Intelligence Studies - Zur Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Perspektive auf Nachrichtendienste

Bericht des GKND zum Vortrag von Herrn Professor Dr. Jan Hendrik Dietrich (Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung)


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Gerhard Conrad

Am 14. Mai 2024 konnte der GKND Herrn Professor Dr. Jan-Hendrick Dietrich, Leiter des Masterstudiengangs „Intelligence and Security Studies (MISS)“ an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung und an der Universität der Bundeswehr München, zu einem Vortrags- und Diskussionsabend begrüßen. Die Veranstaltung war Teil der öffentlich zugänglichen „Berliner Gespräche“, die der GKND in unregelmäßigen Abständen in der Mitte Berlins organisiert. Thema des Abends, das auf erfreuliches Interesse bei Vertretern von Academia (auch außerhalb Berlins), Think Tanks, Bundesregierung, Bundestag und Medien stieß, war die auch sicherheitspolitisch mehr denn je relevante Frage nach Sachstand und Perspektiven von Intelligence Studies in Deutschland.

Der Vortrag soll eine Reihe von Veranstaltungen in den Jahren 2024 und 2025 einleiten, die vom GKND als „Berliner Treffen“ im Centre Monbijou, wo möglich auch künftig in Zusam menarbeit mit dem Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung in Berlin ausgerichtet werden. Anliegen des GKND ist es hierbei, Vertreter der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die grundsätzlich Beiträge zum breiten, transdisziplinär verstandenen Feld der Intelligence Studies leisten, zu bitten, die jeweils spezifischen Fragestellungen und Forschungsrichtungen ihres Fachs in Bezug auf Intelligence zu erläutern und den bisherigen nationalen und internationalen Forschungsstand zu skizzieren. Wo möglich und angebracht, könnten auch konkrete Forschungsvorhaben und Ergebnisse vorgestellt werden. Hier stünde in besonderer Weise erneut das Professorium des Fachbereichs Nachrichtendienste im Fokus, das den wissenschaftlichen Ertrag des in Deutschland seit 2019 durchgeführten einzigartigen transdisziplinären Masterstudiengangs Intelligence and Security (MISS) in breiterem Kreis präsentieren und diskutieren könnte.

Hier könnten sich Ansatzpunkte für ein gemeinsames Programm ab Herbst und Winter 2024 ergeben mit dem versucht würde, im öffentlichen Raum ein vertieftes Verständnis von nachrichtendienstlicher Arbeit und ihrer Einbettung in Staat und Gesellschaft auf nationaler wie internationaler Ebene zu fördern. Der GKND fühlt sich diesbezüglich im Sinne seiner Satzung in besonderer Weise verpflichtet und bietet auf seiner Website bereits seit 2022 einen gesonderten Abschnitt „Intelligence Studies“ an.

Hier befindet sich eine einführende Zusammenstellung von wissenschaftlicher Literatur, Quellen und wissenschaftlichen Disziplinen, die Beiträge zu Intelligence Studies leisten, ebenso wie Hinweise zu Studiengängen, Forschungseinrichtungen und Vereinigungen mit thematischem Bezug zu den geheimen Nachrichtendiensten - in Deutschland sowie international. Diese Angaben ermöglichen einen ersten Einstieg in die Materie, sie könnten jedoch im Rahmen der nunmehr angestrebten kontinuierlichen Befassung mit dem Thema immer weiter aktualisiert und ergänzt werden.

Vor diesem Hintergrund dankt der GKND Herrn Professor Dietrich in besonderem Maße für seine Bereitschaft, einen ersten Grundsatzvortrag zum Thema zu halten und sein Manuskript als Anhaltspunkt und Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen zu überlassen.


Kernaussagen aus Vortrag und Diskussion:

  • Intelligence Studies weisen einen transdisziplinären Forschungsansatz auf, bei dem sich praktisches Wissen sowie wissenschaftliches Wissen ergänzen und sich historische, sozial-, rechts-, kultur- und naturwissenschaftliche Ansätze in ihren Ergebnissen bereichern können.

  • Der transdisziplinäre Ansatz entspricht der Vielfalt und Komplexität des Forschungsgegenstandes, der nachrichtendienstlichen Unterstützung von staatlicher sicherheitspolitischer Daseinsvorsorge, Resilienz, internationaler Selbstbehauptung und Interessenwahrnehmung.

  • Intelligence Studies sind das Ergebnis einer zunehmend systematischen Aufarbeitung der Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem 2. Weltkrieg mit dem damit einhergehen den Aufbau der modernen Nachrichten- und Sicherheitsdienste, vornehmlich im anglo-amerikanischen Raum, gewesen. Die Anglosphere ist so auch nach wie vor in den meisten Einzeldisziplinen der Intelligence Studies führend.

  • Eine breit angelegte wissenschaftliche Befassung mit Nachrichtendiensten existiert in Deutschland nicht, abgesehen von einer Historiographie, die sich in erster Linie mit den Diensten als Elemente nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und dem Unrechtsregime der DDR auseinandergesetzt hat. Machtmissbrauch und Verletzung elementarer Menschenrechte durch die deutschen Geheimdienste wie auch das moralische wie politische Scheitern der Systeme, in denen sie wirkten, haben in der deutschen Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit zu durchweg negativen Konnotationen alles Nachrichtendienstlichen und zu einer Fokussierung auf die Dienste als primäre Objekte umfassender parlamentarischer wie zivilgesellschaftlicher Kontrolle geführt.

  • Das Recht der Nachrichtendienste steht mithin neben geschichtlicher Aufarbeitung von Unrecht und Schuld im Zentrum der wissenschaftlichen wie politischen Aufmerksamkeit. Kernauftrag, Effektivität und Befähigungen der Dienste im demokratischen Rechtsstaat wie der Sicherheitsarchitektur, in der sie zur Wirkung kommen sollen, werden im deutschen politischen oder wissenschaftlichen Diskurs kaum umfänglicher wahrgenommen.

  • Nachrichtendienstforschung hat somit bis in die jüngste Vergangenheit keinen Platz an deutschen öffentlichen Universitäten und Forschungseinrichtungen gefunden. Spezifische Lehrstühle, Institute und Publikationen gibt es im Wesentlichen nur im Ausland. Für Nachwuchswissenschaftler fehlt, im deutlichen Gegensatz zum anglo-amerikanischen, aber auch sonstigen europäischen Raum, in der zivilgesellschaftlichen Academia eine Infrastruktur zu Studium, Weiterqualifikation und Forschung. Hier besteht politischer Handlungsbedarf in Form von konkreten Fördermaßnahmen in Bund und Ländern zur Einrichtung von Planstellen an Universitäten, Forschungseinrichtungen und Think Tanks.

    • Mit dem 2019 am Fachbereich Nachrichtendienste der HsBund und der Universität der Bundeswehr in München eingerichteten Masterstudiengang Intelligence and Security (MISS) ist hier ein wichtiger Paradigmenwechsel eingeleitet worden, dessen zivilgesellschaftliche Strahlkraft es jedoch angesichts der strikten sicherheitlich bedingten Fokussierung auf Inhouse-Ausbildung des künftigen Personals der Dienste erst noch zu etablieren gilt. Hier werden große Hoffnungen auf das akademische Potential des jungen, international vernetzten Professoriums zu setzen sein, das es auch „extra muros“ in geeigneten akademischen und öffentlichen Formaten systematisch zur Geltung zu bringen gilt.


1. Was ist „Intelligence“? – Anmerkungen zu einem nicht übersetzbaren Begriff

Eingangs spannte Professor Dietrich einen weiten Bogen der verschiedenen Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit „Intelligence“ im anglo-amerikanischen Raum Verbreitung gefunden hätten, beginnend mit dem Bibelzitat (Johannes 8:32) im CIA-Hauptquartier in Langley

„And ye shall know the truth and the truth shall make you free" (... und werdet die Wahrheiterkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“),

mit dem die grundlegende Bedeutung, Wertigkeit und Zielsetzung von Intelligence habe verdeutlicht werden sollen: Nur eine belastbare Erkenntnisgrundlage befähige zu sachgerechtem Handeln, ein Prinzip, das jeder Wissenschaftlichkeit zugrunde liege und nicht umsonst auch als Inschrift in zahlreichen Universitäten Eingang gefunden habe. Intelligence habe in diesem Zusammenhang einiges mit dem Wissenschaftsbegriff der Aufklärung gemein.

Andere Perspektiven und Annäherungen an den Begriff fänden sich bei Autoren wie dem amerikanischen Historiker und Gründervater der OSS/CIA-Auswertung, Sherman Kent (1903-1986), der, geprägt durch seine Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, „Strategic Intelligence...“ als „... knowledge vital for national survival“ umschrieben habe, und in einer ganzen Reihe späterer autoritativer Quellen, die alle nicht zufällig ebenfalls im angloamerikanischen Raum beheimatet seien:

Der CIA-Historiker Michael Warner begreife Intelligence als

secret, state activity to understand or influence foreign entities.“,

Marc Lowenthal, einer der Doyens der US Intelligence Forschung, schlage folgende Betrachtungsweise vor:

„Intelligence can be thought of as the means by which certain types of information are required and requested, collected, analyzed (…).

Peter Gill und Mark Phythian, deuteten auf die prozesshafte Dimension von Intelligence hin:

(...) the mainly secret activities – targeting, collection, analysis, dissemination and action – intended to enhance security and/or maintain power to competitors by forewarning of threats and opportunities“,

ebenso wie das US Department of Defense 2017 in seinem Dictionary of Military and Associated Terms:

„Intelligence is the product resulting from the collection, processing, integration, evaluation, analysis, and interpretation of available information concerning foreign nations, hostile or potentially hostile forces or elements, or areas of actual or potential operations.“

Auch Lowenthal biete eine weitere, organisationsorientierte Definition an:

„Intelligence can be thought of as the units that carry out its various functions.“

Der frühe Direktor der CIA (1953-1961), Allen Dulles (1893-1969), der mit einigen Umsturzoperationen und Mordanschlägen der späten 50er und frühen 60er Jahre das Bild der CIA als

aktionsorientiertem“ Geheimdienst geprägt habe, bezeichne wenig überraschend „Intelligence“ eher als „Handwerk”.

Die Autoren William Lahnemann und Ruben Arcos begriffen ihrerseits Intelligence Analysis als

„Kunst“, „depending largely on subjective, intuitive judgment“.

In seinem Standardwerk „Intelligence – From Secrets to Policy“, widme sich Marc Lowenthal, einer der prominentesten akademischen wie praxisorientierten Vertreter der amerikanischen Intelligence Community, den organisatorischen Rahmenbedingungen und Strukturen, in denen Intelligence entstehe und in politische Entscheidungsprozesse integriert werde.

Im Sammelband „Intelligence Theory. Key Questions and Debate“ von Marc Phythian, Peter Gill und Stephen Marrin würden ebenfalls vorwiegend prozessuale Dimensionen von Intelligence und Entscheidungsprozessen untersucht und diskutiert.

Die Summe und Vielfalt der verschiedenen Ansätze verdeutliche die Komplexität des Begriffs Intelligence, mit dem sowohl das Produkt als auch die Methoden und Rahmenbedingung seiner Erstellung wie seiner Bedeutung für und Nutzung in politischen oder militärischen Entscheidungsprozessen umschrieben würden.

Letztlich könne man sich jedoch bei der vorliegenden Betrachtung auf die Aspekte der Operationalisierung von Intelligence, auf „Intelligence as a working concept“, konzentrieren. Hier fassten sowohl Mark Lowenthal als auch das Department of Defense die verschiedenen Dimensionen von Intelligence in einer anwendungsorientierten Form zusammen:

„Intelligence is the process by which specific types of information important to national security are requested, collected, analyzed and provided to policy makers; the products of that process; the safeguarding of these processes and this information by counterintelligence activities; and the carrying out of operations as requested by lawful authorities.”

„Intelligence: 1. The product resulting from the collection, processing, integration, evaluation, analysis, and interpretation of available information concerning foreign nations, hostile or potentially hostile forces or elements, or areas of actual or potential operations. 2. The activities that result in the product. 3. The organizations engaged in such activities.“

2. Intelligence Studies als wissenschaftliche Perspektive

So vielfältig das Studienobjekt, so breit angelegt seien die wissenschaftlichen Ansätze zu seiner Bearbeitung im Rahmen der „Intelligence Studies“. Hier falle allerdings allgemein ein besonders starker Anwendungsbezug auf: Im Vordergrund stehe erkennbar nicht Grundlagenforschung, sondern das Begriffspaar „Academia and Practice“.

Der britische Physiker und im Einsatz naturwissenschaftlicher Methoden im Kampf gegen die Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs äußerst erfolgreiche Geheimdienstler Reginald Victor Jones (1911-1997) habe so nicht nur den Begriff der „scientific intelligence“ geschaffen, sondern ebenfalls auf die vitale Bedeutung der Warnfunktion hingewiesen, die eine wesentliche Begründung und Aufgabe nachrichtendienstlicher Aufklärung sei:

„I conceived scientific intelligence, with its constant vigil for new applications of science to warfare by the enemy, as the, first watchdog of national defence; and to be a good watchdog it is not sufficient to detect the approach of danger - you must bark at the right time: not too early, for then your master becomes dulled to danger by too much barking, nor too late, for he may then be overtaken by disaster; and you must not bark at false alarms.“Sein amerikanischer Kollege Sherman Kent wiederum verweise auf die inhärente methodische

Sein amerikanischer Kollege Sherman Kent wiederum verweise auf die inhärente methodische Verwandtschaft zwischen Wissenschaft und Intelligence:

„In a sense, intelligence organizations must be not a little like a large university faculty. They must have the people to whom research and rigorous thought are the breath of life, and they must accordingly have tolerance for the queer bird and the eccentric with a unique talent. They must guarantee a sort of academic freedom of inquiry and must fight off those who derogate such freedom by pointing to its occasional crackpot finding.“

Peter Gill und Mark Phythian beschrieben die Bedeutung der Intelligence Studies für die Analyse nachrichtendienstlichen Handelns, die ihrerseits zu einem vertieften Verständnis des Phänomenbereichs und seines professionellen, zielorientierten, aber auch verantwortungsvollen Einsatzes beitragen solle:

„At best, then, intelligence studies should not just service national security intelligence; it has a much broader role and responsibility, that is, not only to be a „critical friend“ to intelligence practitioners but also to speak to a wider audience of citizens who are concerned about the effectiveness, control, and oversight of this important activity, whether conducted by states or non-states actors.“

3. Intelligence Studies im Wissenschaftssystem

Angesichts der Vielgestalt des beschriebenen Phänomenbereichs Intelligence könne es nicht verwundern, dass Intelligence Studies schwerlich als eigenständiges Fachgebiet anzusehen seien. Sie umfassten vielmehr eine Vielzahl von Einzelwissenschaften, deren Erkenntnisse und Methoden auf „Intelligence“ Anwendung finden könnten.

Stephen Marrin, Autor des Standardwerks Improving Intelligence Analysis. Bridging the Gap between Scholarship and Practice, verdeutliche dies wie folgt:

“(…) intelligence studies as a field of knowledge is subordinate to other more traditional disciplines including political science, history, anthropology, sociology, psychology and communications disciplines”.

Intelligence Studies, so Professor Dietrich, seien ihrer Natur nach mithin transdisziplinär und folgten so dem Prinzip integrativer Forschung, die wissenschaftliches Wissen und praktisches Wissen ebenso verbinde wie die damit implizierten Disziplinen und Fachgebiete.

Ein lebensweltliches Phänomen wie etwa ein Fall von Intelligence Failure (Fehlleistung von Nachrichtendiensten) könne und müsse so in seiner Kausalität und in seinen Implikationen letztlich aus verschiedenen methodischen Perspektiven betrachtet und analysiert werden, um zu einem tragfähigen, im Idealfall handlungsleitenden Ergebnis zu kommen. Involviert seien somit in der Regel Ansätze aus der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaften, Soziologie, Psychologie, Verwaltungswissenschaften, Verwaltungsrechtswissenschaft und Strafrechtswissenschaft, darüber hinaus aber auch gegebenenfalls der Naturwissenschaften bis hin zu den Dimensionen von CyberSicherheit und Informationstechnologie einschließlich Künstlicher Intelligenz, Datenanalytik und Quantum Computing als künftige Bestimmungsgrößen in nahezu allen Bereichen von Intelligence.

Entwicklungslinien der Intelligence Studies

Die bisherigen Entwicklungslinien der Intelligence Studies reflektierten, so Professor Dietrich, die beschriebene Vielfalt und Komplexität des Sujets, zugleich aber auch die spezifischen, in der Geheimhaltung nachrichtendienstlichen Handelns liegenden Einschränkungen, denen die Forschung naturgemäß unterworfen seien.

Empirie könne so zumeist nur auf der Grundlage historischer, deklassifizierter Sachverhalte betrieben werden. Dass dieser Ansatz jedoch bereits zu tragfähigen Teilergebnissen und perspektivischen Erkenntnissen führen könne, beweise bereits die „British school of intelligence studies“ mit dem Oeuvre ihrer international bekannten Vertreter Richard Aldrich, Keith Jeffrey, Michael Goodman, Christopher Andrew und Michael Herman.

In Deutschland stünden hier in der jüngsten Vergangenheit die umfangreichen Arbeiten der 2011 von BND-Präsident Uhrlau ins Leben gerufenen Unabhängigen Historikerkommission (UHK) zur Geschichte des Bundesnachrichtendienstes in quantitativer wie qualitativer Hinsicht im Mittelpunkt. Daneben verdienten Arbeiten zur Geschichte der deutschen Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg Beachtung, die zumeist im Rahmen eines militärgeschichtlichen Kontexts stünden, wenn sie nicht vorwiegend der Aufklärung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft als solcher gewidmet seien.

m Kontext der NS-bezogenen Historiographie stehe auch die Arbeit von Constantin Goschler und Michael Wala zur Geschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Die 1998 gegründete Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und insbesondere die Unterlagen aus den Beständen des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi-Unterlagen) böten seit Jahrzehnten eine bedeutsame Grundlage für nicht nur geschichtswissenschaftliche nationale wie internationale Forschungsansätze. Die verschiedenen Traditionen und Entwicklungslinien in der Historiographie von Nachrichtendiensten habe unlängst Rüdiger Bergien, Professor am Fachbereich Nachrichtendienste der HsBund, aufgeschlüsselt und hier insbesondere auch auf ihre Implikationen für ein vertieftes Verständnis von nationalen Intelligence-Kulturen mit ihren Konsequenzen für die politische Verortung und Verfasstheit von Geheim- und Nachrichtendiensten sowie deren Behandlung in Wissenschaft und Forschung hingewiesen. Bergien zeige aber eben auch auf, welche Forschungsfelder dem historiographischen Zugriff offenstünden, der wiederum die Grundlage für analytische Ansätze anderer Disziplinen schaffe. Genannt würden hier als Grundthemen Organisationsgeschichte, Informationsbeschaffung und Auswertung, Verdeckte Operationen, Nachrichtendienste und Gesellschaft, Kontrolle der Nachrichtendienste in liberalen Gesellschaften, Kulturelle Repräsentationen und Technisierung und Wissensproduktion, mithin alles Bereiche, die von erheblicher Relevanz auch für sozial- und politikwissenschaftliche wie rechtswissenschaftliche, darüber hinaus aber auch naturwissenschaftlich-technische Ansätze seien, deren Ergebnisse deutlich über die jeweilige historische Bedingtheit des Forschungsobjekts hinausweisen könnten.

Nicht zuletzt auf historischer oder professioneller Erfahrungsgrundlage seien in den vergangenen Dekaden – erneut vorwiegend im angloamerikanischen Raum – zahlreiche Arbeiten mit definitorisch/methodologischen Ansätzen zum Wesen, den Bedingtheiten und Zukunftsperspektiven von Intelligence entstanden. Hier seien exemplarisch genannt:

  • Intelligence Theory. Key Questions and Debates, edited by Peter Gill, Stephen Marrin and Mark Phythian, Routledge 2009

  • The Future of Intelligence, Mark M. Lowenthal, Wiley 2017

  • The Future of Intelligence – Challenges in the 21st century, edited by Isabelle Duyve-steyn, Ben de Jong, Joop van Reijn, Routledge 2014

  • Psychology of Intelligence Analysis, Richard J Heuer, 2010

  • Structured Analytic Techniques For Intelligence Analysis, Richard J. Heuer, Randolph H. Pherson. CQ Press, 3. Aufl. 2019

Von erheblicher auch politischer Bedeutung seien wiederum organisatorisch/funktionale Ansätze, wie sie in Studien, aber auch parlamentarischen Untersuchungsberichten mit zum Teil reichhaltigem Anschauungsmaterial reflektiert würden:

  • National Intelligence Systems. Current Research and Future Prospects, Wilhelm Agrell, Cambridge University Press 2009

  • Counter-Terrorism Intelligence Cooperation in the European Union, Eveline R. Hertzberger, United Nations 2007

  • National Security Intelligence. Secret Operations in Defense of the Democracies, Loch K. Johnson, 3. Aufl. 2024

  • Butler Report. Review of Intelligence on Weapons of Mass Destruction. Presented to Parliament by the Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs by Command of Her Majesty, July 2004

  • Berichte der NSU-Untersuchungsausschüsse

Eng verwandt hiermit seien funktionale und rechtliche Aspekte von Intelligence, die zumeist unter dem Begriff der Governance zusammengefasst und in einer bereits recht breiten Palette von Standardwerken, erneut im anglo-amerikanischen Raum, behandelt würden:

  • International Intelligence Cooperation and Accountability, Hans Born, Iain Leigh, Aidan Wills, Routledge 2011

  • Democratic Control of Intelligence Services. Containing Rogue Elephants, Maria Caparini, Hans Born, Routledge 2007

  • The Handbook of European Intelligence Cultures, Bob de Graaff, James M. Nice, Rowman & Littlefield Publishers, 2016

  • Policing Politics, Security Intelligence and the Liberal Democratic State, Peter Gill, Routledge 1994

  • Estimative Intelligence in European Foreign Policymaking. Learning Lessons from an Era of Surprise, Christoph Meyer (ed.), Edinburgh University Press 2022

  • Warning about War: Conflict, Persuasion and Foreign Policy, Christoph Meyer, Cambridge University Press 2021

  • Why Intelligence Fails: Lessons from the Iranian Revolution and the Iraq War, Robert Jervis, Cornell University Press, 2010

  • Spying Blind. The CIA, the FBI and the Origins of 9/11, Amy Zegart, Princeton University Press 2009

  • Flawed by Design. The Evolution of the CIA, JCS and NSC, Amy Zegart, Stanford University Press 1999

Dieser von Professor Dietrich vorgestellte notwendig nur kursorische Überblick über einführende einschlägige Literatur sollte das umfassende Potential verdeutlichen können, das Intelligence Studies für das Verständnis einer Kernfunktion staatlicher Daseinsvorsorge auch in Deutschland haben. Erschlossen und genutzt werden könne dieses jedoch nur durch eine wissenschaftliche Befassung in angemessenem organisatorischem Rahmen, der es ermögliche, die Vielzahl der Themen und Fragestellungen wie auch der auf diese anzuwendenden Disziplinen in adäquater Qualität und Quantität abzubilden.

Intelligence Studies – Infrastruktur

Bereits die umfangreiche beispielhafte Auswahl an Veröffentlichungen, so Professor Dietrich, weise auf eine entsprechende Vielzahl und Komplexität erneut zumeist internationaler Herausgeber und deren Produkte hin, die einer strukturierten Aufarbeitung des Themenkomplexes Intelligence gewidmet seien. Einen ambitionierten Überblick über die internationale Szene biete hier auf immerhin 540 Seiten das „Routledge International Handbook of Universities, Security and Intelligence Studies“ (2022). Im aktuellen Kontext seien lediglich einzelne Beispiele benannt, die einen ersten Eindruck von der Vielfalt auf internationaler Ebene vermitteln sollten:

  • Schriftenreihen:

    • Studies in Intelligence Series. Center for the Study of Intelligence, CIA (https://www.cia.gov/resources/csi/studies-in-intelligence/)

  • Handbücher:

    • Intelligence Law and Policies in Europe. A Handbook, Beck/Hart/Nomos 2019

    • Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, Boorberg 2017

  • Lehrbücher:

    • Introduction to Intelligence Studies, By Carl J. Jensen, III, David H. McElreath, Melissa Graves, 2018

  • Fachzeitschriften:

    • Intelligence and National Security

    • International Journal of Intelligence and Counterintelligence

    • Zeitschrift für das Gesamte Sicherheitsrecht (GSZ) 2017ff.

  • Sammelbände:

    • Nachrichtendienste im demokratischen Rechtsstaat. Beiträge zum Sicherheitsrecht und zur Sicherheitspolitik, Mohr, Tübingen 2019ff.

Dieser Fülle entspreche wiederum das Spektrum institutionalisierter Forschung im überwiegend aber keineswegs ausschließlich angloamerikanischen Raum. Auch hier seien lediglich ein paar wenige Beispiele genannt:

  • Institute:

    • Oxford Intelligence Group, Research initiative based at Nuffield College, that is broadly concerned with the academic study of Intelligence

    • Brunel Centre for Intelligence and Security Studies (BCISS), London: UK’s first formally constituted research centre established to study intelligence agencies and their role in government.

    • King's Centre for the Study of Intelligence (KCSI), King’s College, London

    • College for Strategic Intelligence Research (CSI), National Intelligence University

  • Professuren:

    • Julien Richards, Director of BUCSIS at Buckingham University

    • Michael Goodman, Professor of Intelligence and International Affairs, King’s College London

    • Philip Davies, Brunel University, BCISS, London

    • Sir David Omand, King’s College, London, Sciences Po, Paris

    • Thomas Rid as Professor of Strategic Studies, Johns Hopkins University School of Advanced International Studies (SAIS)

  • Förderprogramme:

    • National Intelligence University, USA; Research Fellows Program

    • Council on Foreign Relations, USA, National Intelligence Fellowship

Die international bereits recht ausgeprägte institutionelle Infrastruktur finde ihren Niederschlag und Ausdruck auch im Bereich der Wissenschaftskommunikation, die hier ebenfalls nur ganz kursorisch angesprochen werden könne. Immerhin könne hier aber in Deutschland auf eine sich entwickelnde Community im Recht der Nachrichtendienste und Sicherheitsrecht verwiesen werden.

  • Fachtagungen:

    • Cambridge Intelligence Seminar, University of Cambridge, Faculty of History

    • Symposium zum Recht der Nachrichtendienste, (BMI/BKAmt) 2016 ff

    • IAFIE Europe Fachtagungen, z.B. IAFIE EC Annual Conference 2024. Navi gating the Future of Intelligence Education: Adapting to new Realities

  • Fachgemeinschaften:

    • International Association for Intelligence Education

    • International Intelligence History Association (*1993)

Das internationale Feld der Intelligence Education sei ebenfalls reich bestellt, wie bereits das zuvor zitierte Routledge Handbook eindrucksvoll dokumentiere. Hier seien zur Illustration erneut nur einige wenige renommierte Adressen und Studiengänge erwähnt:

  • Postgraduate Programme leading to MA in Intelligence and Security Studies, Brunel University, London

  • PSIA at King’s College London, Intelligence & International Security, MA

  • University of Portsmouth, Intelligence MSc

  • University of Leicester, Intelligence MSc

  • Georgetown University, School of Continuing Studies, Degrees and Programmes in Applied Intelligence

  • National Intelligence University, Bachelor’s, Master’s Programmes, Postgraduate Programmes, Doctoral Programmes

Eine gewisse Sonderrolle spiele hierbei das 2019 in Paris gegründete intergouvernementale „Intelligence College in Europe (ICE)“, das den Angehörigen der Nachrichtendienste der Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis verschiedene interdisziplinäre Aus- und Weiterbildungsmodule auch unter Einbeziehung europäischer Academia anbietet. Hier handele es sich mithin in erster Linie erneut um „inhouse“-Formate mit beschränkter Ausstrahlung auf die zivilgesellschaftliche Academia: Nachrichtendienste exponierten ihre Mitarbeitenden nun einmal nur ungern gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit. Gleichwohl ermögliche das ICE einen breiteren Dialog zwischen Wissenschaft und Diensten und leiste damit bereits einen wichtigen Beitrag zu Forschung, Lehre und Optimierung nationalen wie transnationalen staatlichen Handelns im Bereich der Sicherheitsgewährleistung.

Intelligence Education in Germany

In Deutschland, dies sollten die bisherigen Ausführungen von Professor Dietrich bereits ahnen lassen, existieren Lehrstühle oder Institute für Intelligence Studies – mit einer signifikanten Ausnahme – nicht. In einzelnen Fachdisziplinen wie Geschichte und Rechtswissenschaften würden gelegentliche Vertiefungen und Promotionsmöglichkeiten zu Einzelthemen mit nachrichtendienstlichem Bezug angeboten. Politik- und sozialwissenschaftliche Ansätze bestünden neuerdings in Erfurt, Chemnitz und Bonn, allerdings befinde sich all dies organisatorisch in ersten Ansätzen und sei budgetär mit Stellen oder Fellowships so gut wie nicht hinterlegt. Intelligence Studies teilten hier traditionell das Schicksal der an deutschen Universitäten über Zivilklauseln verpönten Militärforschung.

Eine organisatorisch wie wissenschaftlich signifikante, in ihrer zivilgesellschaftlichen Auswirkung jedoch bisher begrenzte Ausnahme konnte Professor Dietrich jedoch mit dem seit 2019 bestehenden Masterprogramm Intelligence and Security Studies (MISS) des Fachbereichs Nachrichtendienste an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung in Zusammenarbeit mit der Universität der Bundeswehr München vorstellen. Hier sei auf Anregung des Bundeskanzleramts, in Kooperation mit dem Innen- und Verteidigungsministerium sowie den Nachrichtendiensten des Bundes ein transdisziplinärer Masterstudiengang ausgebracht worden, der in Ansatz und Ausprägung ein internationales Alleinstellungsmerkmal unter den verschiedenen einschlägigen Studiengängen darstelle.

Mit ihm, so Dietrich, verbinde die Bundesregierung folgende Zielsetzungen, die sich jedoch überwiegend auf die interne Ausbildung und Weiterqualifizierung des nachrichtendienstlichen Nachwuchses richteten und damit in ihrer Umsetzung gesonderten sicherheitlichen Einschränkungen unterlägen:

  • Professionalisierung der Intelligence-Ausbildung

  • Anschluss an internationale Ausbildungsstandards

  • Standardisierung und Vernetzung der Praxis

  • Stärkung der Innovationsfähigkeit der Praxis

  • Adressierung zivilgesellschaftlicher Anliegen

  • Ausbau intelligence-spezifischer Forschung

Die HsBund habe am Fachbereich Nachrichtendienste in wenigen Jahren die unter anderem folgenden Stellen einrichten können:

  • W-3 Professur für Terrorismusforschung

  • W-3 Professur für Nationales und Internationales Sicherheitsrecht

  • W-3 Professur Internationale Politik (Schwerpunkt Ostasien/Pazifik)

  • W-1/W-2 (Tenure Track) Professur Internationale Politik (Schwerpunkt Russland/Ost-europa)

  • W-1/W-2 (Tenure Track) Professur für Intelligence Analysis

  • W-1/W-2 (Tenure Track) Professur für Psychologie der nachrichtendienstlichen Praxis

  • W-2 Professur Intelligence History

  • W-2 Professur Intelligence Governance

  • W-2 Professur Politische Ideengeschichte und Extremismusforschung

  • W-1/W-2 (im Tenure Track) Professur für Defence Intelligence

Noch nicht vertreten, wenngleich fachlich unverzichtbar, sei jedenfalls noch eine Professur für Soziologie der nachrichtendienstlichen Praxis.

An der Universität der Bundeswehr in München werde wiederum mit Schwerpunkt die naturwissenschaftlich-technische Dimension von Intelligence, insbesondere im Bereich Cyber-Sicherheit und fortgeschrittener Informationstechnologie, einschließlich KI und Quantum Computing, betrachtet. Hierfür stünden 8 Professuren, 5 wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, und 6 Lehrbeauftragte zur Verfügung.

Die von Professor Dietrich beigefügten, weitgehend selbsterklärenden Schaubilder (Anlage) verdeutlichen den modularen Aufbau des Studiengangs und seine auch international hinterlegte administrative und akademische Governance. Auch hierin zeige sich ein auch auf europäischer und internationaler Ebene festzustellendes Alleinstellungsmerkmal des MISS, der die verschiedensten Fachdisziplinen ebenso zusammenführen solle wie das gesamte Spektrum des sicherheitlichen und nachrichtendienstlichen Regierungshandelns, um dessen vertieftes Verständnis und kritische Analyse es ja im Interesse einer neuen Qualität und Zukunftsfähigkeit von Intelligence in Deutschland gehe.

Aus dem Vorangesagten, so Professor Dietrich sehr klar, ergebe sich jedoch auch, dass es sich beim MISS um einen Studiengang „intra muros“ handle, der nur durch die individuellen Forschungsarbeiten des Professoriums zivilgesellschaftliche und akademische Strahlkraft entwickeln könnr, sofern diese nicht dem Geheimschutz unterlägen. Durch die Konzentration von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Dienste des Bundes und der Länder sowie junger Offiziere der Bundeswehr als Studierende müssten besondere Maßnahmen zum Schutz von Identität und Arbeitsschwerpunkt ergriffen werden. Der Studiengang sei somit der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Das Professorium müsse sich vor Berufung wie hauptamtliches ND-Personal einer Sicherheitsüberprüfung der höchsten Stufe unterziehen. Internationales Lehrpersonal sei damit per se ausgeschlossen; die akademische Synthese von bisher unbekanntem nachrichtendienstlichem Gegenstand der Forschung und Lehre mit dem jeweils vertretenen Fach müsse vom Professorium in Eigenverantwortung und im Zusammenwirken mit den jeweiligen Nachrichtendiensten, quasi als Pionierarbeit, geleistet werden. Unter diesen Rahmenbedingungen wachse eine erste Generation, eine Avantgarde akademisch ausgewiesener deutscher Vertreter von Intelligence Studies heran, die über ihre auch international vernetzte Forschung „extra muros“ wirkten und inhaltliche wie praktische Anstöße für eine Verbreitung der Disziplin auch in Deutschland geben könnten.

Hier entwickelten sich erste Kooperationsprojekte mit dem Institut für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam unter Leitung von Professor Sönke Neitzel, dem Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) an der Universität Bonn unter Leitung von Professor Ulrich Schlie oder dem Bereich Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität Erfurt unter Leitung von Professorin Sophia Hoffmann. Diesen noch in seinen Anfängen stehenden Prozess werde es im allseitigen Interesse zu fördern gelten, mit dem notwendigen Ziel der Ausbringung einer Forschungsinfrastruktur mit ausgewiesenen Stellen auch an deutschen Universitäten und Einrichtungen wie der BAKS, der SWP oder der DGAP. Sicherheitspolitik in Forschung und Lehre, dies zeigten die geschilderten Rahmenbedingungen im Ausland eindrücklich, bleibe ohne institutionell verankerte Intelligence-Forschung fachlich defizitär.

Befindet sich die deutsche Intelligence Culture somit im Wandel? Professor Dietrich war hier eher skeptisch. Das wäre angesichts der über Jahrzehnte gewachsenen gesellschaftlichen und politischen Perzeptionen und mentalen Beharrungskräfte trotz der allseits immer wieder evozierten Zeitenwende zu kühn zu behaupten.

Noch ständen im öffentlichen Diskurs die gewollt kritischen bis polemischen Darstellungen und negativen Kommentierungen zu Nachrichtendiensten im Vordergrund. Noch würden Dienste tendenziell als ebenso inkompetent wie gefährlich, letzten Endes eher als Teil eines Sicherheitsproblems denn als Beitrag zu seiner Lösung perzipiert, auch wenn bei Krisen und konkreten Bedrohungen reflexartig nach umfassender, sofortiger Leistungsfähigkeit und Lösungskompetenz gerufen werde, zumeist verbunden mit dem Vorwurf, dass diese sich dann „wie üblich“ nicht im gewünschten Umfang einstelle. Die notwendigen Voraussetzungen der geforderten nachrichtendienstlichen Befähigungen blieben, noch weniger als im Themenbereich der militärischen Verteidigungsfähigkeit, unbeachtet oder würden auch bewusst verdrängt. Ein abschließender kurzer Blick auf deutschsprachige Publikationen und gesellschaftliche Initiativen zum Thema Nachrichtendienste, den Professor Dietrich vermitteln konnte, verdeutlichte diese Mentalität.

Die Fokussierung auf die Zeiten von Gewaltherrschaft und Unrechtsstaat im Zusammenhang mit deutschen Nachrichtendiensten bleibe weitgehend ungebrochen; die Dienste seien überwiegend Gegenstand der historischen, aber auch politischen Aufarbeitung. Im Vordergrund stünden die Grenzbereiche geheimdienstlicher Aktivitäten im zugespitzten machtpolitischen Konflikt und Krieg, bis hin zum Auftragsmord, zu Sabotage, Subversion und Manipulation politischer Prozesse. Unbeachtet bleibe hierbei allerdings, dass diese Vorgehensweisen in erster Linie Ausdruck und Ergebnis einer politischen Entscheidung des jeweiligen Staats, der jeweiligen Regierung seien, die sich zur Durchsetzung ihrer Interessen derartiger Mittel meint bedienen zu müssen, sei es im Innen- oder Außenverhältnis. Der wesentliche Kernauftrag von Nachrichtendiensten, die Beschaffung und Analyse von relevanten Informationen zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen, die ihrerseits der Wahrung der eigenen Sicherheit und Interessen dienen sollten, trete hierbei zugunsten der spektakulären Ausnahmeerscheinung, der Mystifizierung und Dämonisierung des „Geheimen“ meist in den Hintergrund.

In dieser Tradition, die auf tatsächliche oder vermutete Grenzüberschreitungen, Fehlleistungen oder gar Verschwörungen abhebe, stünden die populären Publikationen zu deutschen Diensten wie Juretzkos „Bedingt Dienstbereit“, Ulfkottes „Verschlusssache BND“, Schmidt-Een-booms vielfältiges Oeuvre, Wilhelm Dietls „Enthüllungen“ oder auch „Spionage unter Freunden“ von Franceschini, Friis und Schmidt-Eenboom, um nur einige besonders prominente Fälle zu nennen. In gleicher Weise fänden die Stimmen und Institutionen, die unter Verweis auf das Potential gravierender Freiheits- und Grundrechtsgefährdungen eine umfassende Kontrolle der Dienste und all ihrer Aktivitäten forderten und umsetzten, weitgehende Aufmerksamkeit und breite politische, gesellschaftliche und budgetäre Unterstützung.

Fachlich an der Zweckbestimmung von Diensten, ihren Methoden, Verfahren, Zielsetzungen und Befähigungen orientierte, auch öffentlichkeitswirksame Stimmen aus den Diensten oder ihrem sicherheitspolitischen Umfeld gebe es dagegen kaum, ganz im Gegensatz zur oben exemplarisch erwähnten umfänglichen angloamerikanischen Literatur. Genannt werden könnten in diesem Zusammenhang allenfalls „Die Unsichtbaren“ von Maik Baumgartner und Ann-Katrin Müller mit ihrer lehrreichen Fokussierung auf Frauen als Geheimagentinnen, oder „Keine Lizenz zum Töten“ von Gerhard Conrad, der vor dem Hintergrund der eigenen persönlichen wie dienstlichen Biographie auf die Dimensionen Auftrag, notwendige Befähigungen, Verfahren und Limitationen, aber auch Intelligence Failures und ihre Ursachen, in den Blick genommen habe. Insgesamt falle auf, dass das Genre der – sicherheitlich zuträglichen – auf Erklärungszusammenhänge und Hintergründe abhebenden Autobiographie von Nachrichtendienstlern in Deutschland weitgehend unbekannt sei. Nach Reinhard Gehlens “Der Dienst“ falle hier erst wieder Gerhard Schindlers im Rückblick auf seine Präsidentschaft (2011-2016) verfasste Streitschrift „Wer hat Angst vor dem BND?“ ins Auge. Und über Ertrag und Motivation beider Werke lasse sich sicherlich trefflich streiten.

An diesem Trend, angesichts dessen die Möglichkeiten eines kleinen Vereins wie des GKND in ihrer breiten medialen Wirksamkeit ebenso limitiert erschienen wie die Symposien und Berichte von BMI, BfV und BKA oder die seltenen öffentlichen gemeinsamen Stellungnahmen des Parlamentarischen Kontrollgremiums, werde sich letztlich nur im Rahmen einer umfassenden Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit von Bund und Ländern vor dem Hintergrund der nunmehr wieder erfahrbaren äußeren wie inneren Bedrohung unserer Sicherheitslage und Perspektiven etwas ändern können.

Einen wesentlichen Anteil an diesem sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel könne, nein solle auch eine breitere wissenschaftliche Befassung mit nachrichtendienstlichen Fragen im Rahmen einer aufzubauenden sichtbaren akademischen Intelligence Community haben.

Für den Vorstand

Dr. Gerhard Conrad

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Rede von BND-Präsident Dr. Bruno Kahl