Wenn nicht jetzt, wann dann?
Die Ukrainekrise - Ein Paradigmenwechsel auch für die Nachrichtendienste
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Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes
Mit den Ereignissen der vergangenen Monate, die ihre logische Konsequenz in den aktuellen russischen politischen und militärischen Schritten gegen die Ukraine gefunden haben, findet eine Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt, auf die bereits seit Jahren durch die Nachrichtendienste der NATO- und EU-Mitglieder mit wachsender Sorge ebenso hingewiesen worden ist wie durch zahlreiche politische Think Tanks: Nicht nur Russland, auch China und andere Staaten, haben die Dimension des Militärischen als relevantes Element „kinetischer Außen- und Sicherheitspolitik“ über die Jahre systematisch entwickelt und aufgebaut, allerdings ohne dass dies zu angemessenen praktischen Konsequenzen in der Ertüchtigung der westlichen, insbesondere auch der bundesdeutschen Fähigkeiten geführt hätte. Mit den Begriffen der „Westlessness“ und „Helplessness“ hat bekanntlich die Münchener Sicherheitskonferenz in den Jahren 2020 und aktuell 2022 auch diesen beklagenswerten Zustand umschrieben.
Im Fall Russlands ist dies seit 2014 für jedermann ebenso augenfällig gewesen wie die Unzulänglichkeit der Konsequenzen, die seinerzeit aus diesem gravierenden Bruch des Völkerrechts und der europäischen Friedensordnung, die nach dem Kalten Krieg entwickelt worden war, gezogen worden sind.
Erst angesichts der erneuten, seit 1990 präzedenzlosen militärischen und politischen Bedrohung der Ukraine wird nunmehr eine Forderung auf höchster Ebene vorgebracht, die in mehrfacher Hinsicht zu denken gibt. In seiner Rede vor der Munich Security Conference unterstrich Bundeskanzler Scholz, dass die Bündnisverteidigung in Osteuropa angesichts der aktuellen Krise nochmal an Bedeutung gewonnen habe. Angesichts dieser Herausforderungen werde die Bundesregierung für die optimale Ausrüstung der deutschen Streitkräfte sorgen:
„Die Fähigkeiten, die dafür erforderlich sind, müssen wir aufbringen. Und, ja, das gilt auch für Deutschland. Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, Soldatinnen und Soldaten, die optimal ausgerüstet sind für ihre gefährlichen Aufgaben – das muss ein Land unserer Größe, das besondere Verantwortung trägt in Europa, leisten können. Das schulden wir auch unseren Verbündeten in der NATO.“
So wichtig, richtungsweisend und begrüßenswert diese apodiktische Aussage auch ist, so bestürzend ist sie zugleich, verdeutlicht sie doch, wie sträflich diese elementaren Voraussetzungen für die Handlungsfähigkeit der Streitkräfte in den vergangenen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten ganz offensichtlich vernachlässigt worden sind. Dies ist um so besorgniserregender, als die Wiederherstellung eines angemessenen Niveaus militärischer Fähigkeiten nicht allein durch eine substantielle Steigerung der Verteidigungsaufgaben erreicht werden kann. Alle Fachleute und Fachpolitiker wissen nur zu gut, dass dieser Prozess Jahre in Anspruch nehmen wird, nicht zuletzt auch aufgrund der Dynamik wissenschaftlich-technischer Entwicklungen, die ihrerseits gravierende Auswirkungen auf militärische Befähigungen haben. Es gilt mithin, Versäumtes in großem Umfang nachzuholen, zugleich massiv in die Zukunft zu investieren und die prekäre Übergangszeit so gut wie möglich zu überbrücken.
Der Aussage des Bundeskanzlers wird man jedoch nach der festen Überzeugung des GKND noch ein wesentliches Element hinzuzufügen haben: Wir brauchen nicht nur Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, und optimal ausgerüstete Soldatinnen und Soldaten. Ebenso wichtig ist auch, dass die Bundesrepublik Deutschland Nachrichtendienste benötigt, die Nachrichten in der benötigten Qualität und in adäquatem Umfang zeitgerecht beschaffen und analysieren können, und dies in einer wirksamen Kooperation auf Augenhöhe mit Partnern und Verbündeten! Flugzeuge müssen in die richtige Richtung fliegen, einen lageadäquaten Auftrag und zutreffende Informationen über ihren Einsatzraum und ihre Einsatzbedingungen haben; das Gleiche gilt bekanntlich auch für Schiffe und allgemein für unsere Soldaten, die für ihre gefährliche Mission nicht nur mit optimaler Ausrüstung sondern eben auch mit optimalen Informationen und Lagebeurteilungen ebenso ausgestattet sein müssen wie zuvor die Verantwortlichen, die über mögliche Einsätze, ihre Zielsetzungen und Bedingungen zu entscheiden und hierfür die Verantwortung zu tragen haben. Auch dieses schuldet die Bundesrepublik Deutschland ihren Soldaten wie allgemein allen Menschen, die in diesem Lande leben und Anspruch auf eine effektive Sicherheitsgewährleistung durch ihren Staat haben.
Defizite in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion betreffen traditionell die Streit- und Sicherheitskräfte, noch mehr jedoch die Nachrichtendienste, die bekanntlich gerne in erster Linie als „Fremdkörper“ in demokratischen Gesellschaften charakterisiert werden, die sich parlamentarischer und rechtlicher öffentlicher Kontrolle entzögen. Auf diesen Aspekt fokussieren dann auch politische programmatische Aussagen, zuletzt in Wahlkampf und Koalitionsvertrag. Dass gerade in der aktuellen Krise das Maß an Konsultationsbedarf mit dem Bundesnachrichtendienst, aber auch mit dem BfV hinsichtlich möglicher interner Gefährdungsmomente ebenso präzedenzlos ist wie die Vorgänge selbst, wird in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, soweit erkennbar jedoch auch nicht in angemessener Weise kommuniziert. Dass funktionsfähige Dienste in derartigen Krisen ganz entscheidende Grundlagen für das Lagebewusstsein der Entscheidungsträger liefern müssen, wird mithin „übersehen“. Umso wichtiger ist es, dies in der gebotenen Deutlichkeit in Erinnerung zu rufen. Wer Anwürfen, man folge ja nur der US-Intelligence, wirksam und glaubhaft begegnen möchte, kommt nicht umhin, für angemessene nationale Befähigungen zu sorgen, die dann im europäischen Rahmen – etwa über das EU Intelligence Analysis Center (EU INTCEN) komplementär für alle Institutionen und alle Mitgliedstaaten zusammengefügt werden können. Die Handlungsfähigkeit der Dienste ist eine Grundvoraussetzung für die Handlungsfähigkeit politischer und militärischer Entscheidungsträger. Dies gilt es, angesichts einer verbreiteten Neigung, diese Dimension nicht wahrzunehmen, immer wieder zu betonen.
Auch während der gerade zu Ende gegangenen Munich Security Conference lag das sicherheits- und verteidigungspolitische Augenmerk traditionell auf politischoperativen und militärischen Befähigungen, darüber hinaus auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Resilienz, auch gegenüber Klimafolgen oder Pandemiebewältigung. Die existenzielle Dimension von Bedrohungen im und aus dem Cyberraum trat hier in den Hintergrund und wird dringend zu den prominenten Schwerpunkten künftiger Konferenzen zählen müssen.
Vor diesem Hintergrund bedarf es fast keiner gesonderten Erwähnung, dass auch die Notwendigkeit einer nachrichtendienstlichen Ertüchtigung auf nationaler Ebene oder in gemeinschaftlicher mitgliedstaatlicher Koordination im Rahmen der Europäischen Union weitgehend ohne Beachtung geblieben ist. Außen- wie Sicherheitspolitik bis hin zu militärischem Engagement im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung wie bei Stabilisierungseinsätzen in Drittstaaten kann jedoch ohne eine solide, termingerechte und vorausschauende Lagefeststellung und Lagebeurteilung nicht verantwortlich definiert oder gar organisiert werden.
Es ist bekanntlich dem Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Mai 2020 vorbehalten geblieben, diesen grundlegenden Sachverhalt der Öffentlichkeit, mehr aber noch „der Politik“ ins Stammbuch zu schreiben:
„Zu berücksichtigen ist dabei auch das überragende öffentliche Interesse an einer wirksamen Auslandsaufklärung“ (Randnummer 161).
„…Auslandsaufklärung [zielt] immer auf Informationen, die Bedeutung für die Stellung und Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Staatengemeinschaft entfalten und damit gerade in diesem Sinne von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung sind. Die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen hilft ihr, sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten, und kann folgenreiche Fehlentscheidungen verhindern. Insoweit geht es mittelbar zugleich um die Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung – und damit um Verfassungsgüter von hohem Rang. In Frage steht mithin ein gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht. (Randnummer 162)
Die dramatischen Entwicklungen der vergangenen Wochen sollten nunmehr noch einmal allen eindringlich verdeutlicht haben, welche handlungsleitende Bedeutung zuverlässige, belastbare, zeitgerechte und perspektivisch relevante nachrichtendienstliche Informationen für zentrale außen- und sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse haben. Nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung und Auswertung sind angesichts der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung im IT- und Cyberraum weniger trivial denn je. Sie erfordern ein hohes Maß an Professionalität und umfassender Expertise in allen Aufklärungsbereichen, insbesondere aber eben auch ein den Herausforderungen adäquates Maß an operativen, organisatorischen und technisch-wissenschaftlichen Befähigungen und rechtlichen wie politischen Mandatierungen.
Im gleichen Maße wie die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland mit einer bedrohungsangemessenen militärischen Befähigung steht und fällt, so steht und fällt diese auch mit den hierfür erforderlichen nachrichtendienstlichen Kapazitäten und Befugnissen.
Es wird mithin in keinem Fall ausreichen, ein umfassendes parlamentarisches und rechtliches Kontrollregime für die Dienste anzustreben wie dies bekanntlich sowohl im Wahlkampf als auch im aktuellen Koalitionsvertrag ins Auge gefasst worden ist. Von elementarer, vorgelagerter Bedeutung für uns alle ist vielmehr zunächst einmal, dass der „Kontrollgegenstand“, mithin die Dienste, in ihren Befähigungen zum Schutz der vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen hochrangigen Verfassungsgüter, im Vordergrund einer nüchternen, sachbezogenen und insbesondere ehrlichen politischen wie professionellen Bestandsaufnahme zu stehen haben werden, auf deren Grundlage die erforderlichen personellen, materiellen, organisatorischen und insbesondere auch rechtlichen Maßnahmen einzuleiten sind, die eine bedrohungsangemessene Befähigung der Dienste glaubhaft und effektiv sicherstellen:
Können die Dienste mit ihrer aktuellen personellen, materiellen und technischen Ausstattung ihrem Auftrag der Informationsbeschaffung und Auswertung gerecht werden?
Reichen die aktuellen rechtlichen wie politischen Mandatierungen aus, um wieder auflebenden alten existenziellen Herausforderungen und insbesondere auch den neuen Bedrohungen gerecht werden zu können?
Geben die nationalen Entscheidungsprozesse einen strukturell und organisatorisch angemessenen Rahmen für eine umfassende, ressortübergreifende und dynamische Lagefeststellung und Lagebeurteilung als Grundlage für die erforderliche politische, ggf. auch militärische Meinungsbildung und Beschlussfassung?
Verfügen die nationalen Entscheidungsstrukturen über eine gesicherte Resilienz gegen Bedrohungen aus dem Cyberraum?
Diese Fragen können nur im vertraulichen Dialog zwischen Politik und Diensten, ggf. mit spezifischen Verbündeten in ausreichender Detailschärfe erörtert werden. Die hierfür erforderlichen parlamentarischen Gremien wie PKGr und Vertrauensgremium des Haushaltsausschusses, sowie die entsprechenden Entscheidungsprozesse sind vorhanden; sie müssen nur auch in diesem Sinne genutzt werden. Parlamentarische Kontrolle darf sich nicht nur auf die Einhaltung rechtlicher Vorgaben und die Entwicklung weiterer Instrumente in diesem Bereich beschränken; sie muss sich vielmehr mindestens im gleichen Maße der essentiellen Frage einer auftragsgerechten und perspektivischen Befähigung der Dienste in Zeiten zunehmender elementarer Bedrohungen widmen. Die Notwendigkeit einer solchen Ertüchtigung ist jedoch – ebenso wie im Fall der Bundeswehr – ein Politikum, das seitens der Bundesregierung in gleicher Weise und Intensität ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden sollte. Auch hierfür bestehen geeignete Formate in Think Tanks und anderen beratenden Gremien, aber eben auch im Bundestag, in denen diese Fragestellungen diskutiert werden sollten.
Der GKND würde solche Initiativen nachdrücklich begrüßen und im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstützen.
Dr. Hans-Dieter Herrmann
Vorsitzender des Vorstandes