquateren Verständnis von Ereignissen im größeren Kontext führen. Die Politikwissenschaft kann beispielsweise durch die Nachrichtendienstforschung staatliche Prozesse und Mechanismen in der Sicherheitspolitik aus einem anderen Blickwinkel betrachten und daraus Schlüsse ziehen. Für die Nachrichtendienstforschung ist jedoch der Zugang zu Archiven und der Austausch mit ehemaligen Nachrichtendienstlern, Selbstverständlich unter Beachtung der Geheimhaltung, essenziell.
Wie in anderen Teildisziplinen, gibt es auch in der interdisziplinären Nachrichtendienstforschung verschiedene wissenschaftliche Orientierungen und Schwerpunkte, über die in etablierten akademischen Zeitschriften wie der „Intelligence and National Security“ (sieben Ausgaben pro Jahr) und des „International Journal of Intelligence and CounterIntelligence“ (vier Ausgaben pro Jahr) berichtet wird. Wichtige fachliche Foren sind Vereinigungen, wie z.B. die International Intelligence History Association (IIHA) und wissenschaftliche Konferenzen, wie z.B. die Intelligence Studies Section der jährlichen International Studies Association Konferenz. Aktuelle, ein- und weiterführende Artikel aus der Nachrichtendienstforschung sind die Arbeiten von Cormac & Aldrich (2018), Bigo (2019) und Willmetts (2019)2. Während Cormac & Aldrich (2018) und Bigo (2019) exemplarisch zeigen, wie nachrichtendienstliche Ereignisse in einem politikwissenschaftlichen Kontext analysiert und theoretisiert werden können, erklärt Willmetts (2019) aus einer soziologischen Perspektive, welche Rolle die Kultur in der nachrichtendienstlichen Arbeit spielt. Abschließend ist aber auch auf die Sachbuchreihe des GKND „Demokratie und Geheimdienste“ aus den Jahren 2007 und 2008 aufmerksam zu machen. Diese Veröffentlichungen helfen nicht nur Wissenschaftlern in Ihrer Forschung, sondern tragen auch zur effektiven Öffentlichkeitsarbeit des GKND bei. Eine Fortsetzung derartiger Publikationen wäre auch unter dem Aspekt der Nachrichtendienstforschung wünschenswert.
Die Nachrichtendienstforschung hat jedoch noch Lücken und Schwächen, die es zu füllen und ausarbeiten gilt. Es fehle vornehmlich an Theorien (Hijzen 2017, Gill 2009) und Studien aus einer IB-Perspektive (Eickelman 1988, Hastedt 1991, Hoffmann 2019, Krieger 2004, Andrew 2010). Nach Graaff und Nyce sollen die nachrichtendienstlichen Studien sich nicht nur auf die nachrichtendienstlichen Aktivitäten konzentrieren, sondern vielmehr auf die politische und gesellschaftliche Legitimation solcher Handlungen. Außerdem fehle in der Nachrichtendienstforschung auch der Vergleich oder die Analyse von Geheimdiensten im internationalen Kontext (B. D. Graaff 2012).
Bislang fehlen in der Nachrichtendienstforschung auch Untersuchungen zu den modernen Diensten im Mittleren Osten. Daher soll die am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) an der FU Berlin betriebene Forschung über die irakischen Nachrichtendienste dazu beitragen, diese Lücke schrittweise zu füllen.
In den 70er und 80er Jahren gab es drei Nachrichtendienste im Irak. Der irakische Inlandsnachrichtendienst (Al-Amn al-’Amm) wie auch der militärische Nachrichtendienst (Al-Istikhbarat al-Askariyya) wurden jeweils 1921 und 1932 noch während der irakischen Monarchie und unter der britischen Kolonialherrschaft gegründet. In den 1970er wurde der Inlandsnachrichtendienst mithilfe des KGB reformiert und dem Präsidenten unterstellt. Auch der militärische Nachrichtendienst wurde in den 1980er Jahren dem Präsidenten unterstellt und war im Inland als auch im Ausland durch seine Militärresidenturen tätig. Der Auslandsnachrichtendienst (Jihaz al-Mukhabarat al-’Amm) entstand aus der parteiinternen Geheimorganisation (Jihaz-Al-Khass) der Baath Partei. Der Jihaz Al Khass war für die Bekämpfung interner und externer Opposition zuständig. Saddam Hussein war Leiter dieser Organisation und wurde durch die Macht über den Jihaz al-Mukhabarat al-’Amm 1968 zum Vizepräsidenten und 1979 zum Präsidenten. Schließlich wurde auch der Auslandsnachrichtendienst in den 70er Jahren mithilfe des KGB reformiert und 1973 institutionalisiert.
Leiter und Bedienstete der drei irakischen Nachrichtendienste waren meist Mitglieder des Abu Nasr Stammes, dem Familienstamm Saddam Husseins. Die Mitglieder dieses Stammes kommen aus Tikrit, der Geburtsstadt Saddam Husseins und haben für gewöhnlich den auf die regionale Herkunft hinweisenden Nachnamen “al-Tikriti”. Zwei bekannte Familienmitglieder und Leiter der Nachrichtendienste waren Ali Hassan Abd Al-Majid, Saddams Cousin und Leiter des Inlandsnachrichtendienstes in den 80er Jahren und Barzan Ibrahim Hassan, Saddams Halbbruder und Leiter des Auslandsnachrichtendienstes von 1976 bis 1984. Während Leitungspositionen meist von Mitgliedern des Baykat Clan (=Saddams Clan, es gibt sechs Clans innerhalb des Abu Nasr Stamms) besetzt wurden, waren Bedienstete der Nachrichtendienste, Mitglieder der anderen Clans und Stämme in Tikrit. Außerdem gab es verbündeten Stämme, wie die Dulaym, Jubur, ‘Ubayd, Duri and Samarra‘i die auch das Nachrichtendienstpersonal stellten. Die Stämme stammen wie auch der Abu Nasr Stamm aus dem Salah ad-Din Gouvernement, nördlich von Bagdad.
“The hand of the revolution can reach out to its enemies wherever they are found”
sagte Saddam Hussein bereits 1980 in einer seiner Reden. Diese Drohung war vor dem Hintergrund des Konfliktes mit Iran an die Iraner, Kurden wie auch allgemein an Oppositionelle gerichtet und realisierte sich auch Anfang der 80er Jahre anhand mehrerer Anschläge durch den militärischen und Auslandnachrichtendienst. In einem Gespräch in Bagdad informierte der KGB im Jahre 1981 das MfS über die angestiegenen Aktivitäten der irakischen Nachrichtendienste im Ausland. Es gebe neue Instruktionen des irakischen Revolutionskommandos an die irakischen Auslandsvertretungen „wonach die Botschaften mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel irakische Kommunisten, oppositionelle Kurden und anderweitig in Opposition zum Saddam- Regime stehende Personen erfassen, beobachten und möglichst neutralisieren müssen“ (BStU, MfS HA II 17923). Unter Ausnutzung der diplomatischen Immunität führten die irakischen Nachrichtendienste Operationen gegen ihre „Feinde“ durch. Die irakischen Botschaften in London und Ost-Berlin dienten in den 80er Jahren als Basis der irakischen Operationen in Europa. Folgende zwei Beispiele veranschaulichen in welchem Ausmaß der militärische Nachrichtendienst und der Auslandsnachrichtendienst in Europa gegen die Iraner und Kurden operiert haben.
Im April 1980 wurde die iranische Botschaft in London durch die separatistische Organisation „Demokratische Revolutionäre Front für die Befreiung Arabistans (DRFLA)“ besetzt. Die DRFLA ist eine aus dem iranischen Khuzestan, einer mehrheitlich arabischen, erdölreichen Region an der Grenze zum Irak, stammende Organisation, die nach der iranischen Revolution 1979 vergeblich eine Autonomie angestrebt hatte. Saddam Hussein erklärte so schon 1969, dass das arabische Khuzestan zum Irak gehöre. Mit dem Ziel den Iran auf allen Ebenen zu bekämpfen, wurden die Mitglieder der DRFLA vom irakischen militärischen Nachrichtendienst als Teil einer Subversionskampagne gegen den Iran rekrutiert und ausgebildet (Murray & Woods 2014: 46). Die Waffen der Organisation stammten aus sowjetischer Produktion und wurden unter Nutzung der diplomatischen Immunität in das Vereinigte Königreich geschmuggelt (Fremont-Barnes 2009: 18). Im Zuge der Besetzung kamen fünf der sechs Geiselnehmer ums Leben und eine Geisel starb.
Am 1. August 1980 wurden zwei Mitarbeiter des irakischen Auslandsnachrichtendienstes gefasst, die einen Bombenanschlag auf den Kongress der kurdischen Studenten in West-Berlin geplant hatten. Die beiden Mitarbeiter des irakischen Nachrichtendienstes operierten aus der Botschaft in Ost-Berlin und waren dort akkreditiert. Sie nutzten ihre diplomatische Immunität, um die Grenze mit 500 Gramm Sprengstoff im Kofferraum zu überqueren. Sie wurden in der Nähe vom Gesundbrunnen in West-Berlin durch Polizisten gestoppt, die vorher durch Informanten über die Operation der Iraker informiert wurden (BStU, MfS HA II 17923 und Polizeihistorische Sammlung Berlin - 8. April 1986).
Schließlich zeigen die Beispiele, wie Nachrichtendienste autokratischer Staaten Teil transnationaler Repression sind und gegenüber der jeweils eigenen Opposition, aber auch im Rahmen hybrider Kriegsführung zum Einsatz kommen (Tsourapas 2020).
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
BStU, MfS HA II 17923
Polizeihistorische Sammlung Berlin, 8. April 1986, Link: www.phs-berlin.de.
Sekundärliteratur
Andrew, Christopher (2004) Intelligence, International Relations and 'Undertheorisation', Intelligence & National Security, 19:2, 170-184.
Bigo, Didier (2019): Shared secrecy in a digital age and a transnational world, Intelligence and National Security, 34:3, 379-394.
Cormac, Rory & Richard Aldrich (2018): Grey is the new black: covert action and implausible deniability, International Affairs, 94:3, 477–494.
Eickelman Dale F. (1988): "Intelligence in an Arab Gulf State," in Comparing Foreign Intelligence: The U.S., the U.S.S.R., the U.K., and the Third World, R. Godson (ed.), Washington: Pergamon-Brassey's, pp. 89-114.
Fremont-Barnes, Gregory (2009): Who dares wins. The SAS and the Iranian Embassy Siege 1980. Oxford: Osprey Publishing.
Gill, Peter (2009): “Theories of intelligence: where are we, where should we go and how might we proceed?”, in P. Gill & S. Marrin & M. Phythian (eds.) Intelligence Theory. Key questions and debates. Oxford: Routledge, pp. 208-226.
Graaff, Bob G. J. de (2012): De ontbrekende dimensie:intelligence binnen de studie van internationale betrekkingen, Faculteit Geesteswetenschappen, Universiteit Utrecht.
Hastedt, Glenn P. (1991): Towards the Comparative Study of Intelligence, Journal of Conflict Studies, 11:3, 55-72.
Hijzen, Constant (2017): The history of Intelligence: Future Prospects, Journal of Mediterranean and Balkan Intelligence, 10:2, 113-132.
Hoffmann, Sophia (2019): Why is there no IR scholarship on intelligence agencies? Some ideas for a new approach, ZMO Working Papers, No. 23.
Krieger, Wolfgang (2004):German Intelligence History: A Field in Search of Scholars, Intelligence & National Security, 19:2, 185-198.
Murray, Williamson & Kevin Woods (2014) The Iran-Iraq War: A Military and Strategic History. Cambridge: Cambridge University Press.
Tsourapas, Gerasimos (2020): Global Autocracies: Strategies of Transnational Repression, Legitimation, and Co-Optation in World Politics, International Studies Review,.
Willmetts, Simon (2019): The cultural turn in intelligence studies, Intelligence and National Security, 34:6, 1-18.