Personalgewinnung und Personalentwicklung - Eine „Mega-Herausforderung“ für Dienste, Regierung und Parlament
Stellungnahme zum Impulsvortrag von Frau Dagmar Busch, Abteilungsleiterin 7 im Bundeskanzleramt vor DGAP und GKND
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Dr. Gerhard Conrad
Zum Abschluss ihres Impulsvortrags am 30.06.2023 vor DGAP und GKND kam Frau Dagmar Busch, als Abteilungsleiterin 7 im Bundeskanzleramt zuständig für die Dienst- und Fachaufsicht über den BND und die Koordination der Nachrichtendienste des Bundes, auf ein Kernthema von strategischer Bedeutung für die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit der Dienste zu sprechen, das sie in besonderer Weise als „Mega-Herausforderung“ hervorhob:
„Das ist der Kampf um die besten Köpfe … Es ist gerade für die Nachrichtendienste eben weit mehr als das schon oft gehörte Schlagwort. Personalgewinnung und Personalentwicklung, eine individuelle Personalentwicklung, ist eine große Herausforderung für die Nachrichtendienste“.
Ergänzend fügte sie hinzu:
„Mitarbeiterbindung, aber lieber Attraktivität, sind die neuen Handlungsmaximen, die es den Nachrichtendiensten ermöglichen sollen, im Wettbewerb um die Talente überhaupt eine Chance zu haben. Wir brauchen die Besten der Besten für die Dienste. Ganz persönlich wünsche ich mir vor allem viele Kolleginnen und Kollegen, die offen und sensibel dafür sind, dass es noch andere als die Mercator Weltkarte gibt, Weltkarten, in denen Europa nicht der Mittelpunkt ist, und auf denen man sofort erkennen kann, dass die Entfernung zum Beispiel von Berlin nach Peking gar nicht viel weiter ist als die von Canberra nach Peking“.
Diese Aussagen betonen sehr eindrucksvoll eine auch in allen Bereichen des Wirtschaftslebens etablierte Erkenntnis:
„Das Wissen, die Qualifikationen, Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten der Mitarbeiter eines Unternehmens werden als einer der strategischen Produktionsfaktoren des 21. Jahrhunderts verstanden. Schnelllebigkeit und damit immer kürzer werdende Veränderungszyklen der Märkte, eine wachsende Komplexität und die zunehmende Digitalisierung machen es notwendig, mit optimierten Produktionsabläufen, adäquaten finanziellen Mitteln und entsprechend ausgebildetem Personal auf die gestiegenen Anforderungen zu reagieren. Kompetentes, veränderungsfähiges und veränderungsbereites Personal nimmt in diesem Kontext einen immer größeren Stellenwert ein“
Der strategische Produktionsfaktor Personal ist sachlogisch in gleicher Weise von vitaler Bedeutung für Verwaltungshandeln, ganz besonders auch in Bereichen, in denen es weniger um Verwaltungsvollzug im engeren Sinne als um Prozesse der intellektuellen Wertschöpfung, um die Produktion von handlungsbefähigendem Wissen als Entscheidungsgrundlage in Politik, Wirtschaft, Verteidigung oder Sicherheit geht. Gerade für die Nachrichtendienste gilt somit in besonderem Maße eine „Output-Legitimierung“: Entscheidend für Daseinsberechtigung und Mandat ist, ob sie ihren Abnehmern in Bundesregierung und Bundesbehörden zeitgerecht fachlich kompetente, thematisch wie operativ relevante nachrichtendienstliche Hinweise, Erkenntnisse, Lagefeststellungen und Lagebeurteilungen zur Verfügung stellen können. Dies sind die Leistungen, die auf der Grundlage eines „all sources“-Beschaffungs- und Analyseansatzes zu produzieren und zeitgerecht zur Verfügung zu stellen sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung dieser spezifischer Aufgabenstellung des Bundesnachrichtendienstes in seinem Grundsatzurteil vom 19. Mai 2020 sehr klar zum Ausdruck gebracht:
„Die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen (A.d.E.: d.h. die Aufklärung politisch oder militärisch relevanter Geschehensabläufe, aber auch die Frühaufklärung von Gefahren der internationalen Kriminalität, zu der auch der internationale Terrorismus gehört) hilft ihr, sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten, und kann folgenreiche Fehlentscheidungen verhindern. … In Frage steht mithin ein gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht.“
Hohe, breit und zuverlässig, quasi jederzeit abgreifbare spezifische Expertise bildet somit eine notwendige Voraussetzung für die geforderte Auftragserfüllung. Fachkompetenz bezieht sich damit sachlogisch nicht nur auf technische und prozedurale Fragen der Beschaffung, Aus-wertung und Berichterstattung; sie bezieht sich im Kern erst einmal notwendig auf die Inhalte aller Aufklärungs- und Beobachtungsgegenstände, die dem BND aufgetragen werden. Wer einen aufzuklärenden Sachverhalt nicht fachlich versteht und kontextualisiert, wird keinen relevanten Beitrag zu seiner Ergänzung, geschweige denn zu seinem vertieften, handlungsleitenden Verständnis im Detail leisten können.
Diese an sich banale Erkenntnis hat weitreichende personalwirtschaftliche Konsequenzen für einen Nachrichtendienst, in dem Fachkompetenz ein Produktionsfaktor von zentraler, konstitutiver Bedeutung ist. Kernaufgabe des Personalmanagements muss es hier sein, über Personalgewinnung, Personalentwicklung und Personaleinsatz kontinuierlich für ein auftragsgemäßes Maß an derartiger abrufbarer spezifischer Expertise in allen Aufgabenbereichen und Aufklärungsthemen Sorge zu tragen und die vorhandenen Ressourcen auch befähigungs- und zielgerecht bereitzuhalten. Es sind die Fachleute, die den Befähigungskern eines Dienstes und damit seine Relevanz und funktionale Legitimität als Element einer nationalen oder internationalen Sicherheitsarchitektur ausmachen.
So sehr der Blick bereits seit Jahren auf die MINT-Fächer gerichtet ist und auch weiterhin gerichtet sein muss, so sehr wäre eine Fokussierung nur auf diesen Bereich eine gefährliche Verkürzung. Natürlich kann kein Zweifel daran bestehen, dass abgesehen von den bekannten außergewöhnlichen Herausforderungen im IT-Bereich und Cyberraum (KI und Quantum-Computing) hervorragende technisch-wissenschaftliche Kompetenz in all ihren Ausdifferenzierungen eine Grundvoraussetzung für die wirksame Aufklärung und Analyse entsprechender Sachverhalte und Befähigungen ist, insbesondere, wenn diese über Proliferation oder Know How-Transfer über Spionage in den „falschen Händen“ liegen sollten.
Darüber hinaus gilt es jedoch, den Blick ebenso auf alle anderen Disziplinen zu richten, deren Beherrschung für sach- und methodenkompetente Arbeit in Beschaffung und Auswertung unabdingbar ist. Die als Anlage beigefügte generische und skizzenhafte Aufstellung soll hierbei nur das Spektrum der Wissensgebiete umreißen, auf die bei einem integrierten, regional wie thematisch orientierten Ansatz in ausreichenden Maße zurückgegriffen werden muss. Hierbei stechen sachlogisch zwingend insbesondere die regional-, kultur-, sprach- und gesellschafts-wissenschaftlichen Disziplinen hervor, die in Anlehnung an die Metapher von Frau Busch den analytischen wie praktischen Blick auf die Weltkarten richten müssen, in denen Europa nicht der Mittelpunkt ist. Der Bundesnachrichtendienst, so sieht es § 1 Absatz 2 des BND-Gesetzes vor, ist gehalten, Erkenntnisse über das Ausland zu gewinnen, Die sich hieraus sachlogisch ergebenden Konsequenzen für Sprach-, Fach- und Sachkunde des Personals und die diese wiederum berücksichtigenden Kriterien in Personaleinsatz, Weiterqualifizierung und Verwendungsaufbau sind offensichtlich. Expertise muss in ausreichendem Umfang akkumuliert und in den Produktionsprozess integriert werden. Lediglich symbolische Präsenzen einzelner Fachvertreter wären Staffage und würden über gefährliche Defizite in Qualität und Leistungsfähigkeit hinwegtäuschen. Expertise als zentrales Element des Betriebskapitals muss im Interesse von Leistungsfähigkeit und Produktqualität angemessen honoriert und gefördert werden.
In diesem Zusammenhang werden damit die vielfältigen personalwirtschaftlichen Dimensionen von Mitarbeiterbindung eine zentrale Rolle spielen müssen. Die von Frau Busch eindrucksvoll hervorgehobene Erkenntnis, dass im Zeichen der demographischen Entwicklungen außergewöhnliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um Substanzverlust durch Abwan-derung von Personal effektiv entgegenzuwirken, hat seit Jahren in allen Wirtschaftszweigen an Verbreitung gewonnen. Kernelemente von Strategien zur Vermeidung oder wenigstens Reduzierung von nicht intendierter Fluktuation sind hierbei eine gelungene, wertschätzende Personaleinsatzplanung, die spezifische Qualifikationen, Befähigungen und Interessen der Mitarbeitenden erkennt und sie angemessen berücksichtigt. Es kommt im Interesse von Produktivität und Mitarbeiterbindung entscheidend darauf an, dass die Beschäftigten entsprechend ihrer Fähigkeiten und Qualifikation eingesetzt werden und dies auch so empfinden. Wertschätzung im Umgang mit den Mitarbeitenden ist hier ebenso erforderlich wie Transparenz, Kommunikation und bestmögliche Planungssicherheit.
Betriebs- und personalwirtschaftlich unstrittig ist hier, dass im Zentrum eine auf Qualität und Qualifikation abhebende Personaleinsatzplanung und Personalentwicklungsplanung stehen müssen, bis hin zur Einrichtung und Ausplanung von Fachkarrieren. Zu Recht wird im Schrifttum auf den Umstand verwiesen, dass die große Mehrheit aller Erwerbstätigen als Fachkräfte arbeite, deren Engagement angemessen zu würdigen sei, gerade auch im Hinblick auf eine gelingende Mitarbeiterbindung: Fachkarrieren böten einen strukturierten Entwicklungsweg über verschiedene Fachkarrierestufen. Mit der Entwicklung in höhere Fachkarrierestufen nehme der Anspruch an die Tätigkeit zu, ebenso die Anforderungen an persönliche, soziale und unternehmerische Kompetenzen. Fachkarrieren ersparten vielen Expert:innen eine innere Zerreißprobe, da die besten Expert:innen nicht mehr Führungskraft werden müssten. Sie seien attraktiv für potenzielle Bewerber:innen auf dem umkämpften Fachkräftemarkt. Zudem seien sie spannend für die Mitarbeiterbindung, da sie ein klar definiertes und anspruchsvolles Entwicklungsangebot schafften.
Sollte Expertise angesichts der sich absehbar immer weiter verschärfenden Lage am Arbeitsmarkt nicht in erforderlichem Umfang einzuwerben sein, werden alternative Verfahren zum Kompetenzaufbau in den ersten Jahren der dienstlichen Verwendung zu konzipieren und vorzuhalten sein. Derartige Maßnahmenpakete müssen administrativ wie budgetär (!) bereits heute entwickelt werden, um im Bedarfsfall zeitgerecht umsetzbar zu sein. An eine perspektivische, den Qualitätsansprüchen gerecht werdende Personalkonzeption und Einsatz- und Entwicklungsplanung werden hohe Ansprüche anzulegen sein. Es handelt sich hier in der Tat um eine „Mega Herausforderung“. Entsprechend ambitioniert werden auch die Maßnahmen zu ihrer Bewältigung sein müssen. Aufbau- oder Ablauforganisation allein kann einen möglichen Mangel an Substanz nicht kompensieren. Die Summe qualitativer Defizite bleibt bekanntlich von ihrer jeweiligen organisatorischen Zuordnung weitgehend unberührt.
Mit der Forderung nach Attraktivität des Dienstes als Arbeitgeber benennt Frau Busch schließlich eine Herausforderung von besonderer Bedeutung, der sich jedes Unternehmen im Interesse seines wirtschaftlichen Erfolgs und Überlebens stellen muss, das sogenannte „Employer Branding“. Hierzu zählen jedoch nicht nur an den möglichen Bedürfnissen der Generation Z orientierte Arbeitsbedingungen, sondern zunächst einmal das allgemeine Ansehen (Image) eines Arbeitgebers. Das Image einer Firma, ihrer Produkte und ihrer Position am Markt ist maßgeblich sowohl für ihre Attraktivität am Arbeitsmarkt im Rahmen der Personalgewinnung als auch für Mitarbeiterbindung und -motivation. Imagebildung und Imageentwicklung („Branding“) für Produkte und Firma („Corporate Image“) sind nicht trivial. Sie werden von allen Unternehmen als eine Kernaufgabe des Managements betrachtet. Hierbei kommt es entscheidend nicht nur auf eine professionell präsentierte Eigenwahrnehmung an; ganz wesentlich ist es auch, dass ein qualifiziertes Feedback des Marktes zur Bedeutung des Unternehmens und seiner Produkte eingeholt und breitenwirksam kommuniziert werden kann. All diese sozialpsychologischen Phänomene und Prozesse gelten dem Grunde nach in gleicher Weise für staatliche Stellen. In Bezug auf den Bundesnachrichtendienst bedeutet dies, dass hier neben dem Dienst selbst sowohl die jeweilige Bundesregierung als auch der Bundestag und die in ihm vertretenen Parteien in ihrer Rolle als „Kunden“ und „Geschäftspartner“ in der Pflicht stehen, im Interesse funktionaler und erfolgreicher Strukturen der ihnen anvertrauten nationalen Sicherheitsarchitektur die Relevanz und Aufgaben des Dienstes wie den Beitrag seiner Angehörigen in der gebotenen Nachdrücklichkeit und Nachhaltigkeit in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Bemühungen des Dienstes allein können hier nicht ausreichen, wenn sie nicht ihre Entsprechung in der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und dem parlamentarischen Feedback findet. Hierfür werden auch die erwähnten bedeutsamen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts allein nicht ausreichen können, wenn sie nicht in breitenwirksamer und allgemeinverständlicher Weise im politischen und medialen Raum aufgegriffen werden. Wer den Dienst in erster Linie als Objekt von Einhegung, Kontrolle und Kritik präsentiert, wer einer allgemeinen und undifferenzierten Perzeption von Diensten als inhärent demokratiefremd und missbrauchsaffin Vorschub leistet, muss sich nicht darüber wundern, geschweige denn darüber klagen, dass Bewerberzahlen möglicherweise rückläufig sind und Mitarbeiterbindung sowie Motivation eventuell zu wünschen übrig lassen. Die personalwirtschaftliche „Mega Herausforderung“ des Dienstes wird sich nur bewältigen lassen, wenn hier ein bewusster und nachhaltiger Paradigmenwechsel in der Präsentation des Dienstes in der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und seiner öffentlichkeitswirksamen Diskussion in den parlamentarischen Gremien erfolgt. Der gerne als Totschlagsargument eingebrachte Verweis auf Geheimhaltungsbedürftigkeit geht hier fehl wie bereits das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 zeigt: Es geht um die Kontextualisierung des Dienstes, seiner Aufgaben und um die Würdigung seiner Arbeit, nicht um die Verbreitung geschützter Sachverhalte. Andere Staaten machen uns das seit Jahren vor. Wie Imagebildung durch breit angelegte Kontextualisierung und Information in Angriff genommen und gestaltet werden kann, erhellt aber auch ein Blick auf die massiven Bemühungen der Bundeswehr und des Bundesministeriums der Verteidigung und damit der Bundesregierung. Die bekanntlich verbreitete Praxis, sich in der Thematik der Nachrichtendienste nur über berechtigte, vielfach auch unberechtigte und interessengeleitet pointierte Kritik zu profilieren, ansonsten aber in erster Linie zu schweigen, beschädigt Institutionen, an deren Funktionsfähigkeit und wirksamer Aufgabenerfüllung ein „überragendes öffentliches Interesse“ besteht. Politische Legitimität und damit auch gesellschaftliche Akzeptanz, Anerkennung und Attraktivität als Arbeitgeber und Dienstherr werden nicht durch Kontrolle allein geschaffen: Sie basieren primär auf einem verfassungsrechtlich und politisch klar definierten und in seiner Bedeutung ebenso glaubhaft wie verständlich kommunizierten Auftrag, einer erkennbaren, durch Regierungs- und Verwaltungshandeln zu schaffenden, auf-rechtzuerhaltenden und im Hinblick auf künftige existenzielle Herausforderungen weiterzuent-wickelnden Befähigung zu dessen Erfüllung und erst auf dieser Grundlage auf einer wirksamen parlamentarischen und administrativen Kontrolle. Wo keine Substanz ist, bedarf es auch keiner Kontrolle. Erforderlich ist mithin – wie in allen anderen Fällen staatlicher Aufgabenerfüllung auch – die gleichberechtigte Wahrnehmung und Kommunikation aller drei aufeinander aufbauenden Handlungs- und Verantwortungsebenen: Öffentliche Wertschätzung der Institution und ihrer Angehörigen in ihrem verfassungsrechtlich legitimierten Auftrag, Förderung ihrer Funktionsfähigkeit im gesamtstaatlichen Interesse und natürlich die in ihrer Umsetzung wirksam zu kontrollierende Forderung an den Dienst, seinen Aufgaben mit größtmöglicher Professionalität und in Wahrung der ihm auferlegten gesetzlichen Schranken nachzugehen. Hierbei wird es mit gelegentlichen Stellungnahmen und Botschaften ohne mediale Breitenwirkung nicht getan sein. Wer im Interesse der Zukunftsfähigkeit der Dienste über Jahre im öffentlichen Raum gepflegtes negatives und damit ebenso ungerechtfertigtes wie in der Sache schädliches „Branding“ ändern will (und muss), wird um eine langfristig und breit angelegte, politisch erkennbar indossierte Aufklärungs- und Imagebildungskampagne nicht herumkommen. Das ist im öffentlichen Dienst nicht anders als im Wirtschaftsleben und wird bekanntlich im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung weithin praktiziert – nur eben nicht im Bereich der Nachrichtendienste und hier in Sonderheit des Bundesnachrichtendienstes.
Einschlägig fachlich ausgebildetes und im weiteren Berufsleben konsequent weiterqualifiziertes, sachkundiges, methodisch versiertes, passgenau eingesetztes und hochmotiviertes Personal für alle Aufklärungs- und Analysebereiche ist die Kernsubstanz und damit Top-Priorität eines Nachrichtendienstes. Sie wird absehbar nicht ohne einen politisch einzuleitenden und zu indossierenden Paradigmenwechsel in Personalgewinnung und Personalführung ebenso wie in Öffentlichkeitsarbeit und Imagebildung zu bewältigen sein. Am Umgang mit dieser „Mega-Herausforderung“ und ihren geschilderten Implikationen werden in den kommenden Jahren Regierung und Politik zu messen sein.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad
Fach- und Sachkompetenz nachrichtendienstlicher Aufklärung, Analyse und Berichterstattung
Die Wissensbasis eines Nachrichtendienstes muss in ihrem Inhalt, ihrem Detaillierungsgrad, ihrer Aktualität, Struktur und Verfügbarkeit die zeit- und sachgerechte Beantwortung politisch- oder militärisch-operativer Fragen in den jeweils geforderten Meldungs- und Berichtsformaten ermöglichen. Sie muss die Grundlage und den Interpretationsrahmen bieten, auch aktuell noch unbekannte Sachverhalte und breaking news zumindest fachlich/sachlich in ihrer Relevanz einzuordnen und qualifizierte erste Annahmen als mögliche Ausgangspunkte für erste Entscheidungen/Handlungsoptionen anzubieten.
Nachrichtendienstliche Beschaffung dient dazu, das entscheidungsrelevante Unbekannte in Erfahrung zu bringen. Notwendige Voraussetzung und Ausgangspunkt für gezielte und sachlich relevante Beschaffung ist somit eine optimale Basis an bereits etabliertem Wissen: Es ist das Wissen um den „Forschungsstand“, das es überhaupt erst ermöglicht, Lücken im Kenntnisstand nach Art, Umfang und Qualität zu erkennen, mögliche kognitive und methodische Ansatzpunkte für ihre Schließung zu entwickeln, Beschaffungsergebnisse fachlich kompetent in ihrer Validität und Relevanz einzuordnen und gegebenenfalls entsprechend gesondert oder in einem Gesamtkontext der Berichterstattung weiterzugeben.
Hieraus ergibt sich notwendig ein breites, an den Aufklärungsgegenständen orientiertes Spektrum von Disziplinen und Betrachtungsebenen, das in einem Nachrichtendienst in auftragsadäquatem Umfang auf entsprechendem Niveau so breit wie möglich vertreten sein muss. Fachliche Exzellenz muss gelebter, ebenso konsistent wie nachhaltig angestrebter und personalwirtschaftlich nachprüfbar implementierter Anspruch sein, nicht Lippenbekenntnis:
1) Geographie, Topographie (Physische Geographie und Humangeographie)
1.1) Physische Geographie: Natürliche Bestandteile und Strukturen der Erdoberfläche (Biogeographie [Vegetationsgeographie, Geoökologie, Landschafts-/Stadtökologie, Hydrogeographie, Klimageographie/Klimatologie)]
1.2) Humangeographie: Einfluss des Menschen auf den geographischen Raum, als auch mit dem Einfluss des Raums auf den Menschen (Sozialgeographie, Kulturgeographie als Kerngebiete, politische Geographie/Geopolitik/Militärgeographie, Bevölkerungsgeographie, Bildungsgeographie, Religionsgeographie; Siedlungsgeographie, Geographie des ländlichen Raumes, Stadtgeographie, Verkehrsgeographie; Wirtschaftsgeographie/ Agrargeographie/ Industriegeographie/Handelsgeographie/Tourismusgeographie).
1.3) Geoinformatik: Entwicklung, Erstellung und Pflege von geographischen Informationssystemen (GIS): Mit ihnen werden räumliche Daten gesammelt, verarbeitet, ausgewertet und kartografisch dargestellt. Digitale Kartografie; Fernerkundung: Satelliten- oder luftfahrtgestützte Beobachtung der Erde mit Hilfe elektromagnetischer Strahlung, die von Sensoren erfasst wird. Modellierung: Idealisierte Nachbildung realer Phänomene, um Prognosen zu erstellen (z. B. Klima- oder Abflussmodelle).
2) Politikwissenschaft: Erforschen politischer Prozesse, Strukturen und Inhalte sowie den politischen Erscheinungen und Handlungen des menschlichen Zusammenlebens. Politische Theorie (einschließlich Politische Philosophie und Ideengeschichte), Vergleichende Politikwissenschaft (früher Vergleichende Regierungslehre oder Vergleichende Analyse politischer Systeme), Internationale Beziehungen (einschließlich Internationale Politik). Institutionelle, prozedurale, sachlich-materielle und politisch-kulturelle Gesichtspunkte. Ein besonderes Augenmerk richtet die moderne Politikwissenschaft auf die Frage, wie staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure agieren, wie politische Entscheidungsprozesse ablaufen, wie Machtverhältnisse entstehen und auf gesellschaftliche Strukturen einwirken.
3) Wirtschaftswissenschaften: Untersuchungsgegenstände sind Produktion, Verteilung und Konsum von Gütern und Dienstleistungen. Mikroökonomie analysiert grundlegende Ele-mente der Wirtschaft, einschließlich einzelner Agenten (Haushalte, Firmen, Käufer und Verkäufer und Märkte), ihrer Interaktionen und der Ergebnisse von Interaktionen. Makroökonomie analysiert die Wirtschaft als Gesamtsystem, in dem Produktion, Konsum, Sparen und Investitionen interagieren, sowie Faktoren, die sie beeinflussen. Darüber hinaus: Inflation und Wirtschaftswachstum und staatliche Maßnahmen, die sich darauf auswirken. Finanzwissenschaft (public finance) ist ein Bereich der Wirtschaftswissenschaft und beschäftigt sich mit der Rolle der Regierung in der Ökonomie. Öffentliche Finanzen und die staatlichen Auswirkungen auf die effiziente Allokation verfügbarer Ressourcen, die Einkommensverteilung der Bürger und die Stabilität der Wirtschaft.
4) Geschichtswissenschaften: Methodisch gesicherte Erforschung und Rekonstruktion von Aspekten der Menschheitsgeschichte oder Geschichte auf der Basis einer kritisch analysierten und interpretierten Überlieferung (Quellen) unter einer spezifischen Fragestellung. Wichtige Teilgebiete sind: Politikgeschichte, Sozialgeschichte, Rechtsgeschichte, Militärgeschichte, Kulturgeschichte, Mediengeschichte, Geschlechtergeschichte, Bildungsgeschichte, Ideengeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Technikgeschichte.
5) Soziologie: Alle Aspekte des sozialen Zusammenlebens der Menschen in Gemeinschaften und Gesellschaften. Sinn und Strukturen des sozialen Handelns (Handlungstheorie), Handlungen regulierende Werte und Normen. Gesellschaft als Ganzes wie ihre Teilbereiche: soziale Systeme, Institutionen, Organisationen und Gruppen. Gesellschaftliche Integration und Desintegration, soziale Ungleichheit, soziale Konflikte und sozialer Wandel. Sozialstrukturen, Arbeit, Geschlechter, soziale Netzwerke, Gruppen, Kommunikationsmittel (Massenmedien), Migration, Alltag, Technik und Lebenswelt. Sozialpsychologie.
6) Religionswissenschaften: Inhalte/Lehren mit Schwerpunkt auf hierdurch beeinflusste soziale Realitäten, Strukturen, Werteordnungen, Zielorientierungen, Abgrenzungen, Handlungsleitungen. Religionsgeschichte, Religionsphänomenologie, Religionssoziologie, Religionspsychologie, Religionsethnologie, Religionsökonomie, Religionsgeographie.
7) Kulturwissenschaften: Hochkultur und alle anderen Bereiche kulturellen Lebens; Massenmedien, schriftliche Überlieferung und alle kulturellen bildlichen Formen, d. h. per-formative Akte, Körperfiguren, Rituale und Habitus, kulturelles Gedächtnis als Geschriebenes, aber auch alle Verkörperungen und Einbettungen von Kultur, Wanderungsbewegung der kulturellen Formen und Symbole über historische und ethnische Grenzen hinweg, Vermeidung von Eurozentrismus.
8) Rechtswissenschaften: Rechtsordnungen in ihren Auswirkungen auf die Lebensrealitäten und gesellschaftlichen normativen Orientierungen, Handlungsmaximen, Begrifflichkeiten und Verfahrensweisen.
9) Kriminologie: Lehre von den Ursachen (Kriminalätiologie) und Erscheinungsformen (Kriminalphänomenologie) der Kriminalität. Kriminologie bedient sich verschiedener Bezugswissenschaften wie Rechtswissenschaften und Psychiatrie, Soziologie und Pädagogik, Psychologie, Ethnologie und Anthropologie, sowie in den letzten Jahrzehnten verstärkt der Wirtschaftswissenschaft, um die Erscheinungsformen der Kriminalität zu beschreiben bzw. zu untersuchen. Kriminalsoziologie. Kriminalsoziologische Kulturkonflikttheorie, anfangs hauptsächlich auf amerikanische Einwanderer-Kriminalität aus der Zwischenkriegszeit bezogen und an die Forschungsergebnisse der Chicago School anknüpfend. Heute wird dieser Ansatz unter anderen auf die kriminalsoziologische Analyse der jihad-salafistischen Subkultur in Deutschland angewandt.