„Im Verborgenen Gutes Tun“

Hintergrundinformation zum Ausstiegsprogramm „wageMut“ des Brandenburgischen Verfassungsschutzes


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Jörg Müller, Leiter des Brandenburger Verfassungsschutzes

Am 06. September 2023 konnte der Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland den Leiter des Brandenburger Verfassungsschutzes, Herrn Jörg Müller, zu einem Vortrags- und Diskussionsabend im Rahmen eines internen „sicherheitspolitischen Stammtischs“ begrüßen.

Thema des Abends war ein vom Verfassungsschutz entwickeltes Ausstiegs- und Distanzierungsprogramm für Angehörige extremistischer Gruppierungen und Milieus in Brandenburg, das unter dem programmatischen Titel „wageMut“ seit Jahresbeginn 2023 angeboten wird.

Der GKND dankt hier Herrn Müller in besonderem Maße für die Überlassung der beiliegenden PPT-Präsentation als Anhaltspunkt und Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen.

Eingangs verwies Herr Müller auf den Umstand, dass auf Bundesebene und in anderen Bundesländern bereits einzelne Aussteigerangebote existierten. Wichtig sei es allerdings, dass derartige Optionen systematisch in der Fläche ausgebracht würden. Hier komme den Landesbehörden aufgrund ihrer Nähe zu den jeweiligen regionalen und lokalen Lebensumständen eine besondere Bedeutung zu.

Mit dem aktuellen Programm wolle der Landesverfassungsschutz die Grundgedanken des 2019 novellierten Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes und des hierauf aufbauenden Maßnahmenplans gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität aus dem Jahr 2020 in einem praxisorientierten Ansatz mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln implementieren (Folie 2).

Es könne – so Herr Müller – eben nicht nur darum gehen, Phänomene zu beschreiben und zu analysieren. Alle seien vielmehr aufgerufen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Kompetenzengerade auch aktiv zur Überwindung gefährlicher gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen beizutragen und damit, ganz im Sinne der 2019 einmal geprägten Devise, „im Verborgenen Gutes zu tun“.

Gerade im rechtsextremistischen Milieu sei der Verfassungsschutz als staatliches Organ trotz der klaren Konfliktlage nicht der „Feind Nr. 1“. Nur zu häufig seien es gerade die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen, die zur Aufklärung und Deradikalisierung berufen seien, die massive Akzeptanzprobleme hätten, da sie als „links-grün“ perzipiert und damit massiv abgelehnt würden. Nur zu oft seien sie sogar ihrerseits Ziel von rechtsextremistischer Hasskriminalität. Die niederschwellig und diskret gehaltene Ansprache durch eine Behörde, die ihrerseits kraft Amtes über reichhaltige Erfahrung und Kompetenz auch im nachrichtendienstlichoperativen Umgang mit Verfassungsfeinden verfüge, hat eher die Chance, nicht sofort auf vehemente Ablehnung und Feindseligkeit zu stoßen.

Wichtig sei in diesem Zusammenhang jedoch, dass auf keiner Seite das Missverständnis aufkommen dürfe, es handle sich hier um eine nachrichtendienstliche Operation zur Anbahnung und Werbung von Innenquellen aus dem extremistischen Milieu. Sehr klar und konsistent sei vor diesem Hintergrund die strikte personelle, operative und informationelle Trennung zwischen Ausstiegsberatung und nachrichtendienstlicher Anbahnung und Werbung gezogen. Daran habe man auch gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission des Brandenburgischen Landtages von Anfang an keinen Zweifel gelassen, welche diesen Prozess auch eng begleite.

Gleichwohl könne man den operativen Grundansatz in Teilaspekten durchaus mit jenem im Bereich der Gegenspionage (GS) vergleichen: Im Grunde handle es sich ja darum, in einem gegnerischen Milieu tief verhaftete Personen für eine Abkehr von ihrem bisherigen Tun zu bewegen und diesen Prozess unter Wahrung ihrer persönlichen Sicherheit zu begleiten und zu unterstützen. Die weiteren Phasen einer GS-Operation – die Nutzung gewonnener Informationen gegen das Milieu bis hin zu deren weiterer Penetration und Unterwanderung – sind dann jedoch ausgeschlossen. Angestrebtes Ziel ist die Rückkehr verlorener Bürgerinnen und Bürger in Rechtstreue und gesellschaftliche Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen und derstaatlichen liberalen Ordnung, die ihnen Freiheit und Sicherheit gewährleistet. Im Vordergrund stehe hierbei nicht Deradikalisierung im engeren Sinne: Radikal negative persönliche Einstellungen etwa zu Ausländern oder Minderheiten könnten allenfalls durch einen langfristigen, meist psychologisch bzw. psychotherapeutisch zu begleitenden Prozess überwunden werden. Entscheidendes Ziel eines Ausstiegsprogramms sei es vielmehr erst einmal, dass diese Einstellungen nicht mehr als individuell handlungsleitend und insbesondere nicht gewaltinduzierend fungierten und im Idealfall die Rückkehr in ein sozialverträgliches und rechtstreues Verhalten ermöglicht wird (Folie 7).

Eine große Herausforderung für alle Beteiligten stelle der sich meist nur in kleinen, behutsamen Schritten vollziehende Prozess der inneren Abkehr von der bisher sinnstiftenden und Selbstwertgefühl induzierenden Identität und Kohärenz der Gruppe ebenso wie vom weiteren sozialen Umfeld dar, das diesen Gruppen oder zumindest ihren ideologischen Grundpositionen nur zu häufig eher positiv, zumindest aber tolerant gegenübersteht, ohne ihnen unmittelbar anzugehören. Die Abkehr von all dem stelle dann im Ergebnis häufig einen fundamentalen Bruch mit der bisherigen, nicht selten auch traumatischen bereits von Straftaten und Marginalisierungserfahrungen durchzogenen Biographie dar, der viele Kandidaten zunächst einmal überfordere und meist auch über Monate, wenn nicht Jahre, eine schwere Belastung darstelle. Hier seien auf die jeweilige Person zugeschnittene sensible und pragmatische Maßnahmen erforderlich, um Sicherheit, Perspektive und Stabilität im bisherigen sozialen Umfeld oder – wo möglich und erforderlich – in neuer Umgebung zu gewährleisten. Hier müsse in besonderer Weise dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es sich bei vielen Angehörigen derartiger Gruppierungen um Personen mit einem ganz engen regionalen und sozialen Bezugsrahmen handle, innerhalb dessen sich eine stark an Atavismen und Feindbildern orientierende, nicht selten fragile Identität, Selbst- und Fremdwahrnehmung herausgebildet habe.

Umgekehrt müsse behördenseitig im Rahmen eines solchen beratend zu begleitenden Ausstiegsprozesses (Folie 6) der Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ im Vordergrund stehen. Der Verfassungsschutz könne so zum Beispiel Hinweise auf zuständige Behörden und Stellen geben, die im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse und Verpflichtungen Kandidaten Unterstützung in sozialen oder administrativen Belangen gewähren. Hier dürfe man nicht außer Acht lassen, dass die im Milieu praktizierte Staats- und Verwaltungsferne auch praktische Inkompetenz in der Wahrnehmung der eigenen Rechte und Pflichten mit sich bringe, die den Teufelskreis von erneutem persönlichen Scheitern und Konfliktlagen mit den Behörden weiter perpetuiere und die Überwindung von Feindbildern nahezu unmöglich mache. Die Erfahrung, dass der verhasste „unterdrückerische“ Staat bei der Schaffung oder dem Erhalt von Lebensgrundlagen unterstützen kann und dies im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten und Verpflichtungen auch ohne Ansehung der Person tue, könne zuweilen nachhaltigen Eindruck machen und einen Prozess der allmählichen Relativierung bisheriger negativer „Gewissheiten“ einleiten.

Im Vordergrund der „Operation“ müsse aber notwendig Eigenständigkeit der Kandidaten in Erkenntnis, Orientierung und Handlung stehen, deren Glaubhaftigkeit und Nachhaltigkeit es in der Prozessbegleitung mit den behördlicherseits zu Gebote stehenden Mitteln zu verifizieren gelte. Die Ausstiegsbegleitung ende, wenn eine erfolgreiche Abwendung von der extremistischen Szene erfolgt sei, extremistische Handlungsmuster abgelegt würden, eine Abkehr von der Gewalt eingetreten sowie im Idealfall ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft entstanden seien (Folie 7).

Wie im Gespräch mit dem GKND festgehalten wurde, konnten neben einer Vielzahl von Erstkontakten, deren Weiterentwicklung in jedem Fall noch abzuwarten und zu unterstützen ist, einzelne erste Erfolge erzielt werden. Angesichts der Komplexität und Schwierigkeit der Fälle werden hier neben Fortune eben auch Geduld, Hartnäckigkeit und Frustrationstoleranz erforderlich sein, ganz so wie im „wirklichen nachrichtendienstlichen Leben“.

Dem aufrichtigen Dank an Herrn Müller darf der GKND daher seine besten Wünsche in eben diesem Sinne hinzufügen. Es ist gut zu wissen, dass hier wie in anderen Diensten auf Bundesund Landesebene auch, proaktive Wege mit Mut, Augenmaß, Subtilität und Sachkenntnis beschritten werden, um Spaltung und Hass entgegenzuwirken.

Für den Vorstand


Dr. Gerhard Conrad

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