Auf der Suche nach Kritikpunkten
Anmerkungen zur aktuellen Berichterstattung zum Afghanistan-Untersuchungsausschuss
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Dr. Gerhard Conrad
Erneut ist die ZEIT im Zusammenhang mit der Befragung von BND-Präsident Dr. Kahl am 04. Juli 2024 mit einem Hintergrundbericht hervorgetreten, in dem auf der Grundlage einer eigenen Auswertung der ihr 2023 offenbar rechtswidrig zugespielten Ausschuss-Akten das „Versagen des Dienstes vor der Machtübernahme der Taliban“ dargelegt werden sollte. Der GKND hatte bereits im Januar 2024 kritisch zu einem ersten derartigen Versuch Stellung genommen und sieht sich nunmehr in seiner damaligen skeptischen Bewertung, mit der er vor dem Risiko einer „interessegeleiteten Florilegiensammlung“ warnte, ein weiteres Mal bestätigt.
Bereits die Überschrift gibt Tenor und Tendenz des Artikels wieder:
„Die fatale Fehleinschätzung des BND. Ein Dienstflugzeug in Wartung, lückenhafte Geheimanalysen und schulterzuckende Agenten: Interne Akten des BND zeigen sein Versagen vor der Machtübernahme der Taliban“.
Wenn schon der Umstand, dass ein Dienstflugzeug seine aus elementaren Erfordernissen der Flugsicherheit firmenseitig zwingend vorgegebenen Wartungstermine einzuhalten hat, als prominentes Indiz für dienstliches „Versagen“ bemüht werden muss, stimmt dies nicht besonders zuversichtlich in Bezug auf die weitere Lektüre, die insoweit dann auch den Erwartungshorizont bestätigt.
Melodramatisch werden die „dunkelsten Stunden der Nato“ beim Zerfall des Regimes in Kabul evoziert, um dann zu behaupten, dass bei der
„Erforschung der Schuldfrage vieles immer wieder zu jenem 13. August zurückführe, in den Krisenstab“.
All dies habe
„mit dem zu tun, was die damalige Vizepräsidentin des BND, Tania von Uslar-Gleichen, an jenem Tag gesagt haben soll“.
Sie habe, unbeirrt vom aufziehenden Chaos vorgetragen, dass die Taliban vorerst wohl nicht die Hauptstadt einnehmen würden. Diese Einschätzung habe bereits damals im Widerspruch zu dem gestanden, was andere Sitzungsteilnehmer, z.B. der Chargé d’affaires Jan Henrik van Thiel, laut Protokoll berichtetet hätten. Dieser habe ja aus erster Hand den Zerfall um sich herum beobachten können, doch sei er in seiner offenbar recht expliziten Intervention von Seiten der Hausleitung unterbrochen worden. Auch die BND-Vizepräsidentin habe seinen Protest nicht weiter kommentiert.
BND-intern habe es – so die ZEIT – jedoch bereits am 12.08.21 sehr negative Aussagen gegeben: Die afghanischen Sicherheitskräfte seien „weitgehend handlungsunfähig“, oder noch am Morgen des 13.08.21, dass Afghanistan „durch die Decke“ gehe. All dies habe jedoch offenbar nicht den Weg in den Sprechzettel der Vizepräsidentin gefunden, gleichwohl aber indirekt schon einmal zu der vorsorglichen Forderung geführt, 250 bis 300 BND-Ortskräfte ausfliegen zu lassen. Viel Schlüssiges lässt sich natürlich aus diesen Ausführungen nicht ableiten: Sie verdeutlichen lediglich, dass es im Dienst vereinzelt die Sorge gegeben habe, dass die Dinge recht rasch (wie rasch aber?) ein schlechtes Ende nehmen würden.
Moniert wird „Politikern zufolge“ auch, dass der BND-Präsident der Krisenstabssitzung ferngeblieben sei. Mit der Sache selbst hat dies allerdings kaum etwas zu tun, es sei denn, man wolle von einer ganz besonderen, allein dem Amt geschuldeten Kompetenzvermutung ausgehen. Es ist immer noch der Dienst mit seinen Expertinnen und Experten, der die Leitung vorbereitet, und der Sachvortrag sieht für den Präsidenten in der Regel ebenso aus wie für die Vizepräsidentin, jedenfalls sollte er das. Hier könnte allenfalls noch von dritter Seite auf klandestines Herrschaftswissen und überlegene Problemsicht aus privilegierten Kontakten mit ausländischen Nachrichtendienstchefs spekuliert werden. Für den Betrachter entsteht jedoch erst einmal der Eindruck, es gehe hier um Mythenbildung oder „Haltungsnoten“ und den Versuch der politischen Schuldzuweisung, nach dem Motto „mit dem Präsidenten wäre das nicht passiert“. Auch wäre der Umstand, dass Dr. Kahl bei der Sitzung fehlte, auch in Relation zur übrigen Besetzung der Krisensitzung zu bringen sein: Auch Staatssekretärin Leendertse musste urlaubsdingt für ihren Kollegen Berger (SPD) bzw. für den Außenminister (SPD) einspringen. Hierüber wird jedoch kein Wort verloren, wohl aber, dass man ihn, so Ausschussvorsitzender Stegner (SPD), „in der Sache hart befragen müsse. Warum der Krisenstab vom 13. August so schieflief, müsse man sich noch genauer ansehen“. Etwa, so die Hinzufügung des ZEIT-Autors, warum es nach der ersten Sitzung noch zwei Tage gedauert habe, bis ein vollständiger E-Mail-Verteiler angelegt worden und der Krisenstab voll einsatzfähig gewesen sei, oder warum das Kanzleramt sich nicht einmal ausführlich zu Wort gemeldet habe? Was dies alles jedoch mit dem Chef des Bundesnachrichtendienstes zu tun gehabt haben könnte, erschließt sich natürlich nicht, doch überwog hier wohl das Bestreben, dem markigen Wort von Herrn Stegner noch den Anschein von sachlicher Substanz hinzuzufügen. Seriös und sachkompetent ist das allerdings nicht, nur eben „meinungsfördernd“.
Auch die Darstellung der BND-Interna und der Arbeitsbeziehungen zu Bundeskanzleramt, Auswärtigem Amt und Innenministerium geht über ein paar disparate Zitate nicht hinaus, die allenfalls einen gelegentlichen Diskussionsstand im Fachreferat oder einer Residentur widerspiegeln, nicht jedoch auf eine konsistente Lagebearbeitung schließen lassen. Hier kann nur der systematische Blick auf die Ausgangsberichterstattung des Dienstes weiterführen. Diese ist es, mit der die jeweils abschließende Lagefeststellung und Lagebeurteilung an die Ressorts der Bundesregierung abgegeben wird, und auf die muss sich der Dienst dann auch festlegen lassen. Sollte maßgeblichen (!) Hinweisen auf lageverändernde Ereignisse oder Tendenzen nicht mit der angemessenen Sorgfalt, zum Beispiel aufgrund eines „assessment bias“, nachgegangen worden sein, wäre dies dann ein klarer methodischer Fehler, ein „intelligence failure“ erst einmal auf Arbeitsebene. Die Ausführungen in der ZEIT verdeutlichen hier jedoch, dass es der Dienst über die Jahre hinweg an klaren und konsistenten Aussagen zum Zerfall der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte nicht hat fehlen lassen, so etwa bereits im Januar 2021 („die Umkehr der fortschreitenden Erosion sei nahezu ausgeschlossen“) und am 13. Juli 2021 („Die Desintegration der Armee werde weiter befeuert“). Was offenbar nicht geschah, war diese abstrakte Aussage zu konkretisieren und insbesondere zu operationalisieren: „Fortschreitende Erosion“ kann auf Dauer ebenso wie die „Befeuerung des Desintegration“ nicht völlig ohne eine Zuordnung von Zeit, Raum und Objekt bleiben. Hat da jemand in BMVg, AA oder BMI einmal konkret nachgefragt, was das denn nun für die eigene Lage bedeutete? Intelligence muss „actionable“ sein, d.h., es müssen praktische Konsequenzen daraus gezogen werden können, und sei es, dass man in „contingency planning“ zur Eigensicherung einsteigt. Immerhin besteht ja auf Ressortebene eine dienstrechtliche Fürsorgepflicht für die anvertrauten Menschen und eine politische Verantwortung für den Erfolg der eigenen Projekte im Land. Dies scheint ja nun nicht geschehen zu sein. Es scheint auch so, dass aus dem als Überraschung wahrgenommenen Dominoeffekt des Falls der Provinzen im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld des Marschs auf Kabul analytisch keine Konsequenzen für die Berichterstattung gezogen worden sind, etwa die, dass bei Fortgang dieser Dynamik von nun an alles möglich sei, was im Klartext bedeutet, dass man sich allerspätestens (!) nun, also etwa ein bis zwei Wochen vor dem Fall Kabuls in aller Eile (!) auf einen worst case hätte vorbereiten müssen. Bekanntlich hat es hierzu bereits im Frühjahr 2021, und dann auch mit besonderer Dringlichkeit im Juni 2021, immer wieder konkrete Initiativen gegeben. Bekanntlich haben dies andere Verbündete, etwa die Briten und Amerikaner, spät aber nicht so spät getan. Am 06. August forderten Washington und London ihre Staatsbürger ultimativ auf, angesichts der Lageentwicklung (!) Afghanistan sofort (immediately) zu verlassen. Deutlicher kann man eigentlich nicht werden, und dies zu erfassen, bedurfte es dann bekanntlich auch keines Bundesnachrichtendienstes, sondern nur eines sprachmächtigen Beamten. Die über alle Medien berichteten Ereignisse nach dem 06.08. ließen dann zunehmend keinerlei Zweifel mehr daran, dass die Taliban bei ihrem Marsch auf Kabul kaum noch etwas aufhalten konnte. Am 10.08. zitierte die Washington Post Quellen aus der US-Administration, dass die Biden-Administration sich darauf einstelle, dass die Regierung Ghani schneller als je gedacht fallen könnte. Das Bundeskanzleramt soll sich daraufhin an den BND gewandt und um eine Einschätzung gebeten haben. Was ist daraufhin geschehen? Welche Konsequenzen wurden in Berlin – mit oder ohne BND – aus der für alle ersichtlichen Dramatik gezogen?
Sollte BND-Berichterstattung und -Analyse in den Ressorts der Bundesregierung nicht zur Kenntnis genommen worden sein, wie ein in der ZEIT genanntes Beispiel im BMI in Sachen afghanische Ortskräfte nahelegt, liegt der Fehler erst einmal beim Abnehmer, auch wenn es im Rahmen einer Verantwortung für die Wirksamkeit der eigenen Berichterstattung „im Ziel“ wünschenswert wäre, wenn bei wichtigen Sachverhalten von Seiten des Dienstes „nachgehakt“ würde. Foren hierfür gibt es genug; sie müssen nur entsprechend genutzt werden. Dies gilt natürlich auch für die Leitungsebene und jedenfalls für das ihr zur Verfügung stehende Mittel der dienstäglichen „ND-Lage“ im Bundeskanzleramt. Wer aber legt hier die Agenda fest? Der Dienst dürfte hier nur Vorschläge unterbreiten. Dem Untersuchungsausschuss liegen hierzu bestimmt die erforderlichen Unterlagen vor, aus denen hervorgehen dürfte, ob sich der eigentliche Bedarfsträger, die Bundesregierung mit ihren Ressorts um die Lageentwicklung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen angemessen gekümmert hat?
Der GKND hat erst Anfang diesen Jahres einmal auf in den angloamerikanischen Intelligence Studies seit Jahren etablierte Erkenntnisse zum (Nicht)Verhältnis zwischen Intelligence und Entscheidungsträgern hingewiesen. Die bisher öffentlich bekannten Sachverhalte im Vorfeld des 13. August 2021 deuten sehr stark daraufhin, dass den bisherigen empirischen Studien zur Frage „Why intelligence fails“ hier ein weiteres Fallbeispiel hinzugefügt werden kann, das die maßgebliche Mitwirkung politischer Entscheidungsebenen an bedeutenderen „intelligence failures“ zu belegen geeignet erscheint. Dies umso mehr, als politischer Zweckoptimismus bezüglich der politischen und militärischen Afghanistanmission über Jahre hinweg parteiübergreifendes Rational in Ressorts und Bundestag war und skeptische Stimmen auch im öffentlichen Raum beiseite gewischt wurden. Hier der BND-Führung eine einseitige „Bringschuld“ zuzu-weisen, der sie nicht in angemessener Weise nachgekommen sei, greift methodisch eindeutig zu kurz, verdeutlicht jedoch die Intention: „Kahl kämpft um seinen Job“, meint die ZEIT auch heute noch, ein Jahr vor Ende der Legislaturperiode, verstanden zu haben.
Wie relevant ist eigentlich der 13. August 2021?
Wie so oft in der medialen – wie wohl auch politischen – Behandlung der tragischen Vorgänge in und um Kabul im Sommer 2021 wird das Augenmerk immer wieder auf die Krisenstabssit-zung vom Freitag, 13. August gerichtet, die vom Auswärtigen Amt angesichts des sich offenbar abzeichnenden Marschs der Taliban auf Kabul in aller Eile einberufen worden war. Und in der Tat wurde hier durch den BND eine ganz offenbar der Dramatik und Dynamik der Ereignisse im Rückblick nicht mehr angemessene taktische Lagebeurteilung und Prognose abgegeben.
Keine ausreichende Beachtung fand hierbei anscheinend insbesondere das Risiko, dass der damalige Präsident Ghani angesichts des sich auch für ihn persönlich durch den Zerfall der Streitkräfte abzeichnenden Desasters mit den verbliebenen eigenen Hubschraubern die Flucht aus Kabul noch während der US-Präsenz und Luftraumkontrolle antreten und damit auch seine – nicht mehr allzu loyalen – Verbündeten und ehemaligen Protektoren überrumpeln könnte.
Die BND-Berichterstattung und Lagebeurteilung richtete sich – so die nunmehr auch öffentlich bestätigte – Aussage, in erster Linie auf die Aufstellung und Absichten der Taliban, die auf ver-schiedenen Kanälen hatten verlautbaren lassen, dass sie vor dem endgültigen Abzug der US-Kräfte keine Absicht hätten, Kabul militärisch zu erobern. Bekanntlich taten sie das dann auch nicht: Sie mussten ja lediglich am 15. August eine aufgelassene Stadt von den sich ergebenden afghanischen Streit- und Sicherheitskräften übernehmen und besetzen. Wäre Ghani nicht präemptiv geflohen, und seine Truppe wenigstens nicht sofort desintegriert, hätte sich der Prozess der nach übereinstimmendem Urteil letztlich unvermeidlichen Niederlage noch eine kleine Weile hingezogen, im Übrigen allerdings mit völlig unabsehbarem Verlauf, gerade auch im Hinblick auf die sich dann ergebende Sicherheitslage in und um Kabul, einschließlich der sich hieraus ergebenden Konsequenzen für mögliche Evakuierungsmaßnahmen. Das handwerkliche Problem in der Lagefeststellung und Lagebeurteilung scheint mithin in einer verengten Fokus-sierung auf „den Gegner“ (Taliban) unter Vernachlässigung des „Verbündeten“ (Ghani/afghanische Streitkräfte) gelegen zu haben. Im Kern wäre jedoch auch der vom BND angenommene Belagerungszustand Kabuls ohne US Luftraumsicherung eine massive operative Herausforderung für erforderliche Evakuierungsmaßnahmen geworden.
Wesentlich gravierender, und in der Diskussion des Falls immer wieder außer Acht gelassen, ist jedoch der Umstand, dass sich selbst bei einer zutreffenden Lagebeurteilung am 13. August ja in der Kürze der Zeit gar keine nennenswerten Handlungsspielräume mehr ergeben hätten: Niemand war ja bekanntlich auf größere operative Maßnahmen vorbereitet gewesen; allein schon die Bereitstellung und Entsendung von Flugzeugen wäre nicht mehr zeit- und lagegerecht möglich gewesen, von administrativen Maßnahmen wie der Zusammenstellung von Listen mit Schutzbefohlenen sowie deren Vorbereitung auf eine Evakuierung bis hin zur geordneten Zuführung in vorab definierte Sammelräume und Transportmöglichkeiten zum Flugplatz einmal ganz zu schweigen. Mit einer anderslautenden Entscheidung am 13. August wäre im Grunde nichts gewonnen gewesen; die Fehler und Versäumnisse hätten damit nicht ausgeglichen werden können. Eventuell alarmgestartete Flugzeuge, sofern sie überhaupt binnen weniger Stunden zur Verfügung gestanden hätten, wären nur in das Chaos des 14. und 15. August hineingeflogen, wenn sie denn überhaupt eine Landegenehmigung der US-Streitkräfte erhalten hätten. Auch diese Probleme hatten sich ja dann in den Folgetagen immer wieder gestellt. Evakuierungen „aus dem Stand“ gibt es nicht, schon gar nicht, wenn entsprechende Alarmreserven nicht vorgehalten werden; das sollte sich inzwischen hoffentlich bei Entscheidungsträgern wie Medien ausreichend herumgesprochen haben. Die Fehler und Versäumnisse liegen alle weit vor dem 13. August und sind struktureller politisch-administrativer Natur. Die Angehörigen der Deutschen Botschaft Kabul hätten sich so oder so auf die kameradschaftliche Unterstützung der US-Kräfte abstützen müssen, was sie bekanntlich (und zu Recht!) dann eigeninitiativ auch ohne Zutun ihrer vorgesetzten Dienststelle getan haben.
Die aktuelle politische und mediale Fokussierung auf den 13. August ist damit mehr Ausdruck eines hier nicht weiter zu kommentierenden „dramaturgischen Bedürfnisses“ als das Ergebnis einer sachgerechten Analyse des Falls. Wer angesichts der seit Frühjahr 2021 offensichtlichen – und so auch unwidersprochen vom BND wie auch anderen Stellen immer wieder berichteten – Lageverschlechterung keine perspektivischen Eventualfallplanungen (sogenanntes contingency planning) einleitet, vorhält und aktualisiert, muss sich den Vorwurf grober strategisch-operativer Inkompetenz oder schuldhafter Entscheidungsunwilligkeit gefallen lassen. Da hilft es in der Sache nicht, mit verhohlener Befriedigung zur Kenntnis zu geben, dass dem BND am 13.08.2021 ein handwerklicher Fehler unterlaufen ist.
Die entscheidende Frage lautet vielmehr, welche Maßnahmen denn im Hinblick auf die eindeutig absehbare Not- und Krisenlage in Afghanistan im Zusammenhang mit einem Abzug der US-Streitkräfte ins Auge gefasst und wenigsten ansatzweise ausgeplant worden sind, um sie dann im Fall des Falles zeit- und lagegerecht umzusetzen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage zu beantworten sein, in welcher Sequenz denn Krisenstabssitzungen zu Afghanistan abgehalten worden sind. Es wird nicht zu hoffen sein, dass es sich hier quasi um einen Solitär gehandelt hatte. Wenn doch, wäre dies ex post in besonderer Weise als ein schweres Versäumnis zu kritisieren, das ein besonders schlechtes Licht auf die Professionalität der außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung der Bundesregierung werfen würde. Aber auch nur gelegentliche Krisenstabssitzungen können einen kontinuierlichen, ressortübergreifenden strukturierten Lageprozess nicht ersetzen, wie die Sitzung am 13. August 2021 eindrucksvoll demonstriert. Zugleich liegt der grundsätzliche Befund aufgrund der allseits bekannten dramatischen Ereignisse nach dem 14./15. August auf der Hand. Auch die politisch-administrative Vorgeschichte des konsequenten interministeriellen Nichthandelns ist in medialer Aufbereitung seit über zwei Jahren Allgemeingut, doch auch hier wird es für eine valide Beurteilung der Vorgänge auf die Ergebnisse der systematischen aktenbasierten Aufarbeitung des Untersuchungsausschusses ankommen, denen hier nicht vorgegriffen werden kann und soll.
Bedeutsam ist die Krisenstabssitzung am 13. August 2021 wie ihre Vorgeschichte allerdings durchaus: Als eindrucksvolles Fallbeispiel für den Zustand der außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozesse der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichti-gung einer ressortübergreifenden Gesamtlagefeststellung und -beurteilung.
In diesem Zusammenhang ist es dann ebenso aufschlussreich wie potentiell ermutigend, dass Stellungnahmen im Anschluss an die PUA-Sitzung vom 04. Juli 2024 in diese Richtung deuten. So berichtet der Spiegel, dass Vertreter der Ampelkoalition für ähnliche Krisen eine bessere Koordination innerhalb der Regierung gefordert hätten. „Es sei nötig, »klare Verantwortlich-keiten zu definieren, wer am Ende diese Konflikte, die immer zwischen den einzelnen Ressorts vorhanden sind, auflöst«, sagte der SPD-Obmann im Untersuchungsausschuss des Bundestages, Jörg Nürnberger. Das Kanzleramt »wäre die natürliche Autorität, die am Ende solche Konflikte auflösen können sollte«. Die FDP-Obfrau Ann-Veruschka Jurisch sagte, das Ressortprinzip stoße in Krisen an seine Grenzen. »Deswegen brauchen wir einen Nationalen Sicherheitsrat«. Grünen-Obfrau Sara Nanni erklärte, es habe auch Kommunikationsprobleme zwischen Nachrichtendienst und Politik gegeben“. Dass es hier im Interesse aller Seiten einer auch vom GKND mehrfach dringlich angeregten Umorientierung hin zu leistungsfähigen ressortübergreifenden Gesamtlagefeststellungs- und Lagebeurteilungsstrukturen und Prozessen bedarf, sollte wohl spätestens zum Ende des Untersuchungsausschusses im kommenden Jahr außer Zweifel stehen.
Noch ein Wort zur eher süffisanten Abschlussbemerkung der ZEIT zu einer dienstinternen Anregung, einige BND-Mitarbeiter aufgrund ihres persönlichen Einsatzes in der Afghanistankrise für die Verleihung eines Bundesverdienstkreuzes vorzuschlagen. Hier ging es ganz offensichtlich um Menschen, die hier aufgrund ihres häufig langjährigen gefahrgeneigten und nicht selten auch aufopfernden Engagements gewürdigt werden sollten, und nicht um ein vordergründiges institutionelles Nachtreten nach dem Motto, was der Bundeswehr recht sei, sei dem BND billig. Auch BND-Angehörige verdienen, da wo es in der Sache berechtigt ist, Respekt und Anerkennung für ihre persönliche Leistung. Man merkt somit auch in dieser Schlussbemerkung die Absicht, „und ist verstimmt“. Darüber hinaus verdeutlicht auch diese Sottise die mehrfach in Erinnerung gerufene Notwendigkeit, dass auch die Bundesregierung gut beraten sein sollte, auf einen achtsamen Umgang mit ihren eigenen Sicherheitsbehörden hinzuwirken.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad