Brexit und europäische Sicherheit - im Lichte des Vertragsentwurfs vom 24.12.2020

Eine Stellungnahme des GKND


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Mit dem Ablauf des 31.12.2020 endet die Übergangsfrist für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Das zum letztmöglichen Zeitpunkt finalisierte und zur Vermeidung eines vertragslosen Zustandes nach dem 01.01.2021 vorläufig in Kraft gesetzte Handels- und Kooperationsabkommen bildet unter der Voraussetzung seiner abschließenden Ratifizierung eine Grundlage für die Fortsetzung zahlreicher für Wirtschaft und Handel wesentlicher Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien. In welchem Umfang dies die bisherigen Rahmenbedingungen für den Zugang zum Gemeinsamen Markt ersetzen beziehungsweise Verluste durch den von London angestrebten größeren globalen handelspolitischen Spielraum kompensiert werden können, bleibt allerdings abzuwarten.

Die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit, aber auch die Rahmenbedingungen für die Aufrechterhaltung eines hohen Kooperationsstandards im gemeinsamen europäischen Raums des Rechts und der Sicherheit haben durch die Entflechtung aus den europäischen Strukturen ebenfalls Schaden genommen. Auch hier werden Perspektiven für eine mögliche Kompensation erst noch zu erarbeiten sein.

Bekanntlich hatte die im Dezember 2019 mit absoluter Mehrheit gewählte Regierung von Premierminister Boris Johnson bereits zu Beginn der Verhandlungen im Februar 2020 den noch in der gemeinsamen Erklärung über die künftigen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien von Oktober 2019 enthaltenen Verhandlungsgegenstand „Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ einseitig von der Agenda abgesetzt. Ab dem 1. Januar 2021 wird es damit keinen vertraglichen Rahmen mehr zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU geben, um ge-meinsame Reaktionen auf außenpolitische Herausforderungen zu entwickeln und zu koordinieren. Es bleibt hier lediglich die zeitgleich mit dem Handels- und Kooperationsabkommen getroffenen Vereinbarung über den sicheren Austausch von Verschlusssachen zwischen der EU und dem Drittstaat Großbritannien, die eine notwendige, wenngleich keineswegs ausreichende rechtliche Grundlage für eine eventuelle erneute Zusammenarbeit auch in sensitiven Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich eines eventuellen Austauschs nachrichtendienstlicher Analysen und Informationen zwischen hierfür mandatierten Stellen der Union (EU INTCEN, EUMS.INT) und Großbritanniens, schafft.

Auch die im aktuellen Kooperationsvertrag gefundenen Regelungen für die bestmögliche Auf-rechterhaltung der Zusammenarbeit in den Bereichen Strafverfolgung und Strafgerichtsbarkeit werden sich nach ihrer Umsetzung und weiteren Ausarbeitung erst in der Praxis bewähren müssen. Bis dahin besteht erst einmal über geraume Zeit das Risiko prozeduraler Unsicherheit auf allen Seiten, dem zuallererst einmal zu begegnen sein wird. Verzögerungen und Missverständnisse sind hier zu befürchten, die Effizienz und Aktionsfähigkeit der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr zum Schaden beider Seiten zu beeinträchtigen drohen.

Vor diesem Hintergrund herrscht bereits von Anfang an grundsätzliche und berechtigte Skepsis in britischen Sicherheitskreisen gegenüber den gefundenen Substitutionsmaßnahmen für die bisherige weitgehende Integration der eigenen Dienste und Behörden in die europäischen Strafverfolgungs- und justitiellen Strukturen vor, vom Verlust jeglicher Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeit auf der Ebene des Rats für Innere und Justizangelegenheiten einmal ganz zu schweigen. Die ebenfalls mit dem Brexit aufgegebene Vollmitgliedschaft in EUROPOL und EUROJUST könne nicht durch noch so ambitionierte Liaison zwischen dem Drittstaat Großbritannien und der EU ersetzt werden. Noch weniger ist dies der Fall in Bezug auf die nun nicht mehr bestehenden direkten und umfassenden Zugriffsmöglichkeiten auf europäische Datenba-sen wie das Schengen Informationssystem (SIS II), die durch den Prüm-Vertrag gebotenen Optionen oder die nun ebenfalls Drittstaatenrestriktionen zu unterwerfenden Übermittlungen von Flugpassierdaten (PNR). Zumindest in den für die Bereiche Gefahrenabwehr und Strafverfolgung entscheidenden Parametern Quantität und Schnelligkeit würde kaum an die bisherigen Möglichkeiten angeknüpft werden können. Der gesamte Bereich steht darüber hinaus absehbar in besonderem Maße unter dem Vorbehalt der Kompatibilität mit EU-Recht in Bezug auf Menschenrechte und Datenschutz. Reibungsverluste sind hier in noch größerem Maße zu gewärtigen als dies bereits während der Zugehörigkeit Großbritannien zur EU der Fall war.

Gewonnen ist mit diesem Vertrag in Sachen europäischer öffentlicher Sicherheit damit erwartungsgemäß wenig. Sein unbestreitbar großes Verdienst besteht erst einmal nur darin, dass mit ihm der durch den Brexit eingetretene Schaden so weit wie möglich begrenzt wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich im Zuge der Implementierung über die Zeitachse leistungsfähige und stabile Strukturen der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit herausbilden werden, die den weiter steigenden Herausforderungen gerecht werden können.

Im Bereich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union einschließlich ihrer nachrichtendienstlichen Dimension haben die bisherigen Strukturen und Formate der Zusammenarbeit zwischen Union und Großbritannien dagegen erst einmal einen Totalschaden erlitten, der aufgrund der britischen Ablehnung ursprünglich konsentierter Verhandlungen bis auf weiteres auch nicht hat minimiert werden können.

In der Konsequenz gilt dies auch für den traditionell bedeutsamen personellen und materiellen britischen Beitrag zur außen- und sicherheitspolitischen Lagearbeit der nachrichtendienstlichen Analysestrukturen der EU. Für eine aktive Mitwirkung an der Arbeit des EU Intelligence Analysis and Situation Centre (EU INTCEN) und des Intelligence Directorate des Europäischen Militärstabes (EUMS.INT) existiert keine rechtliche Basis mehr. Ein gemeinsam nachrichtendienstlich untermauertes Lagebild zu den Herausforderungen in Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch zu terroristischen und hybriden Bedrohungen, kann so nicht mehr erarbeitet werden. Allein das bereit erwähnte Security of Information Agreement (SIA) bildet einen – prozedural allerdings schwachen – grundsätzlichen Rechts- und Verfahrensrahmen für die Übermittlung einzelner eingestufter Informationen und Analysen, sofern hierzu ein entsprechender politisch-operativer Wille in möglichen bilateralen Konsultationen generiert werden kann.

Auf Dauer wird dieser Zustand nicht tragbar sein. Europa ist ein geopolitischer Raum gemeinsamer Werte, Stabilitätsinteressen und Sicherheitsbedürfnisse, der notwendig über die Grenzen der Union hinausgeht und neben Großbritannien jedenfalls auch Norwegen und die Schweiz umfasst. Nicht umsonst werden die zwischenstaatlichen, nicht EU-gebundenen Kooperationsformate der Nachrichtendienste im Bereich der inneren Sicherheit seit jeher von eben diesen 30 und nicht den 28 bzw. nunmehr 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union betrieben. Die Europäische Union tritt ihrerseits auch nach dem Brexit als außen- und sicherheitspolitischer Akteur in Erscheinung. Positionierungen der Union mit ihrem demographischen, finanziellen, wirtschaftlichen, politischen und zunehmend auch sicherheitspolitischen Potential werden von erheblicher Bedeutung auch für ein in Eigenperzeption „global Britain“ sein. Die Notwendigkeit, neue Konzertierungs- und Kooperationsformate auf der Grundlage gemeinsam definierter Interessen auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik unter Einschluss nachrichtendienstlich unterstützter Lagefeststellungen und Beurteilungen zu schaffen, wird unabweisbar werden. Die EU 27 können hierzu einen erheblichen Beitrag im Sinne einer Entwicklung zu sicherheitspolitischer Partnerschaft auf Augenhöhe leisten, wenn sie ihrerseits ihre jeweiligen nationalen Befähigungen wie ihre Zusammenarbeit in GASP, GSVP und – im Rahmen der Verträge – in integrierter nachrichtendienstlicher Analyse und strategischer Berichterstattung konsequent weiter entwickeln.


Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender

 
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