Antisemitismus im verfassungsfeindlichen Spektrum Berlins
Vortrag von Herrn Michael Fischer, Leiter der Abteilung II (Verfassungsschutz) der Senatsverwalung für Inneres und Sport
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Dr. Gerhard Conrad
Am 11. April 2024 konnte der Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland den Leiter des Berliner Verfassungsschutzes, Herrn Michael Fischer, zu einem Vortrags- und Diskussionsabend im Rahmen eines internen „sicherheitspolitischen Stammtischs“ begrüßen. Thema des Abends war das mehr denn je akute Phänomen des Antisemitismus als verfassungsfeindliche Ideologie. Der GKND dankt Herrn Fischer in besonderem Maße für die Überlassung seines Manuskripts als Anhaltspunkt und Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen.
Eingangs verwies Herr Fischer auf den Umstand, dass Antisemitismus und der Hass auf Israel bedauerlicherweise Konstanten seien, mit denen sich Verfassungsschutzbehörden seit langen immer wieder in den verschiedensten Erscheinungsformen und Konstellationen zu befassen hätten. Die jüngsten Vorkommnisse, zu denen es seit dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres auch auf Berliner Straßen, an Universitäten, Schulen und Kultureinrichtungen gekommen sei, belegten die anhaltende Bedeutung des Phänomens.
Schon seit Jahren seien antisemitische und israelfeindliche Stereotype – in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität – feste Bestandteile praktisch aller verfassungsfeindlichen Ideologien.
1. Rechtsextremimus
Im rechtsextremistischen Spektrum, zu dessen ideologischem Kernbestand der Antisemitismus gehöre, seien alle Erscheinungsformen des Antisemitismus verbreitet. Sie reichten von Formen des sozialen, nationalistischen und rassistischen Antisemitismus bis hin zu sekundärem und israelbezogenem Antisemitismus. Verbreitung fänden sie aktuell vor allem in diversen Internetforen.
Hier hätten sich insbesondere Verschwörungserzählungen zu einem zentralen Instrument der Verbreitung antisemitischer Stereotype entwickelt. Vorstellungen einer vermeintlichen „geheimen jüdischen Weltverschwörung“ - umschrieben mit Codes wie „Globalisten“, „Hochfinanz“ oder „Z.O.G.“ kursierten hier in ganz unterschiedlicher Ausgestaltung. Das Attentat von Halle am 9. Oktober 2019 habe gezeigt, dass aus diesen Wahnvorstellungen konkrete Gewalt erwachsen könne. Der Attentäter habe sich bei seinem Mord an zwei Menschen und dem Versuch, gewaltsam in die dortige Synagoge einzudringen, auch auf antisemitische Verschwörungserzählungen bezogen.
Das zweite Feld, auf dem sich der Antisemitismus der rechtsextremistischen Szene regelmäßig zeige, seien Aussagen, die sich auf die Shoa, den Holocaust, bezögen. So werde bekanntlich in der Szene seit Jahrzehnten, häufig mit pseudowissenschaftlichen Argumenten, behauptet, dass es den Holocaust nie gegeben hätte. Relativierungen des Holocaust erfolgten auch durch Gleichsetzungen, wie einem vermeintlichen „Bomben-Holocaust“ in Bezug auf die Bombardierung Dresdens durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg oder Behauptungen eines „Flüchtlings-Holocausts“ in Bezug auf die Aufnahme Geflüchteter.
Das dritte zentrale Aktionsfeld der rechtsextremistischen Szene in diesem Zusammenhang stelle der israelbezogene Antisemitismus dar. Unsägliche Slogans wie „Israel ist unser Unglück“ oder „Kindermörder Israel“ fänden sich auf Wahlplakaten rechtsextremistischer Parteien oder in den Texten rechtsextremistischer Bands.
Gerade auch nach dem 7. Oktober 2023 sei es zu vielfältigen israelfeindliche Aussagen und Aktionen durch die rechtsextremistische Szene gekommen. Die Partei „Der III. Weg“ habe so etwa erklärt, dass „jede Solidarität mit dem imperialistischen Terrorstaat Israel abgelehnt wird.“ In Marzahn-Hellersdorf habe die Partei Plakate mit einem Davidstern und einem Barcode verklebt, auf dem zu lesen war „Boykottiert Produkte vom Terrorstaat Israel“.
Darüber hinaus sei es seit dem Terrorangriff der HAMAS auf Israel im gesamten Stadtgebiet zu antisemitischen Schmierereien gekommen, die auch auf rechtsextremistische Täterinnen oder Täter hindeuteten. So sei ein Mehrfamilienhaus in Neukölln mit dem Schriftzug: „Juden bitte nach Auschwitz-Birkenau“ und eine Supermarkt-Filiale in Steglitz-Zehlendorf mit dem Schriftzug: „Kauf nicht beim Jud“ beschmiert worden.
Schließlich kursierten in Szenekanälen und -profilen in sozialen Medien diverse Verschwörungserzählungen, in denen über eine vermeintlich bewussten Stärkung der HAMAS durch Israel oder Behauptungen, nach denen der Terrorangriff der HAMAS nur inszeniert gewesen wäre, spekuliert werde.
Antisemitismus und Israelfeindschaft seien so feste Bestandteile der rechtsextremistischen Ideologie und würden dies auch absehbar so bleiben.
2. Islamismus
All dies treffe allerdings auch auf den Islamismus, die politische Ideologisierung und Operationalisierung islamischer Lehren und Traditionen, zu. Auch dort fänden sich zahlreiche antisemitische Stereotype in Verlautbarungen entsprechender Gruppierungen. Unter selektiver und eklektischer Bezugnahme auf religiöse Texte aus der Frühzeit des Islam würden Jüdinnen und Juden als „Feinde des Islam“ oder sogar „Feinde Gottes“ stigmatisiert. Terroristische Organisationen wie „al-Qaida“ und der sogenannte „Islamische Staat“ riefen mit solchen Begründungen seit Jahren zu Anschlägen auf Jüdinnen und Juden auf. Im Zentrum der antisemitischen Agenda islamistischer Gruppierungen stehe allerdings eindeutig die Negierung des Existenzrechts Israels. Die meisten islamistischen Gruppierungen befürworteten und legitimierten in diesem Zusammenhang auch Gewalt. Beispielhaft dafür stünden Äußerungen des langjährigen, 2022 mit 96 Jahren in Qatar verstorbenen ägyptischen Ideologen der Muslimbruderschaft, Yusuf al-Qaradawi. Dieser habe Beziehungen zu israelischen Staatsbürgern islamrechtlich für verboten erklärt, Selbstmordanschläge als „Märytrer-Operationen“ des gebotenen Jihad glorifiziert und dazu aufgerufen, „Palästina zu befreien, ganz Palästina, Zoll für Zoll“. Die HAMAS als palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft setze solche Aussagen seit ihrer Entstehung in den achtziger Jahren in konkreten Terror gegen Israel um, so wie dies zuletzt in besonders dramatischer Weise am 7. Oktober 2023 geschehen sei. Die Vernichtung Israels propagiere mit der gleichen dogmatischen Herleitung auch die schiitische Hizbullah. Deren Anführer Hassan Nasrallah habe mehrfach zum Kampf gegen Israel aufgerufen und erklärt, dass „die Eliminierung Israels nicht allein im palästinensischen Interesse ist, sondern im Interesse der gesamten muslimischen und der arabischen Welt“. Ähnliche Vernichtungsphantasien würden auch von der „Hizb ut-Tahrir al-Islami“ (Islamische Befreiungspartei) verbreitet, einer bereits seit 1953 bestehenden pan-islamistischen Bewegung, die in Deutschland seit 2003 mit einem Betätigungsverbot belegt sei. Eine ideologische Nähe zur „Hizb ut-Tahrir“ wiesen aktuell in Deutschland aktive Gruppierungen wie „Generation Islam, „Realität Islam“ und „Muslim interaktiv“ auf. Manifester Antisemitismus und explizite Feindschaft gegenüber Israel seien im gesamten islamistischen Spektrum nach dem Terrorangriff der HAMAS auch unter Berliner Anhängerinnen und Anhängern der genannten Organisationen sowohl in sozialen Medien als auch auf öffentlichen Veranstaltungen festzustellen gewesen.
3. Auslandbezogener Extremismus
Von besonderer Bedeutung für das Veranstaltungsgeschehen in Berlin seien zudem traditionell die Anhängerinnen und Anhänger der PFLP und der am 2. November des letzten Jahres vom BMI verbotenen Gruppierung „Samdioun“ („Die Standhaften“) gewesen. Anhängerinnen und Anhänger von „Samidoun“ hätten am 7. Oktober 2023 auf der Sonnenallee in Neukölln Süßigkeiten zur Feier des Terrorangriffs der HAMAS verteilt und danach nahezu täglich zu antiisraelischen Protesten in Neukölln aufgerufen.
Sowohl die PFLP als auch die „Samidoun“ seien ideologisch allerdings nicht dem Islamismus sondern dem säkularistischen Spektrum des „Auslandsbezogenen Extremismus“ zuzuordnen, wo es aber ebenfalls traditionell einen manifesten, insbesondere israelbezogenen Antisemitismus gebe. Dies treffe auch auf die Anhängerinnen und Anhänger der „Ülkücü-Bewegung“ (Graue Wölfe) zu, also des türkischen Rechtsextremismus, und damit einer weiteren Bestrebung im Bereich des „Auslandsbezogenen Extremismus“. Türkisch-stämmige Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten hätten sich so ebenfalls an israelfeindlichen Veranstaltungen beteiligt und antisemitische und anti-israelische Propaganda im Netz verbreitet. So habe in der Szene etwa das Video eines türkischen Musikers mit dem Titel. „Lass Israel zerstört werden, lass mich seine Trümmer sehen“ Verbreitung gefunden.
4. Linksextremismus
Anders als im Islamismus und im Rechtsextremismus sei Antisemitismus kein konstituierendes Element der linksextremistischen Ideologie. Gleichwohl finde Antisemitismus, insbesondere israelbezogener Antisemitismus, in Teilen der Szene durchaus Zuspruch. Dies gelte insbesondere für das sogenannte anti-imperialistische Spektrum. Verkürzt dargestellt, beruhe die Sichtweise dieses Spektrums auf der Annahme, dass Staaten mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung permanent auf Expansion ausgelegt seien, und sich neue Märkte auch mit Gewalt erschlössen. Für Anti-Imperialisten stelle Israel insofern vor allem einen Vorposten der USA dar, der der aggressiven Durchsetzung ökonomischer Interessen Amerikas diene. Insofern könne es für Anhängerinnen und Anhänger des anti-imperialistischen Spektrums auch kein Selbstverteidigungsrecht Israels geben. Jede israelische Aktion werde vor diesem Hintergrund grundsätzlich als Aggression, der Terror der HAMAS als „Notwehr“ oder vermeintlich „legitime Selbstverteidigung“ bewertet. Im Kern handele es sich damit klar um israelbezogenen Antisemitismus. Das antiimperialistische Verständnis dieser Linksextremistinnen und Linksextremisten ziele in letzter Konsequenz ebenfalls auf die Eliminierung Israels ab.
Sichtbar gewesen seien diese Anti-Imperialisten in Berlin auf diversen anti-israelischen Demonstrationen und auf Veranstaltungen an Berliner Universitäten. Anders als im Rechtsextremismus und im Islamismus seien antisemitische Positionen und Aktivitäten allerdings nicht unwidersprochen gewesen. Vielmehr habe es seit dem 7. Oktober 2023 einen breiten Diskurs in der linksextremistischen Szene gegeben, in dem der vorbehaltlosen Unterstützung Palästinas und insbesondere der HAMAS auch klar entgegengetreten worden sei.
5. Reichsbürger/Staatsdelegitimierung
Schließlich seien Antisemitismus und Israelfeindschaft auch im Spektrum der „Reichsbürger“und der verfassungsschutzrelevanten „Staatsdelegitimierung“ präsent. In beiden Spektren gebe es eine Affinität zu auch antisemitisch konnotierten Verschwörungserzählungen. Gerade während der Corona-Pandemie hätten unzählige solcher Erzählungen Verbreitung gefunden, in denen Jüdinnen und Juden die Verantwortung für die Pandemie zugewiesen wurde. In Erinnerung zu rufen sei hier auch an die Popularität, die die „Q-Anon“-Verschwörungserzählung in dieser Zeit gewonnen habe und die auch unter „Reichsbürgern“ und „Staatsdelegitmierern“ verbreitet gewesen sei.
6. Antisemitismus ist per se verfassungsfeindlich
Zusammenfassend betonte Herr Fischer die enge gedankliche wie operative Verbindung zwischen Antisemitismus und Verfassungsfeindlichkeit. Verbale wie tätliche Angriffe auf Jüdinnen und Juden seien Angriffe auf die freiheitlich demokratische Grundordnung in Deutschland, in deren Zentrum die Unantastbarkeit der Menschenwürde als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt stehe und die über die Grundrechte unmittelbare Bindungswirkung auf Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht ausübe (Art. I GG). Hierauf mit der gebotenen Deutlichkeit hinzuweisen, sei Aufgabe des Verfassungsschutzes, der dies auch weiterhin mit Nachdruck tun werde.
In der sich anschließenden Diskussion wurde gerade die soziokulturelle Dimension von Antisemitismus als eine offenbar transnational wie interkulturell über Generationen hinweg wirksame, traditionelle Stereotype einer Fremdgruppen-Derogation erörtert. Bekanntlich seien derartige Abgrenzungen verbreitete sozialpsychologische Elemente von Gruppenidentifikation, die ohne Korrektive und Limitationen in jeder Gesellschaft in Diskriminierung und Gewalt ausarteten.
Vor diesem Hintergrund bestand abschließend allseitige Übereinstimmung darin, dass gerade die Grundentscheidungen und normativen Vorgaben des deutschen Verfassungsgebers hier klare Unwerturteile und Grenzen aufzeigen, die ihren Niederschlag auch in allgemeinrechtlichen wie strafrechtlichen Bestimmungen (z.B. §130 StGB) fänden. Es werde besonderer Anstrengungen nicht nur der Verfassungschutzbehörden, sondern insbesondere auch aller weiteren zuständigen staatlichen Instanzen wie auch aller verfassungstreuen politischen und gesellschaftlichen Kräfte bedürfen, in der breitestmöglichen Öffentlichkeit, gerade auch unter Einbeziehung der sozialen Medien, in lebensnaher und zielgruppengerechter Weise auf die Bedeutung dieser Grundrechte und ihre Verbindlichkeit für alle in Deutschland lebenden Menschen ebenso hinzuweisen wie auf die Konsequenzen ihrer Verletzung. Hier sei im Rahmen gesamtstaatlicher wie gesellschaftlicher Resilienz nicht nur in Sachen Antisemitismus, sondern auch in allen anderen staats- und verfassungsfernen Milieus für normative Bewusstseinsbildung, Rechtstreue und Rechtsdurchsetzung einzutreten.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad