„Nationale Sicherheitsstrategie“ und „Außenpolitik aus einem Guss“
Implikationen der Ampel-Sondierungsgespräche für die Dienste und die Organisation von Entscheidungsprozessen
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Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes
Am 15. Oktober 2021 haben SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen ihre Sondierungsgespräche abgeschlossen, um eine gemeinsame Grundlage für Koalitionsverhandlungen zu legen. Seit 18. Oktober liegen die positiven Voten der jeweiligen Parteigremien vor. Förmliche Verhandlungen werden nunmehr in den kommenden Tagen beginnen mit der Ambition einer Koalitions- und Regierungsbildung noch in diesem Jahr.
Der GKND nimmt aktuell zu den seit 15. Oktober vorliegenden, notwendig in vielen Punkten noch zu substantiierenden Sondierungsergebnissen Stellung, um bereits in dieser Phase erste, im weiteren Verlauf entsprechend weiterzuentwickelnde Überlegungen und Anregungen zu artikulieren und in die anstehenden Meinungsbildungsprozesse einzubringen.
8. Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie
8.1 Wir wollen Freiheit und Sicherheit gewährleisten und die Bürgerrechte stärken. Gemeinsam mit den Ländern werden wir die auch vom Bundesverfassungsgericht geforderte gesamtheitliche Betrachtung der Eingriffsbefugnisse des Staates vornehmen und eine Generalrevision der Sicherheitsarchitektur durchführen. Wir werden die Fähigkeiten und Strukturen für die Abwehr von Cyberrisiken verbessern und auf eine gesetzliche Grundlage stellen. (S. 9)
Dem Recht der Nachrichten- und Sicherheitsdienste wird in Staats- und Verwaltungsrecht gemeinhin ein Mangel an Systematik, Konsistenz und Transparenz attestiert. Insoweit erscheint ein langfristig angelegter rechtpolitischer Reform- und Gestaltungsansatz sachlogisch nachvollziehbar.
Gleichwohl wird bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen sein, dass eine umfassende gesetzgeberische Initiative in diesem weiten und komplexen Feld einen ganz erheblichen Kraftakt implizierte, der über Jahre hinaus beträchtliche wissenschaftliche, fachliche wie administrative Kapazitäten binden würde, ohne dass sich hieraus bereits frühzeitige kommunizierbare politische Erfolge generieren ließen.
Einzelprojekte, wie etwa eine vor den Wahlen ins Gespräch gebrachte organisatorische Aufspaltung des BfV in eine geheimdienstlich agierende Behörde und in eine hiervon unabhängige wissenschaftliche Institution zur Extremismusforschung, bedürften, sofern noch aktuell, wiederum zunächst einmal einer grundsätzlichen vertieften Erörterung ihrer Durchführbarkeit und Implikationen für die essentiell notwendige Leistungsfähigkeit der Behörde. Ohne hier einer vertieften Betrachtung vorgreifen zu können, wird zu bedenken gegeben, dass es einen sachlogisch zwingend notwendigen Verbund von Analyse und Operation im Bereich der Extremismusbeobachtung und Terrorismusabwehr gibt, den zu schwächen oder gar aufzulösen kaum im wohlverstandenen Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik Deutschland und der hier lebenden Menschen sein kann.
Deutsche Sicherheitsbehörden sind wesentlich auf die Ergebnisse unabhängiger und interdisziplinärer Radikalisierungs- und Extremismusforschung angewiesen; zugleich müssen sie ihrerseits über eine eigenständige behördliche, wissenschaftlich basierte Fach- und Analysekompetenz zur Steuerung und Auswertung der eigenen geheimen Beschaffungsmaßnahmen verfügen. Hier bedarf es auf jeden Fall eines ergebnisoffenen intensiven Dialogs mit Jurisprudenz, Justiz, aber eben auch in besonderem Maße mit den betroffenen Fach- und Aufsichtsbehörden. Es kann nicht angehen, dass einerseits in vielen Fällen beklagt wird, dass die deutschen Dienste „blind“ und in unzulässigem Maße auf operative Hinweise aus dem Ausland angewiesen seien, ohne dass der Frage nach den notwendigen Voraussetzungen für eine zuverlässige eigenständige Aufgabenerfüllung mit der erforderlichen Intensität und Nachhaltigkeit nachgegangen wird.
Eine Generalrevision der Sicherheitsarchitektur wäre vor diesem Hintergrund allerdings dann uneingeschränkt zu begrüßen, wenn sie im Sinne einer Straffung von Bund-Länderkompetenzen einerseits und der Schaffung leistungsfähiger ressortübergreifender Lagefeststellungs- und Lagebeurteilungskapazitäten auf Bundesebene zur Schaffung fachlich breit aufgestellter, dynamischer und resilienter Entscheidungsstrukturen in Außen- und Sicherheitspolitik, ebenso wie eben im Bereich der inneren Sicherheit, intendiert sein sollte. Die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse zu Anis Amri und zum NSU sollten hier Mahnung und Ansatzpunkt zugleich für eine gründliche Bestandsaufnahme und Analyse von Zuständigkeiten, Verfahren, Kompetenzen und rechtlichen Grundlagen sein. Dies wird dann auch für die zu erwartenden Resultate des geforderten Untersuchungsausschusses zur Evakuierungsaktion in Afghanistan wie der ebenfalls in Aussicht genommenen Enquête zum Einsatz als solchem gelten müssen.
Aus Sicht des GKND ist hier ein prioritäres und zentrales organisatorisches Handlungserfordernis die Entwicklung eines Verbunds von Lage- und Analysezentren in Ministerien und Behörden mit Zuständigkeiten in den Bereichen von Außen- und Sicherheitspolitik, Verteidigung, innerer Sicherheit, Katastrophenschutz, Gesundheitswesen, Sicherheit kritischer Infrastruktur und Cybersicherheit, der Bundesressorts ebenso wie föderale Strukturen transzendiert. Ziel wird es hierbei sein, strukturell unterlegte, leistungsfähige, technisch und materiell redundante, resiliente und vernetzte institutionelle Entscheidungskompetenzen auf Bundes- und Landesebene mit klaren und belastbaren Zuweisungen von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu schaffen.
Zu Teilaspekten dieses für eine Legislaturperiode ohnehin sehr ambitionierten Vorhabens hat der GKND unlängst Stellung genommen und wird dies im Folgenden in Weiterführung und Konkretisierung der bisherigen Darlegungen im Bereich von Außen- und Sicherheitspolitik erneut tun. Ebenso bedeutsame Handlungsfelder, wie zum Beispiel die effektive ressortübergreifende und föderale Aufstellung gegen hybride Bedrohungen und globale wie nationale Gesundheits- oder Versorgungsrisiken, müssen weiteren Ausarbeitungen vorbehalten bleiben.
10. Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt
10.1 Wir werden die Europäische Union (EU) stärken, um unserer Verantwortung zu entsprechen. Unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden wir wertebasiert und europäischer aufstellen. Die strategische Souveränität Europas wollen wir erhöhen.
10.2 Wir sind entschlossen, die EU handlungsfähiger und demokratischer zu machen und setzen uns ein für eine EU, die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schützt und ihre Handlungsfähigkeit stärkt. Wir treten für eine verstärkte Zusammenarbeit der nationalen europäischen Armeen ein.
10.3 Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News-Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können. (S. 11)
Die hier als gemeinsame Zielsetzung formulierte wirksame Stärkung europäischer Strukturen in den Bereichen von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik kann nur eindringlich befürwortet werden.
Aus Sicht des GKND zählt hier erneut zu den unabdingbaren Grundlagen für die angestrebte Stärkung der Union als politischer Akteur nach außen wie im Bereich der Sicherheitsgewährung nach innen eine deutliche Ertüchtigung der Strukturen und Verfahren zur zeitgerechten Erstellung, Verbreitung und Aktualisierung von Lagebildern („situational awareness“) zu Herausforderungen und Risiken, denen sich die Union und ihre Mitgliedsstaaten, im Idealfall vorbeugend und nicht nur reaktiv, stellen müssen.
Die Mitgliedstaaten haben der Europäischen Union bereits 2001/2002 in Erkenntnis dieser Notwendigkeiten mit dem Situation Centre (EU SITCEN/nach 2012 Intelligence Analysis Centre/EU INTCEN) und dem Intelligence Directorate des Europäischen Militärstabes
(EUMS.INT) erste intergouvernemental organisierte und mandatierte Strukturen zur zivilen wie militärischen Lagefeststellung und Lagebeurteilung an die Hand gegeben. In den vergangenen Jahren konnten diese Strukturen in kleinen Schritten in ihrer Leistungsfähigkeit verbessert und in ihren fachlichen Zuständigkeiten neuen Herausforderungen und Bedrohungen, wie insbesondere im Bereich von Terrorismus und Hybrid Warfare, darüber hinaus auch in Bezug auf die Planung und Einsatzführung gemeinsamen militärischer GSVP-Operationen ansatzweise angepasst werden. Allen Beteiligten auf fachlicher Ebene ist allerdings klar, dass all dies bisher nur Stückwerk auf der Basis von mühsam zustande gebrachten kleinsten gemeinsamen Nennern ist und zudem unter ganz erheblichen „Vollzugsdefiziten“, häufig bedingt durch mitgliedstaatliches Desinteresse und Rivalitäten zwischen den europäischen Institutionen leidet.
Hier gilt es nunmehr, konkrete und durchführbare Schritte aufeinander aufzubauen, um sachlich fassbaren Fortschritt zu erzielen.
Historisch bedingt, fehlt EU INTCEN bis heute eine Etablierung in europäischem Primärrecht, im Gegensatz zu EUMS.INT, das als Direktorat des Europäischen Militärstabes bereits seit 2001 auf einem rechtlich verbindlichen Beschluss des Europäischen Rates gründet. INTCEN verfügt noch nicht einmal über interinstitutionell vereinbarte Terms of Reference (ToRs), mit der signifikanten Ausnahme der 2016 auf Anregung der Mitgliedstaaten geschaffenen Hybrid Fusion Cell (HFC), die ihrerseits eine Organisationseinheit des INTCEN ist. Mithin ist diese Teileinheit besser mandatiert als die restlichen Referate/Sachgebiete des INTCEN. Eine gemeinsame Initiative der Mitgliedstaaten im Zusammenwirken mit der Leitung von Kommission und Europäischem Auswärtigen Dienst (EAD) auf der Ebene von ND-Koordinatoren und Ministern sollte hier zügig in Angriff genommen werden.
In ihrer jüngsten State of the Union Address vom 22.09.2021 hat Kommissionspräsidentin von der Leyen den Vorschlag unterbreitet, ein EU Joint Situational Awareness Center (JSAC) für die Union zu schaffen. Ausgehend von und aufbauend auf den Kernelementen eines ertüchtigten EU INTCEN und eines weiterentwickelten EUMS.INT könnte dies zu einem qualitativen Durchbruch in der Leistungsfähigkeit der Union als Forum für eine gemeinsame Lagefeststellung und Lagebeurteilung in allen zentralen Herausforderungen für die Gemeinschaft wie ihre Mitgliedstaaten führen. Der GKND hat hierzu bereits grundsätzlich Stellung genommen.
Ein konstruktives Aufgreifen der Initiative, insbesondere auch im Zusammenwirken mit der französischen Ratspräsidentschaft, erscheint aus Sicht des GKND ebenso zweckdienlich wie angeraten, nicht zuletzt auch angesichts des gravierenden Wegfalls der britischen ND-Kapazitäten (SIGINT) nach dem Brexit.
Im Zusammenhang mit einer solchen Aufwertung von Lagestrukturen, die nicht ohne eine Neufassung der Rahmenbedingungen für die Unterstützung von EU INTCEN und EUMS.INT mit Intelligence-Produkten aus den Mitgliedstaaten umsetzbar sein wird, sollte schließlich auch die Prüfung einer Enhanced Cooperation (ENCO) gemäß Art. 328f. AEUV einhergehen, mit dem Ziel einer nach Inhalt, Umfang und Zielsetzung definierten freiwilligen Selbstverpflichtung zum strukturierten und kontinuierlichen Intelligence Support über INTCEN/EUMS.INT an die Union.
In eine ähnliche Richtung zielt hier bereits auch die jüngste Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik zur EU Cyber-Politik, in der eine systematische Stärkung der entsprechenden INTCEN-Strukturen empfohlen wird. Auch dieses ließe sich am besten in einem derart koordinierten Ansatz gleichermaßen qualifizierter wie interessierter Mitgliedstaaten bewirken.
10.4 Unsere Sicherheit und der Schutz unserer Lebensgrundlagen erfordern globale Zusammenarbeit, eine Stärkung der Vereinten Nationen sowie eine regelbasierte internationale Ordnung. Wir unterstützen und stärken Initiativen wie die Allianz der Demokratien. Das transatlantische Bündnis ist dabei zentraler Pfeiler und die NATO unverzichtbarerer Teil unserer Sicherheit. Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsräson. (S. 12)
10.5 Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Internationalen Sicherheit. Wir verbessern ihre Ausrüstung wie auch die der Bundeswehr. Das Prinzip der Inneren Führung wollen wir stärken. Wir wollen die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufarbeiten. Zudem wollen wir den Gesamteinsatz in einer Enquete mit wissenschaftlicher Expertise evaluieren. Die gewonnenen Erkenntnisse müssen praxisnah und zukunftsgerichtet aufbereitet werden, so dass sie in die Gestaltung zukünftiger deutscher Auslandseinsätze einfließen. (S. 12)
10.6 Die deutsche Außenpolitik soll künftig aus einem Guss agieren und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten. Ziel ist eine multilaterale Kooperation in der Welt, insbesondere in enger Verbindung mit denjenigen Staaten, die unsere demokratischen Werte teilen. Dabei geht es auch um den Systemwettbewerb mit autoritären Staaten und Diktaturen. Wir wollen eine Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen. (S. 12)
Die hier wiedergegebenen Ausführungen im Sondierungspapier lassen deutlich erkennen, dass auch eine neue Bundesregierung die Absicht haben wird, sich in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik den bekannten, in den Weißbüchern zu Sicherheitspolitik (2016) und neuerdings zum Multilateralismus (2021) beschriebenen ebenso komplexen wie existentiellen Gestaltungsaufgaben und Herausforderungen zu stellen.
Auch hier wird neben den operativen außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Dimensionen die Befähigungen zur adäquaten Erfassung und Beurteilung ebenso komplexer wie dynamischer strategischer wie operativ-taktischer Lageentwicklungen eine gründliche Revision und nachfolgende Aufwertung erfahren müssen.
Multilateralismus und Bundesnachrichtendienst
Die verschiedenen Handlungsfelder multilateraler Friedenspolitik sind komplex, die Anforderungen an ein vertieftes, aktuelles und zutreffendes Lagebild als Ausgangspunkt für die Definition konkreter Zielsetzungen und Projekte hoch. Hier ist gerade auch der Bundesnachrichtendienst als einziger deutscher Auslandsnachrichtendienst in besonderer Weise gefordert.
Effektive multilaterale Politik kann so letztlich nur unter ausreichend umfänglicher Einbeziehung gesicherter nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und Lagebilder verantwortlich konzipiert, operationalisiert und durchgeführt werden (S. 24-25). Dies gilt für die Wahrung und Durchsetzung von Völkerrecht (S. 38-40) ebenso wie für die Unterstützung der OSZE in ihren Beobachtungsaufgaben (S. 47), die Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen in Beschlussfassung und Durchführung (S. 49-52), die Ertüchtigung der Europäischen Union als außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischer Akteur (S. 52-58) wie notwendig auch für die Identifizierung von Sicherheitsrisiken und Gefährdungssachverhalten (S. 58-61), für Rüstungskontrolle (S. 63-66), Terrorismusbekämpfung (S. 66-69), Weltraumsicherheit (S. 69-71), Sicherheit im Cyberraum (S. 71-73), Desinformationsbekämpfung (S. 73-74) und Krisenvorbeugung und -bewältigung (S. 86-87).
Erhöhtes Engagement in diesen Kernbereichen deutscher wie europäischer Sicherheitsinteressen erfordert mithin eine verantwortungsvolle Dimensionierung nachrichtendienstlicher Befähigungen auf nationaler Ebene und – gerade auch im Sinne des Multilateralismus – ihre Einbindung in Kooperationsstrukturen mit gleichgesinnten, handlungsfähigen und kompetenten Partnern. Die Schaffung und Aufrechterhaltung einer den exponentiell steigenden Herausforderungen genügenden Handlungs- und Kooperationsfähigkeit des Bundesnachrichtendienstes wird mithin, auch im Sinne des Bundesverfassungsgerichts, eine wesentliche Gestaltungsaufgabe der künftigen Bundesregierung sein müssen.
Zusammen mit der DGAP wird sich der GKND noch vor Jahreswechsel in einem gemeinsamen Workshop mit dieser Fragestellung befassen.
Multilateralismus und Sicherheitsarchitektur
Das breite Spektrum der genannten Politikfelder geht hierbei, ganz im Sinne des seit 2016 etablierten erweiterten Sicherheitsbegriffs, weit über die klassischen Bereiche von Außen- und Sicherheitspolitik hinaus. Es umfasst gleichermaßen wirtschaftliche, entwicklungspolitische, Umwelt- und Gesundheits- und Migrationsaspekte.
Die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik wird diesem unbestreitbaren Sachverhalt in adäquater Weise Rechnung zu tragen haben, nicht zuletzt auch durch eine organisatorische Neuausrichtung politischer Entscheidungsprozesse und ihrer Grundlagen.
Hier wird die Frage im Mittelpunkt stehen müssen, wie in überschaubarer Zeit eine ressortübergreifende integrierte Lagekompetenz als Voraussetzung für einen stabilen und leistungsfähigen „whole of government approach“ geschaffen werden kann. Auch und gerade in diesem wesentlichen Bereich gesamtstaatlicher Handlungsfähigkeit und Daseinsvorsorge wird die künftige Koalition ihre eigenen berechtigten Forderungen und Zielvorgaben aus dem Kapitel „Moderner Staat und digitaler Aufbruch“ gerecht werden müssen:
1.1 Staatliches Handeln soll schneller und effektiver werden.
1.2 Im ersten Jahr der Regierung sollen alle notwendigen Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden, um private wie staatliche Investitionen schnell, effizient und zielsicher umsetzen zu können.
1.3 Kompetenzen in der Bundesregierung werden neu geordnet und gebündelt.
1.4 Wir streben eine engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen an.
In diesem Sinne hat der GKND erst unlängst umfänglich Stellung genommen und für ressortübergreifende Lagefeststellungs- und Lagebeurteilungsstrukturen geworben. In Fortführung und Konkretisierung der dortigen Vorschläge mit dem Ziel einer effektiven und ressourcensparenden Umsetzung regt der GKND folgende, im aktuellen Rahmen notwendigerweise erst einmal nur in Grundzügen zu skizzierende Vorgehensweise an:
Ausgangspunkt für Verbesserungen sollte so zunächst eine ressortübergreifend zu organisierende Lagebearbeitung sein, die im Bundeskanzleramt in einem durch eine Analysekapazität erweiterten Bereich 023 bei Chef/BKAmt koordiniert werden würde. Gemeinsame bzw. komplementäre und konzertierte Fragestellungen könnten hierbei in Anlehnung an den APB-Prozess erarbeitet werden. Kernfragen beziehen sich in allen Bereichen auf krisenhafte/negative Entwicklungen/Tendenzen weltweit und deren absehbare direkte/indirekte Auswirkungen auf die Sicherheits- und Prosperitätsinteressen Deutschlands/Europas. Hierbei sollte keine abstrakte Herangehensweise gewählt werden, sondern politisch-praktische Fragestellungen im Vordergrund stehen:
Wo liegen Probleme, wer nimmt sich dieser in den Ursprungsregionen an, mit welcher Aussicht auf Erfolg?
Wo liegen hierbei Defizite?
Wie können diese ausgeglichen oder minimiert werden?
Was bedeutet ein Fehlschlag für die Lage in der Region aber eben auch direkt oder indirekt für konkrete deutsche Interessen
Könnte Deutschland helfen, allein und/oder mit Partnern?
Mit welcher Aussicht auf Erfolg?
Ein solcher Lagefeststellungs- und Beurteilungsprozess wird iterativ und dynamisch, mit lageangepassten Wiedervorlageterminen anzulegen sein.
Praktisch bedeutet dies, in einer ersten Phase ein Netzwerk von Lage-/Analysezentren der Ressorts aufzubauen. Bereits kurzfristig könnte hier auf bestehende Strukturen und Kooperationserfahrungen sowie deren Weiterentwicklung, insbesondere im Bereich Analyse, zurückgegriffen werden, so etwa im AA (Referat 041), im BMVg (JIC), im BMI oder auch im BND (FIZ). Danach würde der Aufbau vergleichbarer Lage- und Analysezentren in Ressorts ohne derartige zentrale Strukturen (BMZ, BMF, BMWi, BMG, BMEL, BMVI, BMU), jedoch mit Zuständigkeiten und Aufgabenbereichen, die für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich sind, in Angriff zu nehmen sein. Ein solches Netzwerk könnte, jedenfalls in Anlehnung an entsprechende bisherige Erfahrungen in AA und BMVg, durch die genannten Ressorts im Zusammenwirken mit dem BKAmt innerhalb eines Jahres gebildet und zumindest in einer „Initial Operational Capacity (IOC)“ aktiviert werden.
Eine solche Struktur würde eine gleichartige Herangehensweise mit abgestimmten Fragestellungen, Analyse- und Berichterstattungsformen und -verfahren ermöglichen. Voraussetzung hierfür wären allerdings entsprechende Schulungen von Mitarbeiter*innen in Lagearbeit und Spitzenberichterstattung an politische Entscheidungsträger, etwa in Sondermodulen des MISS-Studiengangs der Hochschule des Bundes für Verwaltung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die eindeutige Zuordnung der Lagearbeit auf die Leitungsebene des jeweiligen Hauses, mithin auf die Ebene von Leitungs- und Planungsstäben. Eine solche Positionierung ist zum einen notwendig, um den Arbeitsmethoden und Bedürfnissen der Abnehmer gerecht zu werden, zum anderen wird nur mit der Autorität der Leitung ein adäquates Melde- und Zuarbeitsverhalten generiert und aufrechterhalten werden können. Darüber hinaus unterstützt die herausgehobene, karriereförderliche Funktion den personalwirtschaftlichen Auswahlprozess unter den bestqualifizierten Mitarbeiter*innen des Hauses. Spitzenberichterstattung und Lageanalyse erfordern fachliche und methodische Spitzenqualifikationen und Motivation, deren Einsatz folglich auch entsprechend zu honorieren sein wird.
Die Lage- und Analysezentren würden in der Wahrnehmung ihrer Berichterstattungsaufgaben und in ihrem Zusammenwirken vom BKAmt koordiniert, blieben ansonsten jedoch im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Ministeriums.
Das Netzwerk sollte die effiziente Organisation von fachlicher Expertise aus allen Zuständigkeitsbereichen der Bundesregierung ermöglichen, mit dem Ziel der zeit-, termin- und sachgerechten Erstellung von Unterlagen, die dem Empfängerhorizont und den Bedürfnissen von Entscheidungsträgern entsprechen und damit begründete Aussicht auf „Impact“ haben. Ein ressort- und fachübergreifender Ansatz trägt hier somit zur Minimierung der bekannten Risiken von Bias wie unzureichend aggregierter und strukturierter Informationsgrundlage und Expertise bei.
Ein etabliertes, eingespieltes Netzwerk von Lage- und Analysezentren kann auf der Zeitachse auch zu einer zentralen Lageinstanz aufwachsen, sofern hierfür die entsprechenden baulichen und infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen worden sind. Dies wird in Ansehung der Gegebenheiten allerdings wohl erst auf mittlere Sicht vorstellbar sein. In den kommenden Jahren sollte daher bis auf weiteres eine bestmögliche Ertüchtigung und zielgerichtete Vernetzung bestehender Strukturen als ambitionierte, aber doch auch realistische Option für 2022/2023 angestrebt werden.
Aufbruch und Erneuerung auch für Sicherheitspolitik und Dienste
Die nunmehr beginnenden Koalitionsverhandlungen stehen unter der Prämisse eines Aufbruchs und einer Erneuerung von Staat und Gesellschaft, um Herausforderungen standhalten und Zukunft gestalten zu können. So wichtig die umfänglichen Ambitionen in den Feldern Klimaschutz in einer sozialökologischen Marktwirtschaft, Respekt und Chancen in der modernen Arbeitswelt, soziale Sicherheit, Chancen für Kinder, starke Familien und lebenslange beste Bildung, Innovationsförderung und neue Wettbewerbsfähigkeit, bezahlbares Bauen und Wohnen und Zukunftsinvestitionen sowie nachhaltige Staatsfinanzen auch sind: All dies wäre nicht zu leisten, wenn es nicht durch eine adäquate staatliche Sicherheitsgewährung im Zeitalter globaler Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen getragen würde.
Der GKND plädiert somit dafür, dass der hier angestrebte Aufbruch auch moderne, leistungsstarke, agile, effiziente und resiliente Strukturen in Sicherheit und Entscheidungsfindung mit sich bringen möge.
Dr. Hans-Dieter Herrmann
Vorsitzender