Nationaler Sicherheitsrat und Integrierte Lagekompetenz

Anmerkungen zur Geschäftsordnung des Nationalen Sicherheitsrats (NSR)


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Dr. Gerhard Conrad

Mit Schreiben vom 28. August 2025 hat die Bundesregierung Bundestag und Bundesrat über die Einsetzung des Kabinettsausschusses Nationaler Sicherheitsrat und dessen Geschäftsordnung unterrichtet.

In der aktuellen Version gibt die Geschäftsordnung des Nationalen Sicherheitsrats Anlass zu kritischen Fragen zu ihrer praktischen Umsetzung, deren sachgerechte Beantwortung in den kommenden Monaten der Vorbereitung bis zur Arbeitsaufnahme am 01.01.2026 zu erhoffen sein wird. Im vorliegenden Papier wird vorerst nur der zentrale Aspekt der integrierten Lagekompetenz als Voraussetzung für sachgerechte ressortübergreifende Entscheidungen zu beleuchten sein.

Positiv anzumerken ist, dass das Format des Kabinettsausschusses neben den grundsätzlich mit Fragen der erweiterten nationalen Sicherheit befassten Ressorts (§ 2) auch die Leiter der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden des Bundes (§3) als reguläre Teilnehmer umfasst, es sei denn, diese würden nach §3 Absatz 2 vom Vorsitzenden von einzelnen Sitzungen ausgeschlossen. Dass eine solche Option gegeben sein muss, ist je nach Beratungsgegenstand vorstellbar. Entscheidend wird hier natürlich die entsprechende Regierungspraxis sein.

Erwartungsgemäß übernimmt der Sicherheitsrat als Kabinettsausschuss die erforderlichen Vorbereitungsarbeiten für die Entscheidungen der Bundesregierung auf Kabinettsebene zu Fragen der integrierten Sicherheitspolitik, sofern er diese nicht selbst im Rahmen seiner Zuständigkeiten abschließend behandeln kann.

Gemäß §1 Absatz 2 Ziffer 2 der Geschäftsordnung

„bündelt [er] die Erkenntnisse der Bundesregierung zu übergreifenden Angelegenheiten der nationalen Sicherheit und nimmt eine gemeinsame Lagebewertung vor“.

Zu diesem Zweck werden die Mitglieder der Bundesregierung gemäß §1 Absatz 3 verpflichtet, den Nationalen Sicherheitsrat „über die Planung und Durchführung der Maßnahmen in ihrem Zuständigkeitsbereich von besonderer Bedeutung auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik laufend zu unterrichten. Sie stellen dem Nationalen Sicherheitsrat alle zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen zur Verfügung, soweit nicht zwingende Erfordernisse des Schutzes nachrichtendienstlicher Quellen und Verbindungen, nachrichtendienstlicher Methoden und Technik und von Informationen ausländischer Nachrichtendienste („Third Party Rule“) entgegenstehen“.

Zusätzlich ist grundsätzlich auch die Option einer Beiziehung von externer fachlicher nationaler oder internationaler Expertise bis hin zu Vertretern anderer Staaten, von EU und NATO, zu Sitzungen des Sicherheitsrats vorgesehen (§ 3, Absatz 3 und 4), um so eine umfassende Informationsgrundlage gewährleisten zu können.

So zielführend diese Regelungen in ihrer grundsätzlichen Aussage auch erscheinen mögen, so konkretisierungsbedürftig werden sie in ihrer praktischen Ausgestaltung sein, die sich in der vorliegenden Geschäftsordnung nur in ersten Konturen erahnen lässt.

Die Stabsstelle des Nationalen Sicherheitsrates, so §4, Absatz 2,

„fertigt die vorbereitenden Unterlagen in Zusammenarbeit mit den Ressorts an und stellt diese den Teilnehmern rechtzeitig vor den Sitzungen zur Verfügung“.

Etwas konkreter klingt §5, Absatz 2:

„Eine Stabsstelle im Bundeskanzleramt, für die die Angehörigen des Nationalen Sicherheitsrats Verbindungsbeamte und Verbindungsoffiziere entsenden, bereitet … die Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates vor“.

Die Beratungsgegenstände und die Reihenfolge ihrer Behandlung im Sicherheitsrat sollen hier ermittelt und vorgeschlagen werden.

Darüber hinaus kann der Nationale Sicherheitsrat gemäß § 6 sogenannte interministerielle Ausschüsse zu bestimmten Aufgabenbereichen für die Erstellung beschlussreifer Vorlagen bilden. Diesen Ausschüssen würde jeweils ein Vorbereitungsausschuss auf Staatssekretärsebene zuarbeiten.

Es ist offenkundig, dass auf dieser Grundlage ohne weitere konkretisierende Regelungen eine strukturierte und effiziente integrierte Lagearbeit schwerlich zustande kommen wird. Soll etwa von der angeführten Stabsstelle, samt den Verbindungsreferenten der 8 Ressorts und 7 Bundesbehörden erwartet werden können, dass sie eine inhaltliche Bewertung und Strukturierung von Lagebeiträgen aus den jeweiligen „Mutterhäusern“ leisten und diese zeitgerecht in entscheidungsrelevante Vorlagen umsetzen können? Der Geschäftsordnung lässt sich hierzu nichts entnehmen; sie beschränkt sich auf den rein prozeduralen Aspekt der rechtzeitigen Vorlage von Entscheidungsunterlagen. Wie und insbesondere auf welcher Grundlage und in welchen Arbeitsabläufen diese entstehen sollen, ist nicht ersichtlich. Mit welchem Stellenansatz für eine inhaltliche Arbeit müsste hier zu rechnen sein, mit welcher Qualifikation der Mitarbeiterschaft? Verbindungsbeamte sind in der Regel keine fachlich und methodisch ausgewiesenen Analytiker, ihr Mandat beschränkt sich zumeist nur darauf, im Rückgriff auf ihre Behörde erforderliche Beiträge einzuwerben, Rückäußerungen aus der Stabsstelle weiterzugeben und Entwürfe zu zirkulieren. Wo soll in der vorgesehenen Struktur „intelligence fusion“ erfolgen, und damit der potentiell erhebliche Wissensstand aus Bundesbehörden und Ressorts aggregiert und analysiert werden, der dem Sicherheitsrat ja laut Geschäftsordnung umfassend zur Verfügung gestellt werden soll?

Werden einmal die Erfahrungswerte von EU INTCEN/EUMS.INT (SIAC) und NATO JISD zugrunde gelegt, die auf der Grundlage nationaler Berichterstattung, also quasi von „Hauslagen“ in eigener fachlicher und analytischer Kompetenz Lagevorträge für die Hohe Repräsentantin (HR/VP) und den NATO Generalsekretär ebenso wie für die Regierungen aller Mitgliedstaaten erstellen, die dann als Ausgangspunkt für politisch-operative Erörterungen und Entscheidungen genutzt werden, kommen hier internationale Mitarbeiterstäbe von 60 bis 80 Analysten unterschiedlicher Herkunft und fachlicher Schwerpunktbildung zustande. Ähnliche Größenordnungen sind auch im nationalen britischen Assessment Staff of Cabinet Office in Whitehall anzutreffen. All diesen Gremien ist gleichermaßen zu eigen, dass sie eben nicht von weisungsabhängigen und analytisch weder versierten noch mandatierten Verbindungsbeamten besetzt werden, sondern von Fachleuten, von denen erwartet wird, dass sie ihre spezifische Fachkompetenz in die gemeinsame Arbeit einbringen und ihre nationale bzw. ressortspezifische Perspektive im Interesse einer gemeinsamen interdisziplinären Analysearbeit für die Organisation ablegen. Das funktioniert nachweislich in allen drei Fällen, gewiss nicht immer in wünschenswertem Maße, aber bei angemessener Führung, Motivation und Schulung jedenfalls doch so, dass überwiegend relevante Ergebnisse erzielt werden können.

Entscheidend ist hierbei auch, dass in UK, EU und NATO jeweils eine gemeinsame ressort- bzw. nationenübergreifende Lagearbeit betrieben wird, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Ergebnis ist eine eigenständige, auf breiter materieller Grundlage aufbauende Lagefeststellung und Lagebeurteilung, die in den weiteren Beratungs- und Entscheidungsprozess eingebracht wird, der dann der jeweiligen politischen Dynamik der zuständigen Gremien unterliegt und entsprechend abstimmungs- und konsensbedürftig ist. Die all diesem zugrundeliegende Gesamtlage sollte jedoch nicht dem Diktat der von widerstreitenden politischen Interessen dominierten „agreed intelligence“ unterliegen, sondern soweit wie irgend möglich allein der fach- und sachorientierten Analysekompetenz eines ressort- und behördenübergreifenden, agilen und leistungsstarken Arbeitsstabs mit der erforderlichen gedanklichen Nähe zu den Erfordernissen der Entscheidungsträger und der sich daraus entwickelnden Befähigung zu entscheidungsrelevanter Präsentation der Arbeitsergebnisse.

Von alledem ist in der Geschäftsordnung des Nationalen Sicherheitsrats erst einmal nichts zu finden, es sei denn, es würde sich unter dem Druck der Verhältnisse aus der in § 5 skizzierten rein administrativen „Stabsstelle“ mit karger Liaison-Komponente ein entsprechender Arbeits- und Analysestab entwickeln lassen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass bereits in der grundlegenden Phase der integrierten Lagefeststellung und Beurteilung lediglich Papiere in einem wenig sachgerechten, eher von Ressort- und Behördeninteressen geprägten Prozess hin- und her-geschoben werden. Der angestrebte Mehrwert einer ressort- und behördenübergreifenden integrierten fachkompetenten Lagefeststellung und Lagebeurteilung käme auf diese Weise schwerlich zustande.

Nicht umsonst ist in der Koalitionsvereinbarung vom 10. April 2025 ausdrücklich die Notwendigkeit einer entsprechenden Lagekompetenz für das Bundeskanzleramt anerkannt worden:

„Für eine ganzheitliche Bewältigung von Krisen braucht Deutschland einen Bund-Länder- und ressortübergreifenden Nationalen Krisenstab der Bundesregierung und ein Nationales Lagezentrum im Bundeskanzleramt, in dem ressortübergreifend ein Gesamtlagebild zusammengefügt wird“.

Im Unterschied zur klaren operativen Selbstverpflichtung zum Aufbau eines Nationalen Sicherheitsrats („Wir entwickeln den Bundessicherheitsrat, im Rahmen des Ressortprinzips, zu einem Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt weiter“) wird hier nur einvernehmlich die Notwendigkeit derartiger Strukturen postuliert. In gleicher Weise wird im Organisationserlass des Bundeskanzlers vom 06. Mai 2025 nur der Nationale Sicherheitsrat erwähnt:

„Im Bundeskanzleramt wird ein Nationaler Sicherheitsrat gebildet“.

Es wird somit eine der wesentlichen Aufgaben des entstehenden Sicherheitsrats sein müssen, diesen zur Recht als notwendig qualifizierten „Unterbau“ zügig konzeptionell wie strukturell zu gestalten. Nur auf der Grundlage einer leistungsfähigen ressortübergreifenden Lagearbeit auf taktisch-operativer wie strategischer Ebene kann der angestrebte „whole of government approach“ gelingen.

Die Geschäftsordnung des Nationalen Sicherheitsrats markiert einen notwendigen Ausgangspunkt für die weitere Ausgestaltung von Strukturen und Prozessen, mit denen in Deutschland „Neuland“ betreten wird. Entscheidend wird jedoch sein, dass es dabei nicht bleibt. Die eigentliche gestalterische Aufgabe steht hier allen Beteiligten noch bevor.

Für den Vorstand

 (Dr. Gerhard Conrad)

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