Bundeswehr der Zukunft und Bundesnachrichtendienst
Eine Stellungnahme zum Eckpunktepapier der Verteidigungsministerin und des
Generalinspekteurs
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Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes
Mit dem am 18. Mai vorgestellten Eckpunktepapier der Bundesministerin der Verteidigung und des Generalinspekteurs wird die im Positionspapier vom Februar 2021 angekündigte Konkretisierung der Zielvorgaben für die Bundeswehr vor dem Hintergrund einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Lagebeurteilung weiter operationalisiert.
Erneut betont das Eckpunktepapier grundlegende Erfordernisse von Planungs- und operativer Einsatzfähigkeit, zu deren Gewährleistung integrierte Lagefeststellung, Lagebeurteilung und Prognosefähigkeit auch auf nachrichtendienstlicher Basis zeitgerecht und in der erforderlichen Qualität bereitgestellt werden müssen.
Der GKND verfolgt diesen Entwicklungsprozess mit großem Interesse, da sich aus ihm wesentliche Konsequenzen auch für die Aufgabenstellung und Perspektive des Bundesnachrichtendienstes ergeben.
Dies ist aus GKND-Sicht umso bedeutsamer, als hiermit zentrale sicherheits- und verteidigungspolitische Themen in den öffentlichen politischen Diskurs gerückt und damit in sachlicher Konsequenz auch das sicherheitspolitische Augenmerk auf die nachrichtendienstliche Dimension deutscher Sicherheitspolitik gelenkt wird.
Dem Bundesnachrichtendienst als einzigem zivilen und militärischen Nachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland kommt hier im Bereich der Aufklärung für den Bedarf der Landes- und Bündnisverteidigung wie für die Befähigung der Bundeswehr zum völkerrechtlich und parlamentarisch mandatierten Auslandseinsatz ein breites Spektrum an Aufgaben zu, dem er in Unterstützung der politischen und militärischen Entscheidungsstrukturen der Bundesregierung wie des Systems Militärisches Nachrichtenwesen der Bundeswehr (SysMilNwBw) im erforderlichen Umfang und Detaillierungsgrad und in der notwendigen Zeitgerechtigkeit genügen muss.
Ohne die strategische Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes, ohne seine Erkenntnisse im Bereich von Proliferation, militärischer Technologie- und Potentialentwicklung in problematischen Staaten, ohne seine Aufklärungsergebnisse zu Befähigungen und Absichten antagonistischer staatlicher und nichtstaatlicher Akteure sowie seine auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse zurückgreifenden Analysen zu Konfliktursachen, Konfliktverläufen und regionalen Instabilitäten und Risiken fehlt der Bundesregierung wie der Bundeswehr eine wesentliche Grundlage für Lagefeststellung und Lagebeurteilung in den für Planung und Strategie essentiellen Gebieten.
Die dem Eckpunktepapier nunmehr in größerem Detail zu entnehmenden Zielvorgaben für die Bundeswehr schlägt damit unmittelbar auf das Aufgabenprofil des Bundesnachrichtendienstes durch, der in der Folge seinerseits zu einer angemessenen Auftragserfüllung materiell wie operativ befähigt und politisch wie rechtlich ermächtigt werden muss. In gleicher Weise wird auch das Augenmerk auf die Befähigungsprofile des militärischen Nachrichtenwesens der Bundeswehr, nicht zuletzt auch in ihrer Komplementarität mit und ihren Schnittstellen zur Arbeit des Bundesnachrichtendienstes zu richten sein. Dies wird umso wichtiger sein, als auch hier die Leistungsfähigkeit der Bereiche angesichts weiter dramatisch steigender Anforderungen an Aufklärungs-, Analyse- und Frühwarnfähigkeit auf nationaler wie integrierter Ebene ebenso gewährleistet werden muss wie in der Force Protection. Auch hier wird es in Zukunft entscheidend darauf ankommen, operative Handlungs- und Reaktionsfähigkeiten, die im Einsatz über Leben und Tod mit entscheiden können, nicht durch potentiell dysfunktional wirkende komplexe Kontrollregimes zu gefährden.
Zahlreiche Konsequenzen, die das Eckpunktepapier für die Bundeswehr aufzeigt, haben mithin in gleicher Weise ihre Gültigkeit für den Bundesnachrichtendienst:
Die Bundeswehr, als Mittel der nationalen Daseinsvorsorge und als außenpolitisches Instrument der Bundesregierung, muss nicht nur modern ausgerüstet und in hohem Maße einsatzbereit sein. ... Ihre Finanzierung muss sich – langfristig planbar – an der intensiveren Bedrohungslage und am deutlich gesteigerten Bedarf an eigenständiger sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit ausrichten (S. 4). Das Erfordernis der langfristigen Planungs- und Entwicklungsperspektive muss in gleicher Weise für den Bundesnachrichtendienst gelten, soll er mit den Anforderungen Schritt halten können.
Aufgrund seiner geografischen Lage in der Mitte Europas, seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der existentiellen Verbindung der deutschen mit der europäischen Sicherheit steht unser Land besonders in der Pflicht(S. 5). Diese Pflichtenstellung gilt erneut auch für den Bundesnachrichtendienst im internationalen Gefüge der verbündeten Nachrichten- und Sicherheitsdienste, sei es im transatlantischen Bündnis, sei es in den sich entwickelnden GASP- und GSVP-Strukturen der Europäischen Union.
Deutschlands diplomatische, aber auch seine militärischen Fähigkeiten sind ein entscheidender Beitrag für die Befähigung eines freien, eigenständigen und sicheren Europas. Das heißt konkret: Die Anforderungen an die Bundeswehr steigen – kurz-, mittel- und langfristig. Das gilt sowohl für den Kernauftrag der deutschen Streitkräfte, den Schutz Deutschlands und deutscher Staatsangehöriger sowie den Schutz seiner Verbündeten, als auch für die gleichrangige Aufgabe, einen Beitrag zum Internationalen Krisenmanagement zu leisten (S. 5). Den steigenden Anforderungen an die Bundeswehr muss der Bundesnachrichtendienst in gleicher Weise gerecht werden. Eine intensive, frühzeitig einsetzende Abstimmung der erforderlichen Maßnahmen unter ressortübergreifender Koordination wird hier unerlässlich sein.
Die Faktoren Zeit und Geschwindigkeit gewinnen im Lichte sicherheitspolitischer Entwicklungen und technologischer Fortschritte enorm an Bedeutung. Die Bundeswehr muss in der Lage sein, ohne lange Vorlaufzeiten auf eine Konflikteskalation zu reagieren, d.h. „Kräfte der ersten Stunde“ insbesondere an den Außengrenzen des Bündnisses einzusetzen. … Eine hohe Einsatzbereitschaft bereits in Friedenszeiten ist unabdingbar (S. 7). Dem Erfordernis der Zeitgerechtigkeit nachrichtendienstlicher Beschaffung und Analyse wird hier auch unter dem Aspekt der frühzeitigen strategischen Schaffung und Ertüchtigung leistungsstarker und resilienter Kapazitäten ein besonderes Augenmerk zu widmen sein.
Deutschland bleibt eines der Länder mit einer Schlüsselrolle innerhalb der NATO und der EU. Damit einher geht der eigene Anspruch und auch die Erwartung unserer Partner, einen unserer Größe und wirtschaftlichen Stärke angemessenen Beitrag in allen Dimensionen zu leisten. Die Bundeswehr muss daher ein breites militärisches Profil bewahren, an das sich andere, insbesondere kleinere Nationen, anlehnen können. (S. 9) Ein breites militärisches Profil der Bundeswehr bedingt adäquate Kapazitäten des Bundesnachrichtendienstes in Beschaffung und Auswertung.
Es gilt, eine durchgehende, leistungsfähige, interoperable Führungsfähigkeit von der strategischen bis zur untersten taktischen Ebene zu etablieren. (S. 11) Die Anforderungen an die Führungsfähigkeit gelten in gleicher Weise für die Befähigungen der Bundesnachrichtendienstes, insbesondere auch in seiner Anschlussfähigkeit an seine Abnehmer in Politik und Militär.
Wir stärken die Fähigkeiten zur Planung und Führung von Operationen im Cyber- und Informationsraum und entwickeln das Militärische Nachrichtenwesen ganzheitlich weiter. Der Cyber- und Informationsraum stärkt seine Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik sowie im ressortübergreifenden Ansatz mit dem Nationalen Cyberabwehr-Zentrum im Sinne der Cyber-Sicherheitsstrategie Deutschlands. (S. 16) Das Militärische Nachrichtenwesen ist ein wesentlicher Abnehmer der Unterstützungsleistungen des Bundesnachrichtendienstes, der sich in seiner Aufstellung und seinen Befähigungen an den hier zu erwartenden Anforderungsprofilen im Rahmen seines nötigenfalls auch durch die Bundesregierung entsprechend zu ergänzenden Gesamtauftrags zu orientieren haben wird.
Zudem wird das Joint Intelligence Centre als Element des Militärischen Nachrichtenwesens für die strategische und operative Ebene dem Inspekteur Cyber- und Informationsraum truppendienstlich unterstellt. (S. 16) Gleiches gilt für die gegebenenfalls erforderliche Neujustierung der Vernetzung zwischen den jeweiligen Lagezentren.
Unsere Streitkräfte müssen grundsätzlich in ihrer Gesamtheit einsatzbereit sein, können aber durchaus mit abgestuften Vorwarnzeiten zur Verfügung stehen. Dabei müssen die Streitkräfte als Ganzes betrachtet werden. In diesem Sinne ist der Umfang einsatzbereit verfügbarer Kräfte zu erhöhen. (S. 18) Die Forderung einer umfassenden Einsatzbereitschaft bedingt ein entsprechend breites Spektrum an aktiven – und nicht erst zu aktivierenden – Aufklärungsbefähigungen des Bundesnachrichtendienstes. Eine Justierung der Aufklärungsforderungen nach Sachbereichen, Umfang und Detaillierungsgrad sowie der hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für Mittelzuweisungen wird hier in einem kontinuierlichen Prozess zwischen Dienst, Bundeswehr und den zuständigen Ressorts zu leisten sein.
Das BMVg muss auch künftig folgende Kernaufgaben erfüllen: … der Bundesministerin/dem Bundesminister der Verteidigung die Führung der Bundeswehr in den komplexen Krisen unserer Zeit und auf Basis eines verzugslosen Lagebildes zu ermöglichen. (S. 24) Das Erfordernis eines verzugslosen Lagebildes betrifft den Bundesnachrichtendienst im Kern seiner Pflichtenstellung gegenüber der Bundesregierung ebenso wie dem Geschäftsbereich des BMVg. Entsprechend leistungsfähige Kapazitäten und resiliente Strukturen sind hier vorzuhalten und wo nötig neu zu konfigurieren.
Der Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode sieht eine deutliche Steigerung der Strategiefähigkeit Deutschlands vor. Sicherheitsrelevante Trends müssen früher erkannt und analysiert werden, Ableitungen daraus müssen in einen größeren Kontext gestellt werden, die Planung des eigenen Handelns längerfristig angelegt sein. Dazu gilt es, politische Analysen, Forschungsergebnisse, Lagebilder und Hintergrundinformationen aus externen und internen Quellen zu einer integrierten Bewertung zusammen zu führen. … Ziel ist es, die bestehende Analysekapazität des Hauses angesichts einer sich schnell verändernden Sicherheitslage gezielt zu stärken und zu erweitern (S. 25) Auch im Rahmen einer Stärkung der Strategiefähigkeit spielt der Bundesnachrichtendienst mit seinen spezifischen Befähigungen in integrierter Beschaffung und Analyse eine Schlüsselrolle, die auch im Geschäftsbereich des BMVg in adäquater Weise eingebracht werden sollte.
Ausgehend von diesem Eckpunktepapier bleibt damit zusammenfassend festzustellen:
Der Bundesnachrichtendienst muss in vergleichbaren Planungszyklen langfristig konfiguriert und finanziert werden.
Sein Leistungsspektrum muss auch im Hinblick auf seine Anschluss- und Bündnisfähigkeit im transatlantischen wie europäischen Rahmen immer wieder neu justiert werden.
Umfassendes Einsatzspektrum, verzugslose Lagefeststellung und Lagebeurteilung sowie die hiermit einhergehende durchgehende interoperable Führungsfähigkeit gelten in gleicher Weise für den Bundesnachrichtendienst und müssen sich in seinen Befähigungen, Strukturen und Leistungsparametern widerspiegeln.
Schnittstellen zum Militärischen Nachrichtenwesen müssen der dynamischen Entwicklung der kommenden Jahre angepasst werden.
Das aktuelle Eckpunktepapier stellt somit ein wesentliches zusätzliches sicherheitspolitisches Referenzdokument für die weitere Entwicklung des BND, auch vor dem Hintergrund der Umsetzung des novellierten BND-Gesetzes dar. Es verdeutlicht ein weiteres Mal die zentrale Bedeutung, die eine wirksame nachrichtendienstliche Auslandsaufklärung für die Wahrung existentieller Sicherheitsinteressen Deutschlands und seiner Verbündeten hat.
Abschließend kann der GKND ebenfalls nur noch einmal die Notwendigkeit einer Einbeziehung von nachrichtendienstlich unterstützter Lagefeststellung und Lagebeurteilung in einen im Eckpunktepapier erneut angeregten Nationalen Sicherheitsrat unterstreichen. Dies ist nicht nur im Hinblick auf Strategiefähigkeit und strategische Kultur von entscheidender Bedeutung, sondern ganz essentiell und existenziell gerade auch zur Gewährleistung einer integrierten politischen Entscheidungs-, Führungs- und Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im Krisen- und Konfliktfall sowie zur koordinierten Herstellung und Weiterentwicklung dieser gesamtstaatlichen Befähigungen im Vorfeld. Hier begrüßt der GKND ausdrücklich die größere Klarheit des Eckpunktepapiers in der Betonung eines ressortübergreifenden Ansatzes gerade auch in Lagefeststellung und -beurteilung:
„Wir werden uns in der Regierung weiterhin für die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats einsetzen, der das Fachwissen der Ressorts zu Sicherheitspolitik bündelt und unsere strategischen Instrumente verlässlich koordiniert. Vernetzte Sicherheit kann nicht einem Politikfeld, einer Fachkompetenz oder einem einzelnen Ressort zugeschrieben werden. Für ein umfassendes Lagebild und abgestimmte Handlungsoptionen über alle zur Verfügung stehenden Instrumente des Regierungshandelns hinweg braucht es die Expertise, die Daten und Fakten, die Analyse sowie die Bewertung aller relevanten Ressorts und Akteure. Insgesamt könnte ein solcher Nationaler Sicherheitsrat somit die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers zur Verbesserung der strategischen Koordinierung, zur Erhöhung der operativen Führungsfähigkeit und zur ressortübergreifenden Koordination in Krisenlagen effektiv nutzen“. (S. 25-26)
Der GKND wird den weiteren Verlauf der Diskussion gerade auch im Vorfeld der Bundestagswahlen und Regierungsbildung mit großem Interesse verfolgen und sich, wo immer möglich, mit der Expertise seiner Mitglieder zu den Möglichkeiten und Grenzen nachrichtendienstlicher Unterstützung der sicherheits- und verteidigungspolitischen wie der militärischen Entscheidungs- und Planungsprozesse einbringen.
Dr. Hans-Dieter Herrmann
Vorsitzender