Befähigung und Zukunftsfähigkeit des Bundesnachrichtendienstes

Fragen an Politik und Dienst angesichts der sicherheitspolitischen Zeitenwende


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes


  • Im Rahmen der sicherheitspolitischen Zeitenwende ist auch eine Bestandsaufnahme der Dienste in ihren Befähigungen und Mandatierungen erforderlich.

  • Wie im Fall der Bundeswehr bedarf es eines Mentalitätswandels hin zu einer politischen Verantwortung für die Leistungs- und Handlungsfähigkeit der Dienste, nicht nur für deren möglichst umfassende Kontrolle.

  • Dienste sind stets „im Einsatz“. Sie müssen langfristig Kapazitäten aufbauen, erhalten und weiterentwickeln. Entsprechend sind auch Planungs- und Entwicklungszyklen zu dimensionieren und politisch zu verantworten.

  • Für eine erforderliche Bestandsaufnahme sind aus der Sicht des GKND jeden-falls die nachfolgend aufgeführten Fragestellungen zielführend:

  • Kann der Dienst seinen Auftrag unter den geschaffenen rechtlichen Rahmenbedin-gungen und Voraussetzungen in angemessener Weise erfüllen?

  • Ist der Dienst als internationaler Kooperationspartner „satisfaktionsfähig“?

  • Kann der Dienst im erforderlichen Umfang zielgerichtet, perspektivisch und umfänglich fachlich spezifisch qualifiziertes Personal für alle beschaffenden und auswertenden Kernbereiche rekrutieren und dieses auch mittel- bis langfristig personalwirtschaftlich weiterentwickeln?

  • Verfügt der Dienst im In- und Ausland über die erforderlichen strukturellen, fachlichen, operativen und personellen Kapazitäten zur Auftragserfüllung?

  • In welchem Umfang können neue Fragestellungen, Risiken und Bedrohungspotentiale konzeptionell und planerisch berücksichtigt werden?

  • In welchem Umfang stehen technische Befähigungen in Beschaffung und Auswertung perspektivisch für die Bewältigung künftiger Herausforderungen zur Verfügung?

  • Wie lässt sich die Integration der Dienste in die sicherheitspolitischen Entscheidungsprozesse der Bundesregierung optimieren?


Zeitenwende erfordert eine Bestandsaufnahme sicherheitspolitischer Orien-tierungen und daraus resultierender Befähigungen

Es ist inzwischen unbestritten dass die sicherheitspolitische Zeitenwende auf nationaler Ebene wie in EU und NATO eine Neubestimmung aller Elemente von Resilienz, innen- wie außenpolitischer und militärischer Handlungsfähigkeit erfordert.


Entscheidende, langfristig angelegte, jedoch bereits kurz- und mittelfristig wirksame erste Weichenstellungen für die überfällige Ertüchtigung der Bundeswehr sind getroffen worden. Mit der nunmehr von Außenministerin Baerbock angekündigten ressortübergreifenden Erarbeitung einer nationalen Sicherheitsstrategie beginnt auch in diesem zentralen Politikfeld ein neues Zeitalter. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union verabschieden am 23./24. März den „Strategischen Kompass“, in dem auch eine deutliche Aufwertung der gemeinsamen Befähigungen zur nachrichtendienstlich unterstützten Lagefeststellung und Lagebeurteilung als Grundlage für außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen und deren Umsetzung gefordert wird.


Erste parlamentarische Stimmen werden laut, die eine Bestandsaufnahme zu den Befähi-gungen des Bundesnachrichtendienstes mit dem Ziel seiner Ertüchtigung fordern. Es wird in diesem Zusammenhang öffentlich konzediert, dass dem BND in außen-, sicherheits- und militärpolitischen Politik- und Handlungsfeldern wie auch bei der internationalen Gefahrenabwehr eine zentrale Funktion im Rahmen von Lagefeststellung und Lagebeurteilung im Entscheidungsprozess zukommt, so wie aktuell für alle sichtbar im Ukrainekonflikt, wo der Dienst offenbar auf über Jahre hinweg aufgebaute bzw. gepflegte Kapazitäten und Befähigungen zurückgreifen kann.


Der Bundesnachrichtendienst, eine notwendige Konstante im sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess

Es sei hier nochmals daran erinnert, dass in diesem Zusammenhang das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Mai 20205 das

überragende öffentliche Interesse an einer wirksamen Auslandsaufklärung


konstatiert und weiter ausgeführt hat, dass

„Auslandsaufklärung immer auf Informationen [zielt], die Bedeutung für die Stellung und Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Staatengemeinschaft entfalten und damit gerade in diesem Sinne von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung sind. Die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen hilft ihr, sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten, und kann folgenreiche Fehlentscheidungen verhindern. Insoweit geht es mittelbar zugleich um die Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung – und damit um Verfassungsgüter von hohem Rang. In Frage steht mithin ein gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht“.


In diesem Sinne verweist das Gericht auch auf die Verflechtungen von innerer und äußerer Sicherheit:

Die Früherkennung von Gefahrenlagen, die aus dem Ausland drohen, gewinnt hierbei auch für die Sicherheit besondere Bedeutung. Die Erweiterung und Internationalisierung der Kommunikationsmöglichkeiten und die damit gesteigerte Politisierung und Organisationsfähigkeit international agierender krimineller Gruppierungen führen dazu, dass innerstaatliche Gefahrenlagen oftmals durch Netzwerke international zusammenarbeitender Akteure begründet sind und leicht eine außen- und sicherheitspolitische Dimension erhalten können“


Wirksame, thematisch entscheidungsrelevante und zeitgerechte Auslandsaufklärung steht mithin nicht nur am Anfang eines jeden außen-, sicherheits- oder militärpolitischen Entscheidungsprozesses; es ist vielmehr ein kontinuierlich erstelltes, kritisch überprüftes und aktualisiertes umfassendes Lagebild, das Entscheidungsträgern eine wesentliche, wenngleich natürlich nicht ausschließliche Grundlage für ihre Konsultationen, Meinungsbildung, Planungen und Handlungen an die Hand gibt.


Der Bundesnachrichtendienst ist mithin stets „im Einsatz“. Von seiner Fach- und Sachkompetenz, seinen operativen, technischen und analytischen Befähigungen wie auch seiner rechtlichen und politischen Mandatierung hängt es entscheidend ab, ob er seinem Auftrag der rechtzeitigen qualitätsvollen Unterrichtung der Bundesregierung, im vorgenannten Sinne gerecht werden kann.


Bestandsaufnahme auch für den Bundesnachrichtendienst

Wie in allen anderen Feldern, in denen die Zeitenwende zu einem Prozess der Rück- und Neu-besinnung auf grundlegende Fragen hinsichtlich der Tragfähigkeit unserer Sicherheitsarchitektur und Selbstbehauptungsfähigkeit allein wie in NATO und EU geführt hat, wird damit auch der Bundesnachrichtendienst einer solchen Bestandsaufnahme seiner Befähigungen und Mandatierungen im Lichte einer veränderten Realität zu unterziehen sein.


Hier wird insbesondere auch der Notwendigkeit einer mittel- bis langfristigen Planungs- und Entwicklungsperspektive Rechnung zu tragen sein. Befähigungen müssen mit Blick auf die Herausforderungen zumindest der kommenden Dekade definiert und ihre Entwicklung frühzeitig in die Wege geleitet werden. Dies gilt nicht nur für den technisch-wissenschaftlichen Bereich in Beschaffung und Analyse, sondern insbesondere auch für die Entwicklung eines ausreichend großen und spezifisch hochqualifizierten Mitarbeiterstamms. Zentrale Bedeutung für die Handlungsfähigkeit des Dienstes im Sinne der Auftrags wird jedoch der systematisch und langfristig anzulegenden Schaffung von internationalen Beschaffungsstrukturen beizumessen sein. Hier handelt es sich um eine notwendig perspektivische Aufgabe in allen Beschaffungsarten: Was heute nicht konzipiert und zielorientiert aufgebaut wird, steht morgen nicht zur Verfügung und kann nicht ad hoc geschaffen oder „ausgeliehen“ werden. Der gerne und meist missbräuchlich genutzte Begriff der „Kaltstartfähigkeit“ erfordert sorgfältig vorbereitete, gepflegte und betriebene operative Infrastruktur sowie umfängliche vorgehaltene Kapazitäten in Fach- und Sachkunde, die nötigenfalls rasch abgerufen und zur lageabhängigen weiteren Leistungssteigerung herangezogen werden können. Nicht umsonst ist im Zusammenhang mit der Krise um Russland und die Ukraine mit Befriedigung darauf hingewiesen worden, dass der Bundesnachrichtendienst hier – im Gegensatz zu dem einen oder anderen Alliierten – auf eine lange Geschichte fachlicher Befassung mit der Thematik und entsprechenden Kapazitäten an qualifiziertem Personal und umfänglichem Basiswissen hat zurückblicken können. Es sind diese Parameter, an denen Kompetenz und Inkompetenz zu messen sind. In der Praxis bedeutet dies, dass bereits ohne akuten Handlungszwang in allen vorausschauend definierten (und stets zu aktualisierenden) Feldern von sicherheitlicher Relevanz erhebliche Mittel kontinuierlich für die Wahrung eines entsprechenden qualitativen wie quantitativen Niveaus in Beschaffung und Auswertung vorgehalten und zielgerichtet eingesetzt werden müssen. Dieser Prozess ist sowohl über die Dienst- und Fachaufsicht maßgeblich zu begleiten; er liegt jedoch als Kernelement sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit, ebenso wie im Fall der Bundeswehr, auch in der politischen parlamentarischen Verantwortung, die es über die zuständigen Gremien wahrzunehmen gilt.


In gleicher Weise werden auch die strukturellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine verzugsarme (idealiter verzugslose) gesicherte und redundante Kommunikation zwischen dem Dienst und seinen Abnehmern auf nationaler wie internationaler Ebene zu gewährleisten und zukunftsfähig zu halten sein, ebenso wie die sich daran anschließenden Konsultations- und Entscheidungsstrukturen auf Bund- und Länderebene sowie erneut im europäischen wie transatlantischen Verbund.


Der Gesprächskreis Nachrichtendienste hat bereits im Zusammenhang mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 19. Mai 2020 und des sich hierauf beziehenden Gesetzgebungsverfahrens auf Kernbefähigungen hingewiesen, die es in unser aller wohlerwogenem Interesse zu wahren und zu mehren gelte, so zum Beispiel im Bereich der strategischen Fernmeldeaufklärung, aber auch deutlich darüber hinaus . In gleicher Weise wurde auch zur geplanten Strukturreform des BND und ihren Implikationen für eine Ertüchtigung des Dienstes ebenso Stellung genommen wie zuvor schon zu wichtigen Aspekten vorausschauender Personalplanung und Qualifizierungsoffensiven.


Im Zusammenhang mit dem Erfordernis eines „Kassensturzes“ soll hier auf der vorbezeichneten Grundlage zusammenfassend, ergänzend und weiterführend ein Fragenkatalog präsentiert werden, der als Beitrag für die nunmehr überfällige konstruktive Befassung mit dem Dienst in den hierfür vorgesehenen, sich aktuell neu konstituierenden Gremien intendiert ist. Angesichts der Sicherheitsempfindlichkeit der Thematik kann es sich im vorliegenden Rahmen allerdings nur um generische und ergebnisoffene Fragestellungen handeln, deren Konkretisierung und Substantiierung dem Dienst, seiner Aufsichtsbehörde und den Gremien im gemeinsamen Bemühen um einen anhaltend leistungsstarken und zukunftsfähigen Dienst vorbehalten bleiben muss, der den neuen Herausforderungen zusammen mit Freunden und Partnern in überzeugender Weise gewachsen ist.

Der GKND bietet an, diesen Prozess im Rahmen seiner Möglichkeiten zu begleiten.


Kernfragen an Politik und Bundesnachrichtendienst:

  1. Entsprechen die geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die Auslandsaufklärung in ihrer konkreten Ausprägung und ihren intendierten bzw. nicht intendierten Konsequenzen den aktuellen und insbesondere den absehbaren Anforderungen für eine vorausschauende, zeitgerechte und umfassende Ermittlung relevanter Sachverhalte im Sinne des Kernauftrags? Stehen hier Ermächtigungen und Kontrolle in einem sach- und auftragsgerechten Verhältnis zu dem verfassungsrechtlich begründeten Erfordernis einer wirksamen Auslandsaufklärung?

  2. Ermöglichen die gefundenen Regelungen für die Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten den aus den gleichen Gründen unabweisbaren Austausch von Informationen, gerade auch mit „schwierigen“ Diensten, in der erforderlichen Qualität, Zeitgerechtigkeit und Quantität?

  3. Besteht eine ausreichende Befähigung und Planung zur zielgerichteten, perspektivischen und umfänglichen Rekrutierung fachlich und sprachlich spezifisch qualifizierten Personals für alle beschaffenden und auswertenden Kernbereiche des Dienstes und dessen mittel- bis langfristige personalwirtschaftlicher Weiterentwicklung und Qualifizierung? Dies gilt nicht nur für den Bereich der sogenannten „Mint“-Fächer, die natürlich essentielle Grundlage für alle technischen Befähigungen des Dienstes sind, sondern in gleicher Weise für die sozial- und politik-, sprach- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, ebenso wie für Psychologie und Historiographie. Für tragfähige, inhaltlich aussage- und bestandskräftige Aufklärungsergebnisse, benötigt der Dienst in allen für die Auftragserfüllung erforderlichen Fachbereichen hohe thematische Tiefenschärfe und analytische Auflösungskraft, die unmittelbar auf dem jeweiligen wissenschaftlichen Kenntnisstand aufbauen und diesen in eigener Kompetenz nutzen und wo nötig weiterentwickeln können muss. Angehörige der Dienste müssen den Standards in Forschung und Lehre in ihren jeweiligen Disziplinen gerecht werden können. Nur so können sie in eigenständiger Fachkunde und Urteilskraft planen und handeln.

  4. Verfügt der Dienst im In- und Ausland über die erforderlichen strukturellen, fachlichen, operativen und personellen Kapazitäten, die es ihm ermöglichen, auftragsgerecht die Informationen zu beschaffen, die für die Bundesregierung von sicherheitspolitischem Interesse sind? Wo bestehen Defizite, und welche Ansätze gibt es, diese in einem überschaubaren Zeitrahmen systematisch zu minieren und im Ergebnis zu beheben?

  5. In welchem Umfang finden hierbei neue Fragestellungen, Risiken und Bedrohungspotentiale bereits eine konzeptionelle und planerische Berücksichtigung in fachlicher, personeller und materieller Ressourcenallokation und Ressourcenentwicklung?

  6. In welchem Umfang verfügt der Dienst über technische Befähigungen in Beschaffung und Auswertung, die den aktuellen, darüber hinaus aber insbesondere auch den absehbar künftigen thematischen und operativen Herausforderungen gerecht werden können? Welche Befähigungen existieren hier konkret mit welcher Aufgabenstellung, welchen Leistungsparametern und möglichen Einschränkungen? Welche technischen und operativen Entwicklungsperspektiven sind jeweils gegeben oder müssen erst geschaffen werden? Welcher personelle, technische und materielle Ansatz ist hierfür überjährig erforderlich, und wie soll er in die Wege geleitet werden?

  7. In welcher Weise soll die aufbau- und ablauforganisatorische Integration des Bundesnachrichtendienstes in die außen-, sicherheits- und militärpolitischen sowie militärisch-operativen oder auch polizeilichen und sicherheitsdienstlichen Entscheidungsprozesse und -strukturen der Bundesrepublik Deutschland wie im Rahmen von EU und NATO im Hinblick auf die neuen Herausforderungen optimiert werden? Welche technisch leistungsfähigen, sicheren und resilienten Strukturen sollen hier zwischen den Ressorts und dem Bundeskanzleramt geschaffen werden? Welche infrastrukturellen Maßnahmen sind hierfür erforderlich? Welche prozessualen Mechanismen und Kompetenzregelungen für eine stabile und sachgerechte permanente Konsultation, Entscheidungsfindung, Umsetzung und Ergebniskontrolle im Krisenfall sollen im Lichte der bisherigen Erfahrungen und absehbaren Entwicklungen optimiert werden?

Im hier möglichen Rahmen können diese Kernfragen nur in der gebotenen Allgemeinheit gestellt und umrissen werden. Es wäre jedoch nach der festen Überzeugung des GKND von zentraler Bedeutung, sie einer sachgerechten Behandlung in allgemeiner Form sowohl in den nunmehr zu entwickelnden sicherheitspolitischen Positionsbestimmungen als auch in spezifischen Planungs- und Entscheidungsunterlagen der Bundesregierung zuzuführen. Ohne eine in ihren personellen, materiellen und technischen Ressourcen sowie ihren rechtlichen Mandatierungen zukunftsfähige nachrichtendienstliche Befähigung wird die Bewältigung des sicherheitspolitischen Zeitenwandels nicht gelingen.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender des Vorstandes

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„Soviet Military Power“ - Benötigen wir ein Remake?

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Eine Zeitenwende auch für die Nachrichtendienste