Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 2020 - Eine etwas andere Perspektive

Eine Stellungnahme des GKND


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 19. Mai 2020 zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes stehen gemeinhin die Aspekte der in dieser Form erstmals konstatierten Grundrechtsbindung deutschen Verwaltungshandelns im Ausland und die hieraus abgeleiteten Einschränkungen und Kontrollauflagen für die strategische Fernmeldeaufklärung des BND, die es in einer Novellierung des Gesetzes bis Ende 2021 zu berücksichtigen gelte.

Weitgehend ignoriert werden jedoch die über den Tag hinaus wirkenden ebenso grundsätzlichen wie eindeutigen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimität und Notwendigkeit der strategischen Fernmeldeaufklärung als einer „Aufgabe von überragendem öffentlichen Interesse“.

Im Interesse einer sachgerechten Diskussion möchte der GKND diese bedeutsamen Aussagen nachstehend im Wortlaut wiedergeben, um so das Augenmerk auch auf diese zentralen Aspekte in der anstehenden Diskussion zu richten:

  1. Die Befugnis zur Datenerhebung und Datenverarbeitung in Form der strategischen Telekommunikationsüberwachung ist als besonderes Instrument der Auslandsaufklärung mit Artikel 10 Absatz 1 GG vereinbar. (Randnummer 142)

  2. Die strategische Telekommunikationsüberwachung dient einem legitimen Zweck und ist zu seiner Erreichung nach dem Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignet und erforderlich. (Randnummer 144)

  3. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die strategische Überwachung Erkenntnisse über das Ausland verschaffen, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind. Sie soll damit dazu beitragen, frühzeitig Gefahren zu erkennen, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung zu wahren und die Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit Informationen zu versorgen. Hierin liegt ein legitimes Ziel (Randnummer 144, Satz 2 und 3)

  4. (Im Fall der) nachrichtendienstliche(n) Auslandsaufklärung, soweit diese auf die allgemeine Informationssammlung zur Unterrichtung der Bundesregierung oder – noch im Vorfeld von individualgerichteten Beschränkungen im Einzelfall – auf die Gefahrenfrüherkennung zielt, … kann der Gesetzgeber dem Bundesnachrichtendienst auch das Instrument der strategischen Telekommunikationsüberwachung an die Hand geben. (Randnummer 157)

    4.1 Ausgangspunkt hierfür ist das Aufgabenprofil der Auslandsaufklärung. … Die Aufgabe der Auslandsaufklärung liegt insoweit darin, zunächst eine umfangreiche Informationsbasis zu schaffen, um Entwicklungen breitflächig zu beobachten, die Informationen dann zu bewerten, auf ihre Relevanz zu prüfen und sie schließlich in kondensierter Form der Bundesregierung … zur Verfügung zu stellen. Die potentiellen Erkenntnisinteressen eröffnen dabei mit ihrer Ausrichtung auf die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik ein weites Spektrum. (Randnummer 158)

    4.2 Für diese Aufgabe kann auch eine anlasslose, im Wesentlichen allein final gesteuerte Fernmeldeaufklärung in Form der strategischen Überwachung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. ...(Hierbei) hat zunächst schon Bedeutung, das die Auslandsaufklärung auf die Erhellung und das Verständnis von Umständen abzielt, hinsichtlich derer es an einer unmittelbaren alltäglichen Wahrnehmung seitens deutscher Stellen und der innerstaatlichen Öffentlichkeit fehlt. … Die Auslandsaufklärung betrifft Vorgänge in anderen Ländern, in denen der deutsche Staat allenfalls punktuell mit eigenen Erkenntnisquellen präsent ist und sein kann und in denen er nicht über Hoheitsbefugnisse verfügt, die ihm einen unmittelbaren Zugriff auf Informationen ermöglichen. Dabei muss die Aufklärung im Interesse der Handlungsfähigkeit und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland insbesondere auch an Informationen gelangen können, die ihr – möglicherweise in nachteiliger Absicht – gezielt vorenthalten und in der Hoheitssphäre des Drittstaates geheim gehalten werden. (Randnummer 159)

    4.3 Zu berücksichtigen ist zugleich, dass die Aufklärung nicht allein im Gegeneinander zur verschiedenen Nachrichtendienste, sondern auch im Miteinander … steht. Insbesondere die allein der Information der Bundesregierung dienende Aufklärung politisch und militärisch relevanter Geschehensabläufe, aber auch die Frühaufklärung von Gefahren der internationalen Kriminalität, zu der auch der internationale Terrorismus gehört, sind für ihre Wirksamkeit heute auf eine Kooperation der Dienste untereinander angewiesen. Kooperationsfähig ist der Bundesnachrichtendienst aber nur, wenn er auch seinerseits Befugnisse hat, mit denen er die Ergebnisse anderer Dienste prüfen, sie aufnehmen und weiter verwerten kann und mit deren Hilfe er auch durch eigene Erkenntnisse als Partner beizutragen vermag. Befugnisse zur anlasslosen Überwachung der Auslandskommunikation dürften dabei … heute zur verbreiteten Ausstattung dieser Dienste gehören. (Randnummer 160)

    4.4 Zu berücksichtigen ist dabei auch das überragende öffentliche Interesse an einer wirksamen Auslandsaufklärung. … Die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen hilft ihr, sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten, und kann folgenreiche Fehlentscheidungen verhindern. Insoweit geht es mittelbar zugleich um die Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung – und damit um Verfassungsgüter von hohem Rang. In Frage steht mithin ein gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht. (Randnummern 161, 162)

Mithin bleibt erst einmal festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht die strategische Auslands-Auslandaufklärung von Telekommunikationsverbindungen unmissverständlich als eine Aufgabe von überragendem öffentlichen Interesse qualifiziert, die vom Gesetzgeber dem Bundesnachrichtendienst zur Erfüllung seiner verfassungsmäßigen Aufgaben an die Hand gegeben werden darf.

Der GKND begrüßt es sehr, dass damit dem verbreiteten Zerrbild von Diensten, die ohne gesetzliche Grundlage „machten was sie wollten“, und denen „auf die Finger zu schauen sei“, mit der Autorität des obersten deutschen Gerichts entgegengetreten wird. Dieses höchstrichterliche Werturteil sollte nun auch angemessen Berücksichtigung in der anstehenden Diskussion wie auch allgemein im politischen Diskurs zu den deutschen Diensten finden. Es ruft noch einmal eindringlich ins Bewusstsein, dass die Dienste legitime und essentielle Instrumente des Verfassungsstaats sind, die der Wahrung seiner Integrität und Leistungsfähigkeit im Interesse seiner Bürger dienen und justizieller wie parlamentarischer Kontrolle unterliegen.

Bei einer perspektivischen Betrachtung des Urteils ist ebenfalls darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht sich darauf beschränkt hat, einzelne Bestimmungen des BND-Gesetzes vom 23. Dezember 2016 zur Auslands-Auslands-Fernmeldeaufklärung als in der vorliegen-den Form nicht mit den Artikeln 10 und 5 des Grundgesetzes vereinbar zu erklären und den Gesetzgeber aufgefordert hat, die aufgeführten Mängel bis zum 31.12.2021 zu beheben. Bis dahin bleiben die gerügten Regelungen jedoch in Kraft. Eine solche Entscheidung wird bekanntlich dann getroffen,

„wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes hat, oder wenn die Nachteile des sofortigen Außerkraftsetzens der Rechtsnorm größer sind als die Nachteile einer übergangsweisen Weitergeltung“.

Es wird nun entscheidend darauf ankommen, bei einer Novellierung des Gesetzes gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts die Fähigkeit des Bundesnachrichtendienstes zur angemessenen Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, und mithin in unser aller Interesse, zu bewahren. Hier wird besonderes Augenmerk auf die internationale Kooperationsfähigkeit des Bundesnachrichtendienstes zu richten sein, auf die dieser – wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht feststellt – essentiell angewiesen ist (Randnummer 160). An die nunmehr vorzunehmende Abwägung zwischen den

„Rechtsgütern von überragendem verfassungsrechtlichen Gewicht, (nämlich) der verfassungsmäßigen Ordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder der Länder sowie von Leib, Leben und Freiheit“ (Randnummer 163)

seiner Bürger und einer auf das Ausland gerichteten Grundrechtsgewährung gemäß Artikel 10 und 5 des Grundgesetzes werden hier besonders hohe Anforderungen zu richten sein. Hierbei werden die gravierenden internationalen Herausforderungen und äußeren Bedrohungen durch expansive Großmächte, durch Krisen, Konflikte, Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Cyberkapazitäten, denen sich die Bundesrepublik Deutschland auch als Mitglied von EU und NATO gegenüber sieht, ebenso zu berücksichtigen sein wie die sich hieraus ergebenden Verpflichtungen und Loyalitäten gegenüber der Sicherheit der Bündnispartner. Im Interesse seiner eigenen vitalen Sicherheitsinteressen muss Deutschland auch im Bereich der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit hohen Anforderungen an seine Bündnisfähigkeit gerecht werden, ein Imperativ, dem es in der anstehenden gesetzgeberischen Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zwingend Rechnung zu tragen gilt.

Der GKND wird diese Diskussion in diesem Sinne begleiten.


Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender

 
Zurück
Zurück

EU-Streitkräfte erfordern EU-Intelligence

Weiter
Weiter

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 2020 - Klare Worte zur Notwendigkeit der strategischen Aufklärung des BND