Eine Zeitenwende auch für die Nachrichtendienste

Beiträge des GKND zur Diskussion um nachrichtendienstliche Aufgaben und Befähigungen im Zeichen existenzieller Herausforderungen


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Kernaussagen:

  • Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die schon lange angemahnte Notwendigkeit eines Umsteuerns in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen nunmehr zweifelsfrei offengelegt.

  • Mit der Zeitenwende verbunden sind aktuell Maßnahmen, die eine überfällige Ertüchtigung der Bundeswehr angesichts jahrzehntelanger Unterfinanzierung und Vernachlässigung Mittelansatz angehen sollen.

  • Dies ist umso mehr erforderlich als über den zugespitzten Konflikt mit einer revisionistischen Führung in Russland hinaus globale krisenhafte Entwicklungen auf absehbare Zeit die Selbstbehauptungsfähigkeit, Resilienz und Handlungsfähigkeit von NATO und EU dringender denn je erfordern.

  • Beide Bündnisse lassen an dieser Notwendigkeit seit Jahren keinen Zweifel. Ihre Beschlüsse und Positionspapiere sind von den Mitgliedstaaten indossiert; sie müssen nunmehr auch in angemessener Weise umgesetzt werden.

  • Zur sicherheitspolitischen Ertüchtigung zählt notwendig auch eine realistische und ehrliche Bestandsaufnahme der Befähigungen auf nachrichtendienstlicher Ebene. Leistungsfähige Dienste sind nicht alles; ohne ihr aktuelles, fundiertes und vorausschauendes Lagebild, das die Grundlage für Handlungsoptionen bietet, ist alles andere jedoch nichts.

  • Der politische Imperativ, die Belange der Landes- und Bündnisverteidigung ebenso wie der Stabilisierung des sicherheitspolitischen Umfelds mit angemessener Priorität zu berücksichtigen, gilt mithin in gleicher Weise und Dringlichkeit für die Nachrichtendienste, ihre Befähigungen und ihre politische wie rechtliche Mandatierung.

  • Die Kernfrage, welche Befähigungen erforderlich sind, damit sich Deutschland und seine Verbündeten nachrichtendienstlich gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft behaupten können, muss daher ein weiterer Schwerpunkt der nunmehr eingeleiteten sicherheitspolitischen Umorientierung werden.

  • Der GKND hat hierzu in den vergangenen eineinhalb Jahren umfänglich Stellung genommen und stellt in der Anlage noch einmal die wesentlichen Dokumente in thematischer Gliederung ebenso zur Verfügung wie seine Bereitschaft, beratend und meinungsbildend zu unterstützen.

Der Schock des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die Bedrohungswahrnehmung weltweit, besonders aber in Europa und in Deutschland, grundlegend gewandelt. Krieg im Herzen Europas ist wieder eine Realität geworden.

Intransigenz gegenüber elementaren sicherheitspolitischen Bedrohungsmomenten

Vor dem Risiko einer solchen Entwicklung haben westliche Nachrichtendienste bereits nach den Erfahrungen in Georgien und Moldawien immer wieder gewarnt; spätestens seit 2014 ist die Zuwendung der russischen Führung zum Einsatz militärischer Macht als Mittel zur Durchsetzung eines revisionistischen Politikansatzes in Europa für jedermann offenkundig geworden. Nicht nur in Deutschland haben es die Dienste an entsprechenden Analysen und Berichten nicht fehlen lassen, sind jedoch auf eher geringe politische Akzeptanz, Aufmerksamkeit und schon gar nicht operative Reaktion gestoßen. Eine Ausnahme bildeten hier allein schon aufgrund ihrer geographischen Exposition und leidvollen historischen Erfahrungen die skandinavischen, baltischen, zentral- und südosteuropäischen Staaten.

Auch NATO und Europäische Union haben in den Jahren nach 2014 wenig Zweifel daran gelassen, wo die großen sicherheits- und geopolitischen Risiken des 21. Jahrhundert zu lokalisieren, und wie sie in ihrer Qualität und Imminenz zu bewerten seien. Auch die Analysen und Positionspapiere, obwohl von den Regierungen der Mitgliedstaaten indossiert, haben wenig Resonanz auf politisch-operativer Ebene gefunden. Zu groß waren offenbar Realitätsverweigerung und Zögerlichkeit zugunsten kurzfristiger Vorteile, sei es im Hinblick auf Meinungsumfragen und Wahlen, sei es im Interesse günstiger Ressourcen. Die Konsequenzen für Resilienz als eine fundamentale Grundlage für die Glaubhaftigkeit auch von nicht-militärischer Abschreckung und Selbstbehauptung sind nunmehr auf spektakuläre Weise zu Tage getreten. Sie können nicht mehr geleugnet werden. Gleiches gilt, erneut für jedermann offenkundig, auch für die militärischen Befähigungen der meisten europäischen Mitglieder in NATO und EU, und hier in besonderem Maße für Deutschland.

Nachhaltigkeit der sicherheitspolitischen Umorientierung im Zeichen der Zeitenwende

Die Bundesregierung hat nunmehr mit einer dramatischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kehrtwende einschneidende Konsequenzen für die Bundeswehr ebenso gezogen wie in Bezug auf eine zumindest lageabhängige Revision der traditionellen Rüstungsexportbeschränkungen. Die Behebung von über Jahre hinweg allseits bekannten, nicht selten verspotteten gravierenden Defiziten in den Befähigungen der Bundeswehr und der Einsatzbereitschaft ihrer Kräfte sind plötzlich ins Zentrum höchster Priorisierung gerückt, zusammen mit der ernüchternden Erkenntnis, dass es für eine kurzfristige Überwindung dieser Missstände angesichts jahrzehntelanger Unterfinanzierung und Intransigenz in sicherheits- und verteidigungspolitischen Belangen zu spät ist. Die Bundesrepublik Deutschland wird mit den selbst verschuldeten unhaltbaren Zuständen für eine gefährliche Übergangszeit von derzeit noch schwer absehbarer Dauer zu leben und das Prinzip Hoffnung auf großzügige Bündnissolidarität insbesondere der USA hochzuhalten haben.

Es bleibt nunmehr dringend zu wünschen, dass die aktuell ja auch medial allseits beschworene Katharsis über das Stadium wohlfeiler Lippenbekenntnisse hinaus zu einer grundlegenden und insbesondere auch bestandskräftigen Revision der deutschen Sicherheitsarchitektur führen möge. Die tektonischen sicherheitspolitischen Verschiebungen sind ja bekanntlich nicht auf die aktuelle Krise beschränkt. Sie sind vielmehr Ausdruck und Ergebnis eines globalen Trends hin zu „kinetischer Interessendurchsetzung“ durch militärisch zum Teil im Übermaß ertüchtigte regionale wie internationale Akteure, deren Orientierung an einer regelbasierten globalen Ordnung und der Macht des Rechts weniger denn je ausgeprägt ist. Dieser Trend wird sich absehbar angesichts sich zuspitzender Verteilungskämpfe vor dem Hintergrund von Klimafolgen, Demographie und Versorgungskrisen bereits in den kommenden Jahren verstetigen und verstärken.

Epochale Herausforderungen und existentielle Gefahren im globalen Maßstab

Die Frage wird mithin dringlicher denn je, wie sich liberale Demokratien auf diese immer unabweisbarere Realität im ureigensten Überlebensinteresse einzustellen gedenken. Es kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass epochale Anstrengungen zu wirksamer Abschwächung der Folgen des Klimawandels auf globaler Ebene ebenso unternommen werden müssen wie der Versuch, den Klimawandel selbst so gut es eben noch geht zu begrenzen. Ebenso so klar sollte nach den Erfahrungen der vergangenen beiden Dekaden allerdings auch sein, dass kaum mit einer rechtzeitigen ausreichenden globalen Mobilisierung zu rechnen sein wird, es sei denn, die existenziellen Bedrohungen würden ein derartiges Ausmaß annehmen, dass sie international allseits handlungsleitend werden würden. Ob diese späte Einsicht und Aktionsbereitschaft dann noch rechtzeitig eintreten werden, wird allerdings die Zukunft weisen müssen.

Selbst bei einer zu erhoffenden Abwendung globaler existenzbedrohender Gefahren ist jedoch in jedem Fall für die kommenden Dekaden mit regional unterschiedlich ausgeprägten, häufig jedoch bereits schwerwiegenden Schäden durch den Klimawandel zu rechnen, die im jeweiligen geographischen Kontext kollektive Lebensgrundlagen und Zukunftsperspektiven in Frage stellen werden. Existenzielle Verteilungskämpfe und Verdrängungseffekte mit dem Zusammenbruch staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen, humanitären Katastrophen und massiven Migrationsbewegungen werden eine hochwahrscheinliche Folge sein. Sie werden auch die weniger betroffenen Teile der Weltgemeinschaft in vielfältiger Weise massiv herausfordern, allein schon, um dem Schlimmsten so gut es geht sozioökonomisch und humanitär entgegenzuwirken und Konsequenzen für die eigenen, auf Ressourcen, Märkte und Lieferketten angewiesenen Wirtschaften zu minimieren.

Unabweisbar bleibt in diesem Kontext auch, dass derartige existentielle Bedrohungen ein hohes Potential für massive und anhaltende gesellschaftliche wie zwischenstaatliche Gewalt besitzen, die es nötigenfalls mit Gegengewalt einzugrenzen und im Verbund mit politischen Maßnahmen zu überwinden gelten wird, sei es um der Stabilität der betroffenen Regionen willen, sei es zur Wahrung der eigenen unmittelbaren Sicherheitsinteressen. Dass es jenseits dieser sich erst abzeichnenden epochalen Herausforderungen auch noch weiterhin in erster Linie nationalstaatlich geprägte machtpolitische und hegemoniale Ambitionen zu gewärtigen gilt, sollte angesichts der Vielzahl entsprechender Kriege nach 1945, aber auch nach dem „Ende der Geschichte“ seit 1990, eigentlich keiner Erwähnung bedürfen. Bekanntlich gilt dies auch für das Europa nach dem Ende des Kalten Krieges. Es zählt zu den besonders frappierenden und desillusionierenden Phänomenen kollektiver Realitätsverweigerung und grundlosen Illusionismus‘, dass dieser Sachverhalt zumindest in der Mitte Europas und damit in Deutschland konsistent nicht zur Kenntnis genommen worden ist und schon gar nicht zu verantwortungsvollem, zukunftsorientierten sicherheitspolitischen Handeln geführt hat.

Sicherheitspolitische Implikationen der Zeitenwende

Nun wird es also darauf ankommen, die sicherheitspolitische „Zeitenwende“ zu gestalten. Es geht hierbei nicht um die ebenso beliebten wie missbräuchlich verwendeten Schlagworte der „Aufrüstung“, „Hochrüstung“ oder „Militarisierung von Außenpolitik“, die bis in die aktuelle Diskussion immer wieder bemüht werden. Es geht aktuell wie absehbar ganz einfach um „Ausrüstung“, besser gesagt, um das Füllen klaffender, für jeden ersichtlicher Befähigungslücken, aufgrund derer die Bundeswehr allein schon im Bündnis, geschweige denn im eigenständigen Einsatz, kaum bestehen könnte. Die zum Teil beschämenden und verstörenden Defizite sind seit Jahren bekannt, haben aber offenbar auf politischer Ebene niemanden sonderlich gestört, offenbar in der wohligen Vorstellung, nie auf diese Befähigungen zurückgreifen zu müssen, die durch Soft Power auf die Dauer ohnehin bestimmt obsolet werden würden. Dass dies allein schon eine kaum vertretbare Selbsttäuschung zu Lasten Dritter, nämlich der in Auslandseinsätzen dienenden Soldatinnen und Soldaten, also unserer eigenen Söhne, Töchter, Eltern und Partner, war, ist hierbei geflissentlich übersehen worden. Es mutet beklemmend an, aktuell mit der öffentlichen politischen Forderung konfrontiert zu werden, dass nunmehr „unsere Soldatinnen und Soldaten“ über die bestmögliche Ausstattung für ihre Einsätze verfügen sollten. Wie schön, dass dies nach dreißig Jahren der Bundeswehreinsätze mit ungeeignetem Material und unzureichender Bewaffnung und Ausrüstung nun angegangen werden soll. Hier ist ein politischer Paradigmenwechsel erforderlich, der weit über die Einstellung eines Sondervermögens hinausgeht und letztlich die Übernahme von aktiver und nachhaltiger politischer, aber auch ethischer Verantwortung für die Menschen erfordert, die für die Gewährleistung unserer Sicherheit mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit einstehen. Mit Sonntagsreden ist es hier nicht getan; ebenso angemessen wie erforderlich ist vielmehr Demut vor den bisherigen Versäumnissen und vor der Aufgabe, diese nunmehr nach bestem Wissen und Gewissen tatkräftig und ergebnisorientiert zu beheben.

Vor diesem Hintergrund sollte es auch keine Überraschung sein, dass die gleiche öffentliche Haltung auch den Nachrichtendiensten des Bundes entgegen gebracht worden ist und auch noch weiterhin wird, nicht zuletzt auch angesichts der gerne ins Feld geführten, im Übrigen auch keineswegs abzuleugnenden historischen Erfahrungen aus den finsteren Zeiten des Nationalsozialismus und des repressiven Überwachungs- und Unrechtsregimes der DDR. Hier wäre allerdings grundsätzlich anzumerken, dass diesen Strukturen autoritärer und übergriffiger Obrigkeitsstaatlichkeit bis hin zum Terror eines nationalsozialistischen Systems nunmehr 77 beziehungsweise 32 Jahre werteorientierter und auch praktizierter liberaler und sozialer Rechtsstaatlichkeit entgegenstehen. Auch diese kann bekanntlich nicht zu umfassender gesellschaftlicher Idylle und allseitigem gedeihlichen Interessenausgleich führen, doch gibt sie einen Rahmen, innerhalb dessen es sich ungleich besser leben lässt, als in der überwiegenden Zahl an Ländern dieser Welt. Die einfache Frage, wo „man“ alternativ leben möchte, nicht als privilegierter Ausländer sondern als „Landeskind“, hilft hier im allgemeinen ebenso rasch wie nachhaltig zur eigenen Standortbestimmung, auch im Hinblick auf die Bewahrens- und Verteidigungswürdigkeit eines nach Leid und Krieg in einer historisch seltenen „Sekunde“ geschaffenen gesellschaftlichen und staatlichen Rahmens. Ein derartiges, historisch wie aktuell durch einfachen Systemvergleich mögliches Bewusstsein der Bedingtheit unserer privilegierten Lebensumstände sollte eigentlich eine ausreichende Grundlage für die Erkenntnis bilden, dass all dies weder selbstverständlich entstanden war noch ebenso wenig selbstverständlich in einem globalen Umfeld ohne eigenes Zutun bewahrt werden kann, das so gar nichts mit den eigenen Lebenswelt zu tun hat. Die Kehrseite einer „Insel der Seligen“ ist stets ihre Gefährdung; wer diese ignoriert und keine wirksame Vorsorge zu ihrer Bewahrung trifft, verliert diese über kurz oder lang.

Konsequenz für die Nachrichtendienste: Bestandsaufnahme von Befähigungsprofilen

Zur den Mitteln der gebotenen Selbstbehauptung zählen neben soft“ und „hard power“ notwendig auch die Nachrichtendienste des Bundes, denen die gleiche bereits der Bundeswehr entgegengebrachte Intransigenz oder gar Ablehnung entgegen gebracht worden ist. Dies wird zusätzlich erleichtert und gefördert durch die aus Geheimschutzgründen bedingte eingeschränkte öffentliche Diskussionsmöglichkeit von Aufgaben und Befähigungen, verbunden mit einer damit einhergehenden, medial gerne geförderten populären Neigung zur Mystifizierung oder Dämonisierung. Konnten einige Kerndefizite der Bundeswehr – wie jüngst ja auch eindrucksvoll demonstriert – auf politischer Ebene grundsätzliche mit der Aussage öffentlichkeitswirksam auf den Punkt gebracht werden, dass Deutschland als Mittelmacht in Europa und NATO-Mitglied Flugzeuge die fliegen, Schiffe, die in See stechen könnten, ebenso brauchte wie optimal ausgerüstete und ausgestattete Soldatinnen und Soldaten, lässt sich dies im Fall der Nachrichtendienste nicht in der gleichen Weise visualisieren. Nicht funktionsfähiges Großgerät ist unübersehbar; mögliche Defizite in nachrichtendienstlichen Befähigungen zur Beschaffung, Analyse und Berichterstattung erschließen sich nicht in der gleichen Augenfälligkeit und haben darüber hinaus in der Öffentlichkeit, die ja auch jene der jeweiligen Gegner ist, auch nichts zu suchen. Im Gegensatz zu Streitkräften, die ihre Befähigungen im Hinblick auf mögliche Einsätze entwickeln und optimieren, müssen Nachrichtendienste bereits in Friedenszeiten umfänglich einsatzbereit und leistungsfähig sein, da sie ja die entscheidenden Lagemerkmale für Krisen- oder gar Konfliktszenarien bereits im Vorfeld ermitteln und bewerten müssen, um sie dann bei Bedarf kurzfristig und sachkompetent in die Entscheidungsprozesse der Bundesregierung einzubringen. Wenn die Dienste nicht hier und jetzt angemessen leisten können, verfehlen sie ihren Kernauftrag der rechtzeitigen und fundierten Information, ggf. auch Warnung, der politischen und militärischen Entscheidungsträger. Es ist dem Bundesverfassungsgericht zu danken, dass es diese sachlich an sich naheliegende, im öffentlichen Diskurs jedoch meist großzügig übersehene Erkenntnis in seinen klaren Worten zum verfassungsrechtlich gebotenen Erfordernis der „Wirksamkeit“ nachrichtendienstlicher Aufklärung als wesentliches Element staatlicher Sicherheitsgewährung und internationaler Selbstbehauptung festgehalten hat.

Die Nachrichtendienste von Bund und Ländern werden ja gerne und meist unwidersprochen als „Fremdkörper in einer Demokratie“ bezeichnet, die es, wenn schon nicht abzuschaffen, dann wenigstens ohne allzu großes Augenmerk auf ihren verfassungsmäßigen Auftrag und seine Implikationen zu richten, so umfassend rechtlich wie politischen einzuhegen und zu kontrollieren gelte, dass von ihnen geringstmögliche Gefährdung von Rechtspositionen und Schutzgütern ausgehe. So wenig in den Jahren nach 1990 Aufmerksamkeit oder gar Verständnis für die Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung aufgebracht worden ist, so gering ausgeprägt ist auch die Neigung von Gesellschaft und Politik gewesen, sich der Notwendigkeit und insbesondere auch den Voraussetzungen einer wirksamen nachrichtendienstlichen Aufklärung von Gefährdungssachverhalten und -potentialen zu widmen. Lediglich im Bereich des Terrorismus, mithin der potentiell unmittelbar erfahrbaren Betroffenheit von Leib und Leben des Einzelnen, ist der – unstreitig legitime – Ruf nach ebenso effektivem wie umfassendem Schutz immer wieder laut geworden, ohne dass über die hiermit verbundenen Befähigungen und Ermächtigungen der Dienste je ernsthaft diskutiert worden wäre. Sicherheit sollte eben irgendwie „perfekt“ und einfach „da“ sein, dabei jedoch möglichst wenig kosten und insbesondere keinerlei reale oder perzipierte Einschränkungen in Rechtspositionen oder liebgewordenen Lebensumständen mit sich bringen. Diese verbreitete, nicht immer hilfreiche gesellschaftliche Anspruchshaltung ist ja bekanntlich auch in den beiden Jahren der Pandemie immer wieder zu Tage getreten.

Die Bundesrepublik Deutschland muss sich nun nach überwiegendem medialen Stimmungsbild von sicherheitspolitischen „Lebenslügen“ verabschieden; sie sei nunmehr aus ihrem „Wolken-kuckucksheim“ vertrieben worden und müsse sich nun endlich unliebsamen Realitäten nicht nur stellen, sondern – horribile dictu – sogar praktische, energische und langfristig wirksame Konsequenzen im Sinne einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Ertüchtigung ziehen.

Das Gleiche gilt nunmehr aus gleichen Gründen und mit gleicher Dringlichkeit auch für die Nachrichtendienste. Wer sich heute um eine überfällige glaubhafte Einsatzbereitschaft der Bundeswehr bemüht, wird um eine umfassende und ehrliche Bestandausnahme der Befähigungen nachrichtendienstlicher Aufklärung nicht herumkommen. Diese sind eine notwendige Voraussetzung für wirksames, vorausschauendes und zielorientiertes Handeln auf politischer und militärischer Entscheidungsebene ebenso wie in der operativ-strategischen und taktischen Umsetzung.

Beiträge des GKND

Der Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND) hat unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 19. Mai 2020 immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, bei der politischen und legislativen Behandlung der Dienste dem Grunderfordernis angemessener und zukunftsorientiertes Befähigungen und ihrer sachgerechten rechtlichen Mandatierung in verantwortungsvoller Weise Rechnung zu tragen.

In zahlreichen Stellungnahmen und Hintergrundinformationen sind so eine ganze Reihe von Beiträgen zu verschiedenen essentiellen sicherheitspolitischen Fragen mit Bezug zu den Nachrichtendiensten und ihrer Kernaufgaben entstanden, die auf der Website des Vereins recherchiert werden können.

Der GKND nimmt die nunmehr anzustrebende sicherheitspolitische Debatte zum Anlass, noch einmal seine grundlegenden Diskussionsbeiträge thematisch strukturiert zu referenzieren, um so einen raschen konzentrierten Zugriff auf die Papiere zu erleichtern.

Er tut dies in der Hoffnung, einige der bisher weniger beachteten oder berücksichtigten Sachverhalte und Perspektiven in die sich entwickelnde politische Willensbildung einzubringen, von der nicht nur für das Befähigungsprofil der Streitkräfte, sondern auch jenes der Nachrichtendienste des Bundes eine substantielle und dauerhafte Ertüchtigung zu erhoffen sein wird.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender des Vorstandes

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Befähigung und Zukunftsfähigkeit des Bundesnachrichtendienstes

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