EU-Streitkräfte erfordern EU-Intelligence

Implikationen des Diskussionspapiers der SPD-Fraktion vom 06.10.2020 - Eine Stellungnahme des GKND


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Ein Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPDBundestagsfraktion vom 06. Oktober 2020, mit dem die Schaffung eines eigenen, der Kommission unterstellten Streitkräftekontingents vorgeschlagen wird, ist aktuell Gegenstand der öffentlichen Erörterung geworden: Diese sogenannte „28. Armee“ soll von einem neu zu berufenden Verteidigungskommissar verantwortet werden. Die politische Kontrolle würde über einen Verteidigungsausschuss im Europaparlament erfolgen. Die Abgeordneten würden auf Antrag der Kommission mit einfacher Mehrheit über Einsätze entscheiden.

Die „28. Armee“ würde sich mit einer Anfangsstärke von 1.500 Soldaten an den beiden bereits seit 2007 existierenden, allerdings nie zum Einsatz gekommenen multinationalen EU-Battlegroups orientieren, auf mittlere Sicht jedoch einschließlich der notwendigen Unterstützungselemente auf bis zu 8.000 Soldaten aufwachsen müssen, um eine eigenständige Operations- und Durchhaltefähigkeit von bis zu 1 Jahr zu erreichen. Die Truppe würde aus Freiwilligen aus den Mitgliedstaaten bestehen, die sich für den EU-Dienst bewerben und als „EU-Soldaten“ unter einem „Chief of Defense (CHOD)“ der EU, ähnlich wie Kommissionsbeamte einen gesonderten, von ihrem Herkunftsland unabhängigen Rechtsstatus und ein daraus resultierendes spezifisches Unterstellungsverhältnis haben.

Überlegungen unterschiedlichen Zuschnitts zur Schaffung von der EU unterstellten Streitkräften sind bereits spätestens seit 2014 immer wieder diskutiert worden. Der aktuelle Vorschlag steht seit Jahresbeginn 2020 im Raum und war schon einmal Gegenstand einer Betrachtung durch Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik. Kernelemente dieser Kommentierung haben nunmehr auch Eingang in das vorliegende Papier der SPD-Fraktion gefunden.

Auf zahlreiche politische und vertragsrechtliche Herausforderungen, die der Realisierung eines solchen Vorschlags erst einmal entgegenstehen, ist von der SWP bereits seinerzeit hingewiesen worden. An den politischen Willen und die Gestaltungskraft der Mitgliedstaaten werden hier ganz erhebliche Anforderungen gestellt, die es erst einmal zu realisieren gelten würde. Nicht umsonst stoßen die Überlegungen häufig und auch aktuell auf Skepsis.

Im Rahmen einer fachlichen Betrachtung der aktuellen Überlegungen möchte der Gesprächskreis Nachrichtendienste aus seiner Perspektive darauf hinweisen, dass eine Grundvoraussetzung für die angestrebte operative Eigenständigkeit dann auch eine adäquate Befähigung zur Lagefeststellung und Lagebeurteilung in allen Phasen einer Operation sein wird. Dies gilt für die unabdingbaren Grundlagen für eine informierte politisch-strategische Grundsatzentscheidung der zuständigen Gremien über einen Einsatz ebenso wie für dessen Ausplanung auf der Basis taktischer Lageerkenntnisse und dessen Durchführung im Rahmen einer sich in der Regel eigendynamisch entwickelnden und verändernden militärischen, sicherheitlichen und politischen Lage.

Die EU verfügt im Europäischen Auswärtigen Dienst mit dem zivilen Intelligence Assessment and Situation Center (EU INTCEN) und dem Intelligence Directorate im Europäischen Militärstab (EUMS.INT) über inzwischen etablierte, im Rahmen der Single Intelligence Assessment Capacity (SIAC) integriert zusammenarbeitende Strukturen für eine bedrohungs- und krisenorientierte, nachrichtendienstlich unterstützte außen-, sicherheits- und militärpolitische Lagefeststellung und Lagebeurteilung. Wie der gesamte Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und a fortiori der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), in dem INTCEN und EUMS.INT ressortieren, sind diese in ihrer Aufgabenerfüllung jedoch weitgehend mitgliedstaatlich organisiert und essentiell von einer freiwilligen Unterstützung der Mitgliedstaaten abhängig.

Hiervon einmal abgesehen, verfügen die Europäischen Institutionen zweifellos über erhebliche, wenngleich bisher nicht ausreichend auf Lagefeststellung und -beurteilung im politischen Entscheidungsprozess hin optimierte eigene Kapazitäten wie etwa im Bereich von IMINT/GEOINT (SATCEN, COPERNICUS, GALILEO) und OSINT/SOCMINT, hier in großem Stil bei der strukturierten Datensammlung und Auswertung technisch unterstützt durch das Joint Research Center (JRC) der Kommission. Die Kernkompetenz der nachrichtendienstlichen Aufklärung und Auswertung liegt jedoch unverändert ausschließlich in Händen der zivilen und militärischen Dienste der Mitgliedstaaten, die auf freiwilliger Grundlage Fachpersonal und spezifische „finished intelligence“ zu Sachverhalten von außen- und sicherheitspolitischer wie allgemein sicherheitlicher Bedeutung ihren Counterparts in INTCEN und EUMS.INT zur weiteren Verdichtung, Analyse und Berichterstattung innerhalb der EU zur Verfügung stellen.

Die Berichterstattung und Analyse von INTCEN und EUMS.INT im Rahmen von SIAC stellen eine wesentliche Grundlage für die Diskussion und Meinungsbildung in den Ratsstrukturen dar, in denen bislang mögliche Entscheidungen über Interventionen getroffen werden sollten. Jüngster Ausdruck dieser zentralen Position ist der Auftrag des Rates an SIAC zur Erstellung einer 360° Risiko- und Bedrohungsanalyse als Ausgangspunkt für den angestrebten Strategischen Kompass zur künftigen sicherheits- und verteidigungspolitischen Ausrichtung der EU. Überlegungen zur Neufassung der militärischen Handlungsoptionen der EU müssten mithin von Anfang an diesen zentralen Bereich berücksichtigen. Die Anmerkungen des Diskussionspapiers zur Militärischen Führungsstruktur wie insgesamt zur Einbettung der „28. Armee“ in die bestehenden EU-Strukturen sind hier zwangsläufig noch mehr als summarisch. Sollen der EU, auch hier in Abkehr von Artikel 4 (2) EUV und unter ganz erheblichem Mitteleinsatz und rechtlicher Neugestaltung, eigene nachrichtendienstliche Aufklärungskapazitäten in den Kernbereichen HUMINT und SIGINT zugebilligt werden, oder sollen – etwas realistischer – spezifisch nach Art, Raum und Thema zu definierende Unterstützungsleistungen der Mitgliedstaaten in größerer Verbindlichkeit als bisher vereinbart werden? Welche Strukturen, Prozesse und Zuständigkeiten müssten zwischen den bestehenden Entitäten INTCEN und EUMS.INT und den neuen Abnehmern in der Kommission wie allgemein in einem neu zu fassenden außen-, sicherheitsund militärpolitischen Entscheidungsprozess der EU-Institutionen und der EU-Mitgliedstaaten geschaffen werden?

Ein spezifisches, bereits in den aktuellen GSVP-Strukturen komplexes Element der Lagefeststellung und -beurteilung liegt in der notwendigen nachrichtendienstlichen Unterstützung der operativ-strategischen wie der taktisch-operativen Einsatzplanung und Durchführung, mithin dem Führungsgrundgebiet G2/A2. Hierfür ist im Rahmen des Europäischen Militärstabes eine „Military Planning and Conduct Capability (MPCC)“ mit einer (bisher rudimentären) J2-Funktion konzipiert und seit 2018 in Teilen eingerichtet worden, erneut auf der Grundlage freiwilliger Unterstützungsleistungen der Mitgliedstaaten und ihrer Dienste. Hier würde sich noch einmal in besonderer Schärfe die Frage nach Kompetenz- und militärischer Befähigungszuweisung stellen, da es hier letztlich um Gefechtsfeldaufklärung mit verbundenen, überwiegend technischen Mitteln gehen würde, deren Beschaffung, Wartung und Einsatz erneut mandatiert und dann auch geleistet werden müsste.

Aus der fachlichen Sicht des Gesprächskreises Nachrichtendienste kann im Zusammenhang mit einer möglichen weiteren Diskussion um die „28. Armee“ somit nur eindringlich auf diese Dimensionen des Projekts hingewiesen werden, die es bereits von Anfang an in vollem Umfang zu bedenken gilt. GKND-Mitglieder mit Expertise aus den hier in Frage stehenden Bereichen stehen im Bedarfsfall für weitere Erörterungen zur Verfügung.


Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender

 
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