Notstandsgesetzgebung und Nachrichtendienste
Anmerkungen zur Diskussion auf dem 5. Symposium zum Recht der Nachrichtendienste vom 21.-22.03.2024
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Dr. Gerhard Conrad
Das erneut von BMI und Bundeskanzleramt veranstaltete 5. Symposium zum Recht der Nachrichtendienste stand in diesem Jahr im Zeichen der nur zu aktuellen Fragestellung nach Funktionalität und Rechtsstellung von Nachrichten- und Sicherheitsdiensten in bewaffneten Konflikten. In zahlreichen Vorträgen wurden grundsätzliche Aspekte dieses Themenbereiches ausgeleuchtet, so insbesondere:
Der Bundesnachrichtendienst als militärischer Nachrichtendienst,
Militärisches Nachrichtenwesen, BND und BAMAD in der deutschen Sicherheitsarchitektur,
Nachrichtendienste im Spannungs-, Verteidigungs- und Bündnisfall
Nachrichtendienste in bewaffneten Konflikten
Das BAMAD und der BND im Auslandseinsatz
Der MAD in den Einsatzgebieten des Bundeswehr
Hybride Bedrohungen, Nachrichtendienste und Völkerrecht
Aufklärung von Cyberangriffen durch Nachrichtendienste
Aufklärung und Abwehr von Desinformationskampagnen als Aufgabe des Verfassungsschutzes
Sabotageschutz nach der Zeitenwende: Neue Befugnisse für alte Gefahren?
Spionageabwehr als Staats- und Verfassungsschutz
Militärische Konflikte als Schmelztiegel staatlicher Sicherheitsinteressen
Den Beiträgen in einem in Aussicht gestellten Tagungsband kann hier nur mit großem Interesse und in Anbetracht der sicherheitspolitischen Lage in der dezidierten Hoffnung auf baldige Veröffentlichung entgegengesehen werden.
Nachrichtendienste im Spannungs-, Verteidigungs- und Bündnisfall
In einem Beitrag zu den Nachrichtendiensten im Spannungs-, Verteidigungs- und Bündnisfall konnte Prof. Dr. Robert Frau von der TU Bergakademie Freiberg eindrucksvoll auf den Umstand hinweisen, dass in der Notstandsgesetzgebung von 1968 wie auch ihrer partiellen Weiterentwicklung die Nachrichtendienste des Bundes und der Länder keine Erwähnung finden. Aus dieser Feststellung entwickelte sich eine Diskussion, ob es besonderer rechtlicher Regelungen für diese Dienste im Spannungs- und Verteidigungsfall überhaupt bedürfte, oder ob sich mögliche Konsequenzen nicht de lege lata ableiten ließen. Im Rahmen dieses Meinungsaustauschs wurde auch die Frage laut, ob es einer solchen Betrachtung überhaupt bedürfe, da die Dienste ja dann ihre strategische Frühwarnfunktion verloren haben könnten und damit das Kind quasi bereits „in den Brunnen gefallen“ sei.
Ohne dem zweifellos notwendigen juristischen Diskurs vorgreifen zu können und zu wollen, soll hier aus fachlicher Sicht auf einige wesentliche Sachverhalte hingewiesen werden, die bei den anstehenden Überlegungen nicht außer Acht gelassen werden sollten.
Es kann ja nun bereits bei einer vorläufigen Betrachtung nicht ernstlich behauptet werden, dass den Nachrichtendiensten im Spannungs- und Verteidigungsfall keine Aufgaben mehr zukämen, da ihre Frühwarnfunktion versagt habe. Abgesehen davon, dass dies im Einzelfall überhaupt erst einmal festzustellen bliebe, würde eine solche Betrachtungsweise die Kernaufgaben der Dienste grundsätzlich verkennen.
Ganz im Gegenteil müssten – wie ja auch bei der Bundeswehr – bereits im Spannungsfall, geschweige denn im Bündnis- und Verteidigungsfall ganz erhebliche zusätzliche Ressourcen eingesetzt werden, um im Verbund mit den Partnern ein Maximum und Optimum an lagerelevanten und zeitgerechten nachrichtendienstlichen Hinweisen und Erkenntnisse für die Entscheidungsfindung von Bundesregierung, Landesregierungen, Streit- und Sicherheitskräften und anderen relevanten Behörden in allen ihren Zuständigkeitsbereichen zu gewinnen. Der Akzeleration, Eigendynamik und Komplexität von Ereignissen bereits im Spannungsfall muss umfassend Rechnung getragen werden, um den politischen, administrativen wie militärischen Entscheidungsträgern ein bestmögliches Lageverständnis als Grundlage für ihre Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zur Verfügung stellen zu können. Lagefeststellung und Lagebeurteilung würden in einer dynamischen Entwicklung in immer rascheren Zyklen zu bewältigen sein; die Nachrichtendienste aller betroffenen Staaten wären damit hier in besonderer Weise und in besonderem Maße gefordert.
Elementare Informations- und Bewertungsbedarfe im Spannungs- und Verteidigungsfall
Von elementarer Bedeutung sind in Entscheidungsprozessen zu Krise und Konflikt grundsätzlich bestmögliche und zeitgerechte valide nachrichtendienstliche Hinweise und Erkenntnisse
Zu den Potentialen und Absichten des Gegners/der Gegner.
Zu Indikatoren für militärische und nichtmilitärische offensive Maßnahmen.
Zur Haltung und zum Verhalten von Verbündeten des Gegners.
Zur Haltung und zum Verhalten von geopolitisch involvierten Akteuren.
Zur Haltung und zum Verhalten von geopolitisch nicht direkt betroffenen relevanten Akteuren.
Zur Entwicklung der militärischen Lage innerhalb wie außerhalb des Einsatzgebiets der jeweils eigenen Kräfte.
Zur Entwicklung der Sicherheitslage in sicherheitspolitisch relevanten Staaten und Regionen und ihrer Relevanz für die Sicherheitslage des betroffenen Landes und seiner Verbündeten.
Zur Sicherheit und Leistungsfähigkeit von nationaler kritischer Infrastruktur wie von Versorgungs- und Kommunikationswegen (Unterseekabel) auf globaler und regionaler Ebene.
Zur Lage im Weltraum, insbesondere in Bezug auf Satellitenkommunikation und Navigation.
Zur globalen wie nationalen Bedrohungslage aus dem und im Cyberraum.
Zur allgemeinen Sicherheitslage und ihrer Bedrohung durch Spionage, Sabotage und Subversion.
Zur personellen und materiellen Sicherheit der Streit- und Sicherheitskräfte.
Bereits diese kursorische, keineswegs mit Anspruch auf Vollständigkeit präsentierte Aufstellung sollte ausreichend verdeutlichen, dass sich die Nachrichtendienste aller Staaten und so auch Deutschlands im Spannungs- und Konfliktfall grundsätzlich mit einer veritablen Explosion an zeitkritischen Anforderungen konfrontiert sehen, die es im Interesse des eigenen Überlebens bestmöglich zu meistern gilt. Für Deutschland bedeutete dies, dass hier kein grundsätzlicher Unterschied zu einer Situation dramatisch erhöhter Anforderungen besteht, in der sich die Bundeswehr im Spannungs- und Verteidigungsfall wiederfinden würde.
Organisatorische und regulatorische Herausforderungen
Sachlogisch würden sich aus dieser Konstellation auf jeden Fall die folgenden Ansatzpunkte für eine fachliche wie rechtliche Prüfung ergeben:
Mit massiv erhöhten personellen Präsenzpflichten in allen sachlich und fachlich betroffenen Bereichen muss im Spannungs- und Verteidigungsfall gerechnet werden. Krisen erfordern anhaltende 24/7-Arbeits- und Dienstzeiten, die mit einer Verdreifachung des Personalbedarfs in den Kernbereichen einhergehen, soll deren Durchhaltefähigkeit auf längere Sicht hin gewährleistet werden. Durch interne Umschichtungen sind derartige Anforderungen in der Regel auf Dauer nicht zu leisten. Im Übrigen ergäben sich jedoch bereits bei längerfristigen internen Maßnahmen aller Wahrscheinlichkeit erste Regelungsnotwendigkeiten im Bereich von Status- und Besoldungs-/Vergütungsrecht sowie Arbeitszeitverordnungen. Potentiell betroffen wären von diesen Maßnahmen grundsätzlich alle thematisch relevanten nachrichtendienstlichen Kernbereiche wie etwa die Beschaffung (technische/menschliche Quellen, Auslandspositionen, Verbindungsstäbe), Meldungsbearbeitung, Auswertung (militärisch-taktisch, politisch, hybride Bedrohungspotentiale) und verzugslose Berichterstattung an die jeweils zuständigen Stellen von Bundesregierung, Landesregierungen, Bundeswehr und andere Sicherheitsorgane. Erhebliche Personalzuwächse wären auch für die unterstützenden administrativen Funktionen bis hin zu den Kräften der Eigensicherung vorzusehen. Hierbei wären ebenfalls mögliche Bedarfe für jene Objekte zu berücksichtigen, die gegebenenfalls als Ausweichsitze im In- oder Ausland vorzubereiten, bereitzuhalten und zu beziehen sein würden. Für alle derartigen sachlogisch in Betracht zu ziehenden Aufgaben wird zu prüfen sein, inwieweit Rechtsgrundlagen und Durchführungsvorschriften im Rahmen der Beamtengesetzgebung für die Verschiebung von Regelaltersgrenzen für Pensionierung oder Reaktivierung im Rahmen von Dienstverpflichtungen oder der Einrichtung von Personalreserven etwa in Anlehnung an das Reservistengesetz und in Ergänzung oder Weiterentwicklung des Arbeitssicherstellungsgesetzes geschaffen werden müssten.
Spätestens im Spannungsfall wären zudem umfassende Maßnahmen zur erhöhten Eigensicherung gerade auch der Nachrichten- und Sicherheitsdienste erforderlich, insbesondere auch der Bezug von Auflockerungsräumen und sicheren Liegenschaften im Inund Ausland. Diese müssen bereits zuvor ermittelt und ggf. ausreichend vorbereitet/ausgestattet sein. Ihr rascher Bezug müsste mit ausreichendem Transportraum möglich sein. Sichere Kommunikation müsste technisch und infrastrukturell vorbereitet oder neu installiert werden. Daraus ergäbe sich – wie bei Bundeswehr und anderen Bereichen von Bundes- und Landesregierungen – ein massiv erhöhter spezifischer Bedarf der Dienste an Liegenschaften, Wagenpark und Transportraum, IT und Kommunikationstechnik. Hier wird eine Überprüfung des Bundesleistungsgesetzes auf Anwendbarkeit für die Belange der Nachrichtendienste und gegebenenfalls eine Anpassung oder Weiterentwicklung der Bestimmungen in Bezug auf die im Einzelnen zu definierenden spezifischen Bedarfe der Nachrichtendienste erforderlich werden.
Massiv erhöhte Anforderungen wären in Zeiten von Krise und Konflikt auch an die Handlungsfähigkeit der Dienste und insbesondere die Zeitgerechtigkeit ihrer Maßnahmen zu stellen. Letztlich zeichnet sich ja bereits der Spannungsfall, geschweige denn Bündnis- oder Verteidigungsfall, durch eine Lage aus, in der die verfahrens- und ein-griffsrechtlichen Kategorien der „Gefahr im Verzuge“ und der „Abwehr einer unmittelbaren Gefahr“ zumindest in ihrer begrifflichen Substanz bereits im Vorfeld der eigentlichen Kampfhandlungen handlungsleitend für Nachrichtendienste sein müssten. Hier ginge es dann nicht mehr um langfristig angelegte strategische Aufklärung und Frühwarnung sondern um zeitkritische Beiträge zur Gefahrenabwehr und Prävention. Neben den hier zwingend erforderlichen personellen und materiellen Voraussetzungen würden damit auch die rechtlichen Mandatierungen und Kontrollmechanismen der Dienste anzupassen sein. Stark vereinfacht betrachtet, ginge es im Verfahrensablauf hier nicht mehr um Monate oder Wochen, sondern tendenziell um Tage, Stunden oder um noch kürzere Zeitspannen, innerhalb derer nachrichtendienstliche Aufklärung und Abwehr konzipiert, genehmigt, eingeleitet und lageabhängig modifiziert werden müssten, um überhaupt noch die erforderliche Wirksamkeit und Relevanz zu entfalten. Dieser Zwang zum zeitgerechten und entschiedenen Handeln wird den Streitkräften in ihrer Operationsführung gemeinhin zugebilligt; er besteht jedoch in mindestens gleicher Weise auch für die Nachrichten- und Sicherheitsdienste, die letztlich die elementare Unterstützungsfunktion der möglichst frühzeitigen Aufklärung gegnerischer Maßnahmen zu bewältigen haben. Zeitgerechtigkeit ist eine Grundvoraussetzung wirksamer Gefahrenabwehr. Unter ihrem Primat müssen die Handlungsoptionen und Mandatierungen der Dienste bereits grundsätzlich stehen, mehr aber noch im Spannungs- und Verteidigungsfall. Für diesen wird somit eine umfassende Optimierung/Straffung bestehender rechtlicher und administrativer Regelungen zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel durch die Nachrichtendienste von Bund und Ländern im Rahmen einer „Vorratsgesetzgebung“ ins Auge zu fassen sein. Mit den Mitteln und Verfahren eines gelassenen, skrupulöser Verhältnismäßigkeit und Achtsamkeit verpflichteten, Friedensbetriebs werden sich zugespitzte Bedrohungs- geschweige denn Konfliktlagen nicht bewältigen lassen.
Zeitenwende beginnt im Kopf, muss dann aber auch realisiert werden
Diese eher kursorischen Hinweise sollten verdeutlichen, dass es aller Wahrscheinlichkeit einen erheblichen Bedarf an vorausschauenden fachlichen Dispositionen und Eventualfallplanungen wie an den sich hieraus ergebenden rechtlichen Angleichungen oder Neuregelungen geben dürfte. Ob hierbei Nachrichtendienste jeweils explizite Erwähnung finden müssen, oder ihre Belange im Rahmen von Regelungen für die Geschäftsbereiche ihrer vorgesetzten obersten Bundes- oder Landesbehörden eine angemessene normenklare Berücksichtigung erfahren können, sei hier erst einmal dahingestellt. Wesentlich ist – wie stets – ein tragfähiges und operables Ergebnis.
Hier wird nunmehr im Interesse der aktuell vielbeschworenen Handlungsfähigkeit, Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit ohne allzu großen Verzug zu planen und zu handeln sein.
In diesem Zusammenhang ermutigt, dass auf dem Symposium sehr klare Worte zur fundamentalen Bedeutung der Nachrichtendienste und ihrer Leistungsfähigkeit für Sicherheit und Selbstbehauptung gesprochen wurden, die es den epochalen Herausforderungen anzupassen gelte. Keinen Zweifel hieran ließen weder das PKGr-Mitglied MdB Dr. Irene Mihalic noch die Abteilungsleiterin 7/Bundeskanzleramt, Frau Dagmar Busch, wie auch die Leiter der Nachrichtendienste auf einer Paneldiskussion und – last but not least – Prof. Dr. Sönke Neitzel (Universität Potsdam) in einer Keynote zum Dinner am ersten Abend. Grundsätzlicher Konsens scheint hier inzwischen erreicht zu sein, dass es eben nicht nur bei der Bundeswehr erheblicher Anstrengungen bedürfe, sich wirksam und mit Aussicht auf Erfolg auf die neuen Bedrohungen einzurichten. Befähigung wie Mandatierung der Nachrichtendienste seien hier in gleicher Weise den neuen Umständen anzupassen. Auch vor rechtlichen Konsequenzen bis hin zu einer erneuten Betrachtung gesetzgeberischer Maßnahmen dürfe man hier nicht Halt machen.
Es bleibt mithin zu wünschen, dass diese Haltung sich noch in dieser Legislaturperiode in tragfähigen Maßnahmen und regulatorischen Entscheidungen manifestieren möge.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad