Wissen und Handeln
Die Versorgungskrise von 2022/2023 – ein Lehrstück für nachrichtendienstlich generierte Informations- und Handlungsüberlegenheit
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Dr. Gerhard Conrad
Die jüngste Medienberichterstattung zur Unterstützung der Bundesregierung durch den Bundesnachrichtendienst bei der Abwendung einer existenziellen Energieversorgungskrise in den Jahren 2022 und 2023 gibt erneut Anlass, auf die grundlegende Bedeutung vorausschauender Beschaffung und Auswertung durch fach- und sachkompetente Nachrichtendienste für die Entscheidungsfindung auf politischer, militärischer und exekutiver Ebene hinzuweisen.
Nach Informationen der WELT AM SONNTAG vom 13. September 2025 sollen so BND-Experten nach der Drosselung und späteren Einstellung der Gasversorgung aus Russland die Bundesregierung eng beraten und Lösungen wie das Chartern schwimmender Flüssigerdgas-Terminals parat gehabt haben. Ohne die Informationen des BND, so berichten Insider, hätte Deutschland eine deutliche Verschärfung der Gaskrise gedroht.
Entscheidend sei eine geheime Sitzung im Januar 2022 gewesen, an der unter anderem der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz, der für die Gasbeschaffung zuständige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und ein BND-Experte teilgenommen haben sollen. Der BND und die Bundesnetzagentur sollen – so die WELT – in diesem Rahmen die Lage kritischer bewertet haben als das Wirtschaftsministerium.
Die BND-Analysten hätten auf eine ähnliche Situation 2011 in Israel verwiesen. Nach dem Ende der Mubarak-Herrschaft in Ägypten hätten damals Terroristen auf der Sinai-Halbinsel Pipelines angegriffen, die ins Ausland führten, auch die Abzweigung nach Israel. Das ägyptische Gas sei daraufhin ausgeblieben. Israel habe daher kurzfristig ein schwimmendes „Flüssiggasspeicher- und Regasifizierungs-Terminal“ (FSRU) gechartert und rasch eine Zuleitung von der Küste ins eigene Netz aufgebaut. In nur einem Jahr habe sich das Land wieder mit importiertem Gas versorgen können. Daran müsse man sich orientieren, sollen die BND-Leute geraten haben. Andere Vorschläge aus der Politik, wie verstärkte Gasimporte per Pipeline etwa aus Aserbaidschan und Algerien, hätten ja erst nach mehreren Jahren umgesetzt werden können. Große Eile sei jedoch geboten gewesen. Es habe die Gefahr bestanden, dass die wenigen auf dem Markt verfügbaren FSRUs von anderen Ländern gechartert würden.
Ebenso schnell habe bekanntlich ein Standort gefunden werden müssen, an den ein Terminal andocken konnte. In Wilhelmshaven lag eine ältere, aber verworfene Planung für ein FSRU vor. Sie musste nur freigegeben werden. Bereits im Februar 2022 wurde der Chartervertrag für ein schwimmendes LNG-Terminal aus Norwegen geschlossen – die „Esperanza“. Der BND habe auch die verfügbaren schwimmenden Terminals, ihre Eigentümer sowie die Charterpreise, gekannt. Die „Esperanza“ kostete rund 50 Millionen US-Dollar jährlich. Der BND habe gleichfalls bei der Beschaffung von LNG durch Hinweise auf mögliche Lieferländer geholfen. Denn schon damals habe sich ein weltweit stark wachsendes LNG-Angebot abgezeichnet.
Zusammenfassend stellte der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz im Gespräch mit WELT AM SONNTAG fest:
„Die ausführlichen und zutreffenden Expertisen des Bundesnachrichtendienstes waren eine wichtige Grundlage für unsere Entscheidungen, mit denen die Bundesregierung eine Gasmangellage vermeiden konnte“.
Abgesehen von dem hier nicht weiter zu kommentierenden Umstand, dass die politische Würdigung des BND erst post festum erfolgte, ganz im Gegensatz zu häufig unberechtigter oder überzeichneter Kritik in anderen Fällen, die meist vor Etablierung der Sachverhalte in aller Öffentlichkeit verbreitet wird, ist der Vorgang – so wie von WELT AM SONNTAG beschrieben – in mehrfacher Hinsicht ein Lehrstück für die Bedeutung von Intelligence im politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Entscheidungsprozess:
Der BND konnte detaillierte, belastbare und damit handlungsbefähigende Informationen zu einem komplexen Problem in kürzester Frist zur Verfügung stellen.
Diese Informationsüberlegenheit ermöglichte Handlungsüberlegenheit, im konkreten Fall die rechtzeitige Sicherung von Ressourcen auf dem Weltmarkt vor dem Zugriff anderer Bedarfsträger sowie in gleicher Weise die rechtzeitige Identifizierung und Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur zu Wasser und zu Lande.
Aus fachlicher Sicht ist offenkundig, dass dieses Maß an Informationsbreite und Detailtiefe nicht das Ergebnis einer operativen ad hoc-Maßnahme hatte sein können, sondern auf einer langfristig angelegten, problemorientierten detaillierten Beobachtung und Analyse des globalen Energiemarktes, seiner realwirtschaftlichen wie politischen Rahmenbedingungen und seiner Akteure beruhen musste. Hier konnte es nicht darum gehen, in größter Eile Ausschau nach möglichen, ggf. ja noch nicht einmal erprobten, einschlägigen Wissensträgern zu halten und diese für die Beratung der Bundesregierung zu gewinnen. Gefragt war vielmehr sowohl aus zeitlicher wie sicherheitlicher Perspektive präsentes, erprobtes und kompetentes Fachwissen samt sicherheitspolitisch-operativem Sachverstand.
Fachlich ist es ebenso offensichtlich, dass eine derartige profunde und detaillierte Expertise nur auf der Grundlage eines breit und nachhaltig angelegten nachrichtendienstlichen „all sources“-Ansatzes in Beschaffung und fachkompetenter Analyse hat erarbeitet werden können. Hier ist das Feld der öffentlich zugänglichen Informationen (OSINT) ebenso systematisch abzuschreiten wie die nur mit nachrichtendienstlichen Mitteln erschließbaren Sachverhalte, die es zu aggregieren, strukturieren und auf ihre Handlungsrelevanz hin aufzubereiten gilt.
Dieser Ansatz wiederum erfordert zwingend Personal mit hoher fachlicher Qualifikation und einem ausgeprägten sicherheitspolitischen Problemverständnis. Es geht ja hier nicht um Wissensakkumulation per se, sondern um handlungsbefähigendes Wissen zur rechtzeitigen Problemerkenntnis und Problemlösung. Die konsequente Orientierung an lage- und potentiell krisenrelevanten Strukturen und Wirkungszusammenhängen macht ja einen der wesentlichen Unterschiede zwischen rein akademischem und nachrichtendienstlichem Wissenserwerb aus.
Diese nachrichtendienstliche Fach- und Sachkenntnis ist wiederum notwendig das Ergebnis langjähriger qualifizierter Befassung mit dem jeweiligen Sachverhalt durch Mitarbeitende mit entsprechender spezifischer Vorbildung und adäquater Verweildauer in ihrem Arbeitsbereich, um überhaupt ein vertieftes Verständnis der komplexen Materie zu gewinnen und weiterzuentwickeln. Derartige Kompetenzen sind in allen organisatorischen Kontexten, nicht nur in Nachrichtendiensten, ein rares Gut, mit dem personalwirtschaftlich wie im Einsatz sorgsam und perspektivisch umzugehen ist. Mögliche Zielvorstellungen von Verwaltungen oder Managementberatungen einer Bildung von „Komfortzonen“ durch regelmäßige bereichsübergreifende Rotation entgegenzuwirken, wären hier ebenso sachwidrig wie schädlich. Sollten sich im Einzelfall „intellektuelle Nischen“ entwickeln, die ihre Spezialisierung als Selbstzweck verstehen und den Bezug zur Aufgabenstellung, hier also der Ermittlung, Analyse und Bereitstellung handlungsrelevanten Wissens für Entscheidungsträger, aus dem Auge verlieren, ist die Vermeidung derartiger Fehlentwicklungen eine Führungsaufgabe im jeweils zuständigen Fachbereich, dessen Leistungsfähigkeit in der abgestuften Verantwortung der Fach- und Linienvorgesetzten gegenüber der Leitung des Hauses liegt.
In der medial präsentierten Form zeigt der Fall damit eine wesentliche Dimension nachrichtendienstlicher Arbeit auf, in der sich Relevanz und Kompetenz eines Dienstes manifestieren: Es geht darum, in Feldern von strategischer Bedeutung für die äußere oder innere Sicherheit des Landes ein Maximum an handlungsbefähigendem, also ausreichend konkretem und belastbarem Wissen zu erwerben und vorzuhalten, um vorbeugend, spätestens aber im aktuellen Bedarfsfall durch Informationsüberlegenheit zu Handlungsüberlegenheit beizutragen. In der auf Handlungsbefähigung von Entscheidungsträgern hin orientierten fach- und sachkundigen Exzellenz besteht eine der zentralen, strategisch anzulegenden Befähigungen eines Nachrichtendienstes, nicht allein in einer strategischen Vorausschau, die ohne das Vorausdenken der operativen Relevanz des akkumulierten Wissens rasch in rein akademische Weltbetrachtung abzugleiten droht.
Das profunde und detaillierte Wissen um die aktuelle politische, wirtschaftliche, militärische und sicherheitliche Operationsumgebung auf nationaler wie insbesondere auch auf internationaler Ebene, samt der sich aus diesen Umständen ergebenden unmittelbaren Herausforderungen und Handlungsnotwendigkeiten ist eine anzustrebende nachrichtendienstliche Kernkompetenz, die – wie der hier in seinen Konturen medienbekannte Fall erkennen lässt – über Wohl und Wehe eines ganzen Landes entscheiden kann. Bei der Umsetzung der allseits geforderten weiteren Ertüchtigung der Dienste wird der qualitativ wie quantitativ adäquaten Kernbefähigung zur zeitgerechten Bereitstellung operationalisierbaren Wissens unter den dynamischen Rahmenbedingungen im zivilen wie militärischen Cyber- und Informationsraum auch weiterhin ein besonderes Augenmerk zuteilwerden müssen.
Für den Vorstand
(Dr. Gerhard Conrad)