Vom Krieg in der Ukraine überrollt?

Stellungnahme zum Focus-Artikel vom 08. März 2022


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Zum FOCUS-Artikel vom 08.03.2022 mit der Überschrift „Vom Krieg in der Ukraine überrollt – Nach Afghanistan jetzt die Putin-Panne: Wieder blamiert sich Deutschlands Geheimdienst“ nimmt der Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND) im Rahmen seiner satzungsgemäßen Zielsetzung Stellung, zu einer sachgerechten öffentlichen Diskussion über die geheimen staatlichen Nachrichtendienste in demokratischen Rechtsstaaten beizutragen:

Der BND hat keine „4000 Mitarbeiter in der Chausseestraße“ und weitere „Tausende Mitarbeiter auf der ganzen Welt“. Wie aus öffentlich zugänglichen Quellen unschwer hervorgeht, arbeiten in etwas 6000 bis 6500 Menschen im Dienst; davon die übergroße Mehrheit in den Liegenschaften Chausseestraße (Berlin) und Heilmannstraße (Pullach). Die hier insinuierte weltweite Präsenz von tausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wäre in der Tat zu schön um wahr zu sein.

Der BND-Präsident reiste ausweislich anderweitiger Hintergrundberichterstattung in deutschen Medien nicht „völlig nichtsahnend“ nach Kiew, sondern sehr wohl im Bewusstsein einer unmittelbar drohenden Kriegsgefahr, im Übrigen auf dringliche Einladung der Gastgeber, die er noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz getroffen hatte. Das nennt man Solidarität mit dem Partner und auch Courage, nicht Ahnungslosigkeit.

Der BND hat über die Wochen und Monate kontinuierlich, nicht selten täglich auf Leitungsebene an die Bundesregierung über die Lageentwicklung und Lageperspektiven in der Ukraine berichtet. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Kriegsgefahr, verließ das Dienstflugzeug, mit dem der Präsident angereist war, unmittelbar nach Landung wieder Kiew. Wenn also jemand über die Risiken im Detail Bescheid wusste, dann der Präsident des BND auf der Grundlage der Berichterstattung und Analysen seines eigenen Hauses. Die bereits in der Erstberichterstattung des FOCUS vom 25.02.2022 zu findende Behauptung von „Ahnungslosigkeit“ klingt zwar „gut“, trifft aber nicht zu. Im Übrigen war das genaue Datum eines russischen Angriffs bekanntlich nicht eindeutig bekannt: Auch die amerikanischen Dienste mussten sich hier in ihrer Prognose korrigieren. Es sei daran erinnert, dass zunächst von einem möglichen Beginn der Feindseligkeiten ab Mitte Februar ausgegangen war.

Dass Bruno Kahl aufgrund der Sperrung des Luftraums am Folgetag auf dem Landweg die Ukraine verlassen musste, ergab sich hieraus von allein. Nicht umsonst war angesichts eines solchen Risikos das Dienstflugzeug ja tags zuvor zurückgeschickt worden, um es nicht in möglichen Kriegswirren zu verlieren. Wie eine im Dienst überhaupt nicht existierende „Spezialeinheit“ den BND-Präsidenten dann binnen weniger Stunden hätte „retten“ sollen, erschließt sich nicht. Wie hätte diese denn so schnell nach Kiew gelangen sollen? Etwa doch mit dem zivilen Dienstflugzeug? Etwa mit einem Hubschrauber der Bundeswehr durch den gesperrten Luftraum? Und warum wurde Herr Kahl dann nicht mit der Truppe ausgeflogen sondern musste sich auf den beschwerlichen und langwierigen Landweg begeben? Offenkundige und auch me-dial bekannte Tatsache ist, dass der BND-Präsident – wie eine ganze Gruppe offenbar auch „völlig ahnungsloser“ Diplomaten und anderen entsandten deutschen Personals, die in Aus-übung ihrer Dienstpflichten bis zuletzt in Kiew verblieben waren – mit einem kleinen Fahrzeugkonvoi unter dem Schutz seiner Gastgeber zur Grenze gebracht wurde, wie sich das in einer solchen Situation eben gehört. Von deutschen Beamten wird in ihrem Amtseid „treues Dienen“ verlangt, und hierzu gehört eben auch ein gewisses Maß an Standhaftigkeit angesichts einer Gefahrenlage. Bekanntlich wird nicht nur in Deutschland sondern international vom diplomatischen Kernpersonal einer Botschaft erwartet, dass es auch in Spannungs- und Kriegszeiten „die Stellung hält“. Es wird im Rahmen der Fürsorgepflicht des Dienstherrn erst abgezogen, wenn die Sicherheitslage völlig außer Kontrolle zu geraten droht. Was für den deutschen Botschafter und Botschaftspersonal gilt, gilt a fortiori auch für den Leiter eines deutschen Nachrichtendienstes und seine Mannschaft.

Für den GKND erschließen sich daher mögliche sachliche Hintergründe für den im Artikel behaupteten „Unmut in Regierungs- wie Oppositionskreisen“ nicht.

Die Frage, ob denn kein „Austausch mit internationalen Kollegen, etwa den Amerika-nern“, stattgefunden habe, sollte sich eigentlich erübrigen. Zum einen hätte es ja fast schon keines Austausches bedurft, sondern nur eines Blicks in die Medien, um sich über die unmittelbar bevorstehende Kriegsgefahr im Klaren zu sein. Zum anderen wird dem BND ja gerne in anderem Zusammenhang von gleicher Seite vorgeworfen, sich in unzulässiger Weise an den US-Diensten zu orientieren. In der Tat tauscht sich der Dienst, gerade auch in Krisensituationen, eng, detailliert und tagesaktuell mit Freunden und Partnern aus. Darauf aufbauend erfolgt dann eine individuelle operative Risikoabwägung der BND-Leitung, die sich – wie erwähnt – letztlich auch an der bis Kriegsausbruch ebenfalls bestehenden diplomatischen deutschen Präsenz in Kiew orientieren konnte. Es wäre mithin gut, wenn mediale wie möglicherweise auch eine im Artikel reklamierte Kritik „in Regierungs- und Oppositionskreisen“ sich zuvor mit diesen Sachverhalten vertraut machen würde.

Die Behauptung, dass der BND „wieder von einer internationalen Krise überrollt“ worden sei, erweist sich mithin als griffig und liebgewordene Stereotype bedienend, jedoch wie so häufig als wenig fundiert. Von dieser Krise konnte man gar nicht „überrollt“ werden, da jeder, nicht nur in Deutschland, wusste, was aller Wahrscheinlichkeit nach in Kürze passieren würde. Warum sonst wären schon seit Wochen intensive Konsultationen zwischen den Verbündeten und Partnern über mögliche Reaktionen erfolgt? Warum sonst konnten dann binnen Stunden und Tagen weitreichende Sanktionen multilateral und einmütig beschlossen werden, Prozesse also, die gewöhnlich selbst in Krisenzeiten kontrovers, zeitraubend und mit schwachem Ergebnis ablaufen? All dies ist von langer Hand im Hinblick auf die allseits ernst genommene Kriegsgefahr vorbereitet worden, nicht zuletzt bekanntlich auch die ebenfalls medienbekannte und in Deutschland ja über Wochen kontrovers diskutierte internationale Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte mit Waffen und Material. Wer sollte da noch „überrollt“ worden sein?

Zum ebenfalls im Artikel angesprochenen „Totalversagen“ des BND in der letzten Phase des Afghanistankonflikts hat der GKND bereits Stellung genommen. Es sei nochmals darauf verwiesen, dass es sich hier um eine in der Tat zu analysierende Fehlperzeption der taktischen Lageentwicklung und ihrer Perspektiven in der letzten Phase des Konflikts handelte. Zu Recht wird hier eine sorgfältige Aufarbeitung hilfreich sein, um mögliche sachliche, fachliche und methodische Defizite und ihre Ursachen zu erkennen und nötigenfalls durch geeignete Maßnahmen im Bereich personeller, operativer und analytischer Befähigungen abzustellen. Hierbei wird allerdings ebenfalls zu berücksichtigen und in ihren Implikationen für die Arbeit des Dienstes zu analysieren sein, dass es sich hier bekanntlich um eine kollektive Fehlleistung aller in Afghanistan engagierten Verbündeten handelte. Darüber hinaus bleibt ebenfalls festzu-halten, dass die strategischen Prognosen des BND – wie erneut aller Partner – über die mangelnde Zukunftsfähigkeit der Regierung in Kabul nach Abzug des US-Kräfte bereits seit lan-gem eindeutig waren und bekanntlich bereits im Frühjahr 2021 zur dringlichen, politisch unbeantwortet gebliebenen Frage nach dem Schicksal der Ortskräfte geführt hatten. Keiner möge behaupten, man habe die Entwicklung nicht absehen können. Wäre der rasche Fall Kabuls zwei Wochen früher prognostiziert worden, hätte dies jedoch ohne eine längerfristige umfassende operative Vorbereitung auf der Grundlage der existierenden Warnungen des Dienstes nichts geändert. Die ausschließliche Fokussierung auf die letzten Tage verkennt mithin elementare Voraussetzungen für politisches wie militärisches Handeln. Auch hier kann bereits im Vorfeld des wohl bald anstehenden Untersuchungsausschusses nur eindringlich für Sach- und Fachkunde in der notwendigen Aufarbeitung der Geschehnisse geworben werden.

Wie die Bundeswehr hat auch der Bundesnachrichtendienst über Jahre hinweg mit im Vergleich zu europäischen Partnern in Frankreich und Großbritannien, von den USA natürlich völlig zu schweigen, struktureller Unterfinanzierung, politischer Vernachlässigung und öffentlicher Anfeindung als ebenso „gefährliche wie essentiell nutzlose“ Institution zu kämpfen gehabt. Die seit 2016/2017 zu beobachtenden deutlichen Steigerungen im Etat haben hier erste Abhilfe geschaffen, können jedoch die langjährigen Defizite erst auf mittlere und längere Frist abbauen. Nachrichtendienstliche Befähigungen erfordern, ebenso wie bei der Bundeswehr, langfristig angelegte, planungssichere Aufbauleistungen. Erschwerend hinzu kommt der Umstand, dass im Zentrum politischer Aufmerksamkeit und Initiative traditionell Bemühungen zur umfassenden Kontrolle und Einhegung tatsächlicher oder imaginierter operativer Fähigkeiten stehen. Die Frage, ob der Dienst überhaupt in Ausstattung, Befähigung und insbesondere auch rechtlicher Mandatierung in der Lage ist, seinen Auftrag zukunftsorientiert und professionell zu erfüllen, ist in der Regel erst gar nicht gestellt und schon gar nicht öffentlich diskutiert worden.

Hier kann sich der GKND dann zu guter Letzt den Ausführungen im FOCUS zumindest grundsätzlich anschließen:

„Mittel- und langfristig muss sich die Bundesregierung jedoch fragen: Wenn sie schon an der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik arbeitet – warum dann nicht auch an den Fähigkeiten ihres Geheimdienstes?“.

Allerdings wird dies keine mittel- und langfristige Aufgabenstellung sein, sondern eine, die hier und jetzt angegangen werden muss, zeitgleich mit den nachhaltigen und umfassenden Bemühungen, jahrzehntelange Versäumnisse in der Befähigung der Bundesrepublik Deutschland zur verfassungsrechtlich gebotenen Sicherheitsgewährleistun abzubauen.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender des Vorstandes

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