Nationaler Sicherheitsrat und Lagezentrum - Anspruch und Wirklichkeit strategischer Steuerung
Vortragsunterlage zur Tagung „Eine Zeitenwende für die Nachrichtendienste“
der Akademie für Politische Bildung, Tutzing, am 02.08.2025
Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen
Geschätzte Lesezeit: 15 Minuten
Komplexe Entscheidungsprozesse, ihre Voraussetzungen und Rahmenbedingungen
Spätestens seit Peter F. Drucker’s Schriften zum modernen Management aus den sechziger Jahren ist es Gemeingut geworden, dass Entscheidungsprozesse aller Art notwendig mit einem möglichst fundierten Problemverständnis beginnen müssen: Womit haben wir es genau zu tun? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Problem, wenn es nicht angegangen und gelöst wird? Welcher Natur ist das Problem, und wie kann es behandelt werden?
Seit Kahnemann’s Forschungen Anfang der 2000er Jahre wissen wir wiederum um die vielfältigen psychologischen Phänomene rund um Urteils- und Entscheidungsfindung und die kognitiven Fehlleistungen, die auf Verallgemeinerungen und Vorurteilen beruhen, und die Rationalität und Sachbezogenheit von Entscheidungsprozessen beeinflussen.
Je komplexer Entscheidungen sind, desto voraussetzungsvoller müssen die ihnen zugrunde zu legenden kognitiven und operativen Prozesse sein, um die Risiken sachfremder Einflüsse zu minimieren. Dies gilt in besonderem Maße für die sachlichen Grundlagen, also die Ausgangslage einer Entscheidung. Werden hier gravierende kognitive Fehler begangen, droht der gesamte Entscheidungsprozess allein schon aus diesem Grund fehl zu gehen.
Regierungshandeln muss sich mit einem hohen Maß an Komplexität auseinandersetzen und einen gangbaren Weg zwischen widerstreitenden Einflüssen hin zu einem den eigenen Interessen möglichst entsprechenden Ergebnis finden. Die realweltliche Komplexität spiegelt sich allein schon im Aufbau von Regierungs- und Verwaltungsapparaten wider, mit denen die vielfältigen Aufgaben- und Fragestellungen sowie entstehende Probleme erfasst und behandelt werden sollen. Hierbei besteht eine der größten aufbau- und ablauforganisatorischen Herausforderungen darin, übergreifende, mehrere Disziplinen betreffende Fragestellungen auch interdisziplinär und damit behörden- oder ressortübergreifend angehen zu können. Dies kann bis zu einem sogenannten „whole of government approach“, einem gesamtstaatlichen Handlungsansatz, führen.
Sicherheit ist bekanntlich so ein hochkomplexes Phänomen, das sich in seiner Vielfalt nur in einer umfassend koordinierten und konzertierten Lagefeststellung und Lageanalyse erfassen und in handlungsbefähigende kognitive Kategorien transformieren lässt, auf deren Grundlage dann Entscheidungsoptionen entwickelt und Entscheidungen getroffen werden können. Sicherheit ist nicht nur die Abwesenheit unmittelbarer Waffengewalt von außen und im Inneren. Sicherheit umfasst die Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit von lebenswichtigen infrastrukturellen, wirtschaftlichen, finanziellen und administrativen Rahmenbedingungen bis hin zur gesundheitlichen Daseinsvorsorge. Viele dieser Bereiche sind wiederum interdependent, so dass sie einer gemeinsamen interdisziplinären fachlichen wie politischen Betrachtung und Behandlung unterzogen werden müssen.
Diese gilt es wiederum, in sachgerechter Weise zu organisieren, wobei hier zur Sachgerechtigkeit auch notwendig Zeitgerechtigkeit als zentrales Relevanzkriterium hinzutreten muss. Komplexität ist Zeitfresser und Fehlerproduzent zugleich. Beidem kann nur mit hocheffizienten Organisationsstrukturen und -abläufen auf der Grundlage unmittelbar verfügbarer Expertise und Kompetenz mit einiger Aussicht auf Erfolg begegnet werden.
Hiermit sind die grundlegenden strukturellen Voraussetzungen für die Organisation effektiven und effizienten Regierungs- und Behördenhandelns gerade in allen sicherheitsrelevanten Bereichen umrissen. Vor diesem Hintergrund wird auch die aktuelle Diskussion um einen Nationalen Sicherheitsrat und den diesen unterstützenden Unterbau in Form eines ressort- und behördenübergreifenden Lage- und Analysezentrums zu sehen sein, das in seiner Funktionalität und Sachkompetenz den Kernerfordernissen Komplexität, Interdependenz und Zeitgerechtigkeit gerecht werden muss, um eine valide Entscheidungsgrundlage für die Bundesregierung und die sie unterstützenden Bundesbehörden, wo nötig und möglich auch im föderalen Bund-/Länderkontext, zu schaffen.
Entscheidungskompetenz beruht auf Fachkompetenz und Lagekompetenz. Wo Entscheidungen getroffen werden, sind Lage- und Analysezentren eine notwendige, allerdings nicht hinreichende Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln. Dies gilt auf Bundes- wie auf Landesebene, ggf. auch auf kommunaler Ebene, ebenso wie in Wirtschaft und Industrie. Dies gilt für Einsatzkräfte aller Art ebenso wie für politische, wirtschaftliche und administrative Entscheidungsvorgänge mit exekutiven Konsequenzen. Ohne valides aktuelles Lagebewusstsein (situational awareness) gehen Entscheidungen und ihre Implementierung in der Regel fehl. Die Geschwindigkeit von positiven wie negativen Entwicklungen hat sich aufgrund des ihnen zugrundeliegenden exponentiellen technischen Fortschritts nach der Jahrtausendwende massiv erhöht. Die Zeit für Fehler und Trial and Error-Verfahren hat sich dramatisch verkürzt. Vorbeugung und Reaktionsstärke sind mehr denn je Voraussetzungen für Überlebens- und Zukunftsfähigkeit, sei es angesichts von Naturkatastrophen und anderen Großschadenslagen bis hin zu kriegerischen, hybriden oder terroristischen Angriffen. Die Zeiten der Gemächlichkeit im öffentlichen Leben sind vorbei. Was zählen wird, ist Reaktions- und Organisationsstärke in allen Bereichen zur Schaffung von Resilienz und Überlebensfähigkeit einer ganzen Gesellschaft. Hiervon sind wir noch weit entfernt, doch wird uns dieser Transformationsprozess in Staat und Gesellschaft im ureigensten vitalen Interesse nicht erspart bleiben.
Empfehlungen der „Initiative Handlungsfähiger Staat“
Vor diesem Hintergrund ist 2024 unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ ins Leben gerufen worden, die am 14. Juli 2025 ihren Abschlussbericht vorgelegt hat, in dem Handlungsempfehlungen gegeben werden, mit denen die Effizienz und Bürgernähe der deutschen Verwaltung durch umfassende Reformen gestärkt werden sollen (https://www.ghst.de/initiative-fuer-einen-handlungsfaehigen-staat). Die Medienmanagerin und Aufsichtsrätin Julia Jäkel, die früheren Bundesminister Peer Steinbrück und Thomas de Maizière sowie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle haben gemeinsam konkrete Ansätze erarbeitet, wie staatliche Strukturen in Deutschland zukunftsfähig gestaltet werden können.
Dem Thema Sicherheit wird in diesem Bericht ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem eine Arbeitsgruppe unter Leitung des ehemaligen Kanzleramts-, Verteidigungs- und Innenministers Thomas de Maizière wegweisende Empfehlungen für zukunftsfähige Strukturen und rechtliche Rahmenbedingungen entwickelt hat. Hierzu zählen auch die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats, eines Nationalen Lagezentrums und eines Nationalen Krisenstabs/Krisenreaktionszentrums (Empfehlung Nr. 12) ) ebenso wie die Ertüchtigung der Nachrichtendienste (Empfehlung Nr. 13).
Die Herausforderungen der neuen Zeit haben mithin Eingang in den politischen Diskurs auf Bundes- und Länderebene gefunden. Einige Empfehlungen sind zumindest grundsätzlich auch im Koalitionsvertrag aufgenommen worden und stehen nun zur Umsetzung an, die auf allen Ebenen in Bund und Ländern absehbar ein erhebliches Maß an politischem wie administrativem Gestaltungs- und Reformwillen abverlangen werden.
Im folgenden wenden wir uns nunmehr Aspekten dieses Prozesses zu, der sich in den kommenden Monaten entwickeln sollte.
Was soll ein Nationaler Sicherheitsrat? Was ein Gesamtlagezentrum?
Bei der Diskussion um den Sicherheitsrat werden häufig zwei Kategorien miteinander vermischt, die zwar miteinander verwandt sind, jedoch in ihrer organisatorischen Ausgestaltung und Zweckbestimmung deutlich zu unterscheiden sind:
Die strategische Politikberatung bis hin zur Entwicklung und Aktualisierung einer ressortübergreifenden Nationalen Sicherheitsstrategie und
die Vorbereitung konkreter, politisch operativer Entscheidungen der Bundesregierung sowie die kontinuierliche, lagebasierte Begleitung und Unterstützung ihrer Umsetzung.
Beide Formate sind für eine Sicherheitspolitik "aus einem Guss" nötig, sind aber in ihren Organisationsformen und Prozeduren voneinander zu trennen.
Beide Formate unterscheiden sich schon allein aufgrund der unterschiedlichen zeitlichen Dynamik:
Strategieentwicklung ist eher langfristig und konsultativ. Sie bezieht notwendig neben der Expertise in Ressorts, Behörden und Nachrichtendiensten auch Erkenntnisse aus Politik- und Sozialwissenschaft sowie in Abhängigkeit von den Fragestellungen gleichermaßen anderer sachverhaltsrelevanter Wissenschaftszweige ein.
Die Unterstützung sicherheitspolitischer Entscheidungen der Bundesregierung steht dagegen in aller Regel unter erheblichem Zeitdruck: Hier zählen Tage und Wochen, nicht Monate, geschweige denn Jahre. Zugleich steht ein Gutteil der zugrundeliegenden Sachverhalte und Informationen unter Geheimschutz, was eine unmittelbare Einbeziehung der Wissenschaften bis auf wenige Ausnahmen (Ermächtigung auf der Basis des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes) ausschließt. Der jedenfalls dringend gebotene Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden muss im Vorfeld in den Ressorts und Behörden stattfinden, die gehalten sind, eine angemessene eigene Fach- und Sachkompetenz sicherzustellen. Dies wird häufig ja auch über Sachverständigenräte und andere Formen des Wissenstransfers geleistet, wenngleich wahrscheinlich nicht notwendig überall und in ausreichendem Maße.
Ein Sicherheitsrat kann aufgrund der grundgesetzlichen Rahmenbedingungen (Ressortprinzip auf Bundesebene, Bund-Länder-Kompetenzverteilung) die Zuständigkeit des Kabinetts und je nach Materie der föderalen Akteure für Regierungsentscheidungen nicht ersetzen. Er kann nur als Kabinettsausschuss Entscheidungen des Kabinetts vorbereiten und gemeinsame operative Handlungsempfehlungen geben. Schon gar nicht kann ein Sicherheitsrat in irgend einer Weise gesetzgeberische Entscheidungen präkludieren. Er dient vielmehr "nur" der Entwicklung ressortübergreifender Handlungsoptionen für das Kabinett. Dies gilt sowohl für die Unterstützung konkreter politisch-operativer Entscheidungen wie für die Mitwirkung an ressortübergreifender Strategieentwicklung. Der Sicherheitsrat entwickelt gesamtstaatliche strategische oder operativ-taktische Handlungsoptionen für die Bundesregierung auf der Grundlage gesamtstaatlicher Lagebilder.
Ein Sicherheitsrat muss somit in der Vorbereitung von operativen Kabinettsbeschlüssen notwendig auf einem gemeinsamen Lagebild aufsetzen, das von den Nachrichtendiensten, aber eben auch allen jeweils sachrelevanten Ministerien und Behörden aus Bund und Ländern erstellt werden muss. Nur durch diese Inklusivität kann der vielbeschworene "Whole of Government Approach" überhaupt erst entstehen. Hierzu muss notwendig ein gemeinsames Krisen-, Lage- und Analysezentrum geschaffen werden, in dem auf Arbeitsebene (!) Vertreter aller Ressorts, Bundes- und Landesbehörden an der zeitgerechten Erstellung und Fortschreibung von Lagebildern mitwirken. Dieses Lagezentrum muss dem Sicherheitsrat direkt unterstellt sein und diesem umfassend und zeitgerecht zuarbeiten, um ihn in seiner Aufgabenerfüllung wirksam zu unterstützen. Von essentieller Bedeutung ist es, dass dieses Gemeinsame Lagezentrum nicht als Spielfeld von Ressort- oder anderweitigen politischen Interessen missbraucht wird, sondern seinen Auftrag in der bestmöglichen, sach- und fachorientierten Lagefeststellung und Lagebeurteilung sieht.
Aufbau- und ablauforganisatorisch bietet es sich an, dass das Gemeinsame Lagezentrum auf vergleichbare Strukturen in den Ressorts wie in den Bundes- und Landesbehörden zurückgreifen kann. Lagearbeit ist in vielen, vielleicht den meisten staatlichen Handlungsdimensionen erforderlich, ohne dass sich zahlreiche Akteure dessen wirklich bewusst wären. Bei sicherheitspolitischen Kernressorts wie AA, BMVg und BMI sollte man dies jedenfalls voraussetzen; bei anderen Ressorts wie etwa dem BMZ, dem BMF, dem BMWi oder dem BMG erscheint dies weniger offensichtlich. Hierbei wird allerdings auch bei bestehenden Strukturen darauf zu achten sein, dass in solchen Zentren eingehende Information nicht nur eingesammelt und weiterverteilt wird. Derartige Lagezentren müssen im Stande sein, kompetente Bewertungen abzugeben, ggf. im Rückgriff auf die fachlich zuständigen Arbeitseinheiten im jeweiligen Haus. Anzustreben sind mithin Lage- und Analysezentren (LAZ). Diese Art von systematischer, fachlich fundierter Lagearbeit gehört bei Nachrichtendiensten, Polizei- und Streitkräften zum Instrumentenkasten, nicht notwendig jedoch in anderen staatlichen Bereichen. Soll es hier nicht zu erheblichen Effektivitäts- und Effizienzverlusten kommen, wird der Weg an einer einheitlichen Methodik in den verschiedenen Zentren nicht vorbeiführen. Gemeinsame Maßstäbe sowie Aus- und Weiterbildung werden hier eine zentrale Rolle spielen müssen.
Unter diesen Voraussetzungen würde als Unterbau des Sicherheitsrates im Bundeskanzleramt eine Art "Lagezentrum der Lagezentren" entstehen, die miteinander vernetzt und durch eine gemeinsame Arbeitsmethodik auch professionell mit einander harmonieren. Die Bund-Länder-Zusammenarbeit lässt sich durch die Entsendung entsprechend geschulter Fachvertreter (erneut auf Arbeitsebene) in das Gemeinsame Lagezentrum des Bundes realisieren.
Derartige Strukturen sind keine Wunschträume. Sie haben sich bereits auf europäischer wie auf NATO-Ebene - dort sogar auf dem Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität und Freiwilligkeit - seit mehr als zwei Jahrzehnten grundsätzlich bewährt, bedürfen aber natürlich im nationalen Bund-Länderkontext einer konsequenteren ablauforganisatorischen Ausgestaltung und Verbindlichkeit. Föderale Strukturen und Eigenständigkeiten sind aber keinesfalls die unüberwindlichen Hindernisse, die gerne von interessierter Seite ins Feld geführt werden, um einen gesamtstaatlichen Ansatz zu vereiteln.
Ein Sicherheitsrat ohne eine gesamtstaatlich organisierte leistungsstarke Lagefeststellung und Lagebeurteilung kann seine Kernaufgabe einer fachlich fundierten Vorbereitung ressortübergreifender Entscheidungen nicht wirksam erfüllen. Er läuft vielmehr Gefahr, zu einer weiteren Instanz eines unverbindlichen, meist kontroversen Austauschs von Ressortinteressen und in den Ministerien entwickelten "Hauslagen" zu werden. Ohne gemeinsames Lagebild kommt eben keine fundierte gemeinsame Entscheidungsfindung und Umsetzung zustande.
Dies gilt in gleicher Weise für die Entwicklung gesamtstaatlicher Strategien, die im Rückgriff auf einen breiten nationalen und internationalen Wissens- und Erkenntnisfundus erarbeitet werden. Auch hier kommt der Vorbereitung eines fundierten, Komplexität strukturierenden strategischen und damit perspektivischen Lagebewusstseins (situational awareness and foresight) durch einen fach- und sachkompetenten Unterbau, der die Ressort- und Behördengrenzen im Sinne der gemeinsamen Erkenntnisgewinnung im gesamtstaatlichen Interesse überwindet, eine zentrale Bedeutung zu.
Schlussfolgerungen und Handlungserfordernisse auf Bundes- und Länderebene
Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich die folgenden, hier noch einmal zusammengefassten Kernaussagen und praktischen Handlungserfordernisse:
Ein Nationaler Sicherheitsrat wird von allen Ressorts beschickt werden müssen, in deren Zuständigkeitsbereich sicherheitsrelevante Sachverhalte, insbesondere auch aus den Bereichen der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, infrastrukturellen und gesellschaftlichen Resilienz und Zukunftsfähigkeit, liegen.
Sicherheit kann nicht an zwei oder drei Kernressorts (BMVg, BMI, AA) quasi ausgelagert werden, während der Rest die sicherheitspolitische Dimension im eigenen Zuständigkeitsbereich ignoriert, vernachlässigt oder ohne systematische Rückbindung an die anderen ebenfalls betroffenen Stellen wahrnimmt.
Nur durch gemeinsam und in Arbeitsteilung vorgenommene Erhebung, Betrachtung, Bearbeitung und Analyse im Rahmen von Lagefeststellung und Lagebeurteilung wird im Laufe der Zeit ein gemeinsames, auch handlungsleitendes Sicherheitsbewusstsein entstehen, das wiederum auf eine gemeinsame Kultur ressortspezifischer Aufgabenwahrnehmung rückwirkt.
Die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland bringt es mit sich, dass neben der Bundes- auch die Landesregierungen unter Einschluss der Arbeitsebene ebenso sachgerecht wie wirksam einzubinden sind.
Vor diesem Hintergrund wird ein Sicherheitsrat als ressortübergreifende gesamtstaatliche Aufgabe zwingend im Bundeskanzleramt angesiedelt sein müssen. Es ist das Bundeskanzleramt, das unbestritten für die Koordination des gesamtstaatlichen Handelns auf Bundes- wie Länderebene verantwortlich ist. Mit der Übertragung von Federführung an einzelne Ressorts würde eine unzulässige und insbesondere dysfunktionale Auslagerung der Gesamtverantwortung einhergehen.
Der Sicherheitsrat ist ein Kabinettsausschuss. Er dient der koordinierten Entwicklung und Vorlage abgestimmter sicherheitspolitischer Maßnahmen auf strategischer, operativer und taktischer Ebene, die von Bundes- und Landesregierungen im Rahmen ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Kompetenzen beschlossen und koordiniert umgesetzt werden.
Die notwendige Grundlage für sachgerechte Entscheidungen ist ein zutreffendes, aktuelles und analysiertes Lagebild zum jeweils in Frage stehenden staatlichen Problem-, Handlungs- und Regelungsbereich mit dem Anspruch auf größtmögliche Objektivität, aus dem auf der Ebene des Kabinettsausschusses (Sicherheitsrat) und abschließend des Kabinetts entsprechende operative Konsequenzen abgeleitet werden können.
Zu diesen strategischen, aber auch taktischen Lagebildern müssen alle jeweils fach- und sachkompetenten Stellen von Bund und Ländern im Rahmen eines strukturierten und geregelten Prozesses bereits auf Arbeitsebene beitragen, um gemeinsam eine fachliche Sicht auf die Fragestellungen zu entwickeln.
Das organisatorische Zentrum dieses gesamtstaatlichen, ressortübergreifenden Lage-feststellungs- und Lagebeurteilungsprozesses muss als Unterbau des Sicherheitsrats erneut im Bundeskanzleramt liegen. Die Leitung dieses Zentrums sollte direkt der Leitung des Sicherheitsrats unterstehen, der wiederum für die Fach- und Dienstaufsicht zuständig ist und im Zusammenwirken von Bund und Ländern die Rahmenbedingungen für dessen Aufbau- und Ablauforganisation setzt.
In einem solchen „Gemeinsamen Lage- und Analysezentrum (GLAZ)“ von Bund und Ländern könnten Vertreter der Ressorts, Bundes- und Landesbehörden in gemeinsamen Fachgruppen auf Arbeitsebene strategische und taktische Lagen zur Unterstützung der Entscheidungsvorschläge des Sicherheitsrats erarbeiten. Erreicht werden soll auf diese Weise ein gemeinsames, von fachlichen und nicht politischen Interessen getragenes möglichst objektives und umfassendes Arbeits-, Analyseergebnis mit einer greifbaren Aussage zur kurz- bis mittelfristigen Lageentwicklung und hieraus resultierenden Handlungserfordernissen (contingencies).
Aufbau- und ablauforganisatorisch kann das GLAZ grundsätzlich auf den bestehenden Strukturen im Bundeskanzleramt (024/Lagezentrum, Spiegelreferate) aufbauen, sofern jeweils eine klare und ausschließliche Aufgabenzuweisung im Sinne einer fachlichen Lagebearbeitung mit bestimmten Dienstposten verbunden wird. Hier würden die betroffenen Dienstposten entsprechend umzuwidmen sein und ihrerseits mit bestehenden oder zu schaffenden Lagestäben in den Ressorts und Bundesbehörden vernetzt werden. Diese wiederum müssten im Rahmen der föderativen Ordnung auf existierende oder gegebenenfalls einzurichtende komplementäre Lagestrukturen in den Landesregierungen und Landesbehörden zurückgreifen können.
In gleicher Weise werden strukturierte Arbeits- und Austauschbeziehungen zu den komplementären integrierten multinationalen Lage- und Analysestrukturen in EU (INTCEN, EUMS.INT) und NATO (JISD) zum Abgleich, zur Ergänzung und Konsolidierung der jeweiligen Lagebilder einzurichten sein.
Entscheidend für ein tragfähiges Ergebnis ist, dass Lagefeststellung und Lagebeurteilung auf fachlicher Ebene und unter fachlichen Aspekten stattfinden. Die Sinnstiftung und Zielsetzung der Mitarbeitenden muss auf einen gemeinsamen Erfolg im Sinne eines optimalen fachlichen und sachlich umsetzbaren Arbeitsergebnisses („actionable intelligence“) gerichtet sein, nicht auf die optimale Vertretung operativer oder politischer Interessen der jeweiligen Herkunftsbehörde. Hier bedarf es eines voraussichtlich aufgrund möglicher beruflicher Prägungen nicht immer trivialen Schulungs- und Orientierungs-prozesses der Belegschaften. Dies gilt ebenfalls für die methodischen Fertigkeiten, die mit einer auswertenden Tätigkeit notwendig verbunden sind. Auch hier sind Schulungsmaßnahmen gerade in der Etablierungsphase eines gemeinsamen Lagezentrums zu empfehlen, nicht zuletzt auch, um bereichsübergreifend gemeinsame methodische Ansätze und Verfahrensweisen zu etablieren.
Die Lagestäbe sollten auf allen Ebenen befugt und aufgerufen sein, im Bedarfsfall auch externe fachliche Expertise für die Lagefeststellung und Analyse beizuziehen, allerdings stets unter Berücksichtigung der erforderlichen Geheimschutz- und Sicherheitsbestimmungen. Hierzu werden bereits vorab entsprechende Kommunikations- und Beratungsstrukturen zu schaffen sein, um das zeitliche und fachliche Risiko von Ad-Hoc-Konsultationen zu minimieren.