Strategische Modernisierung und Strukturreform
Implikationen, Herausforderungen und Perspektiven der jüngsten BND-Initiative
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Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes
Nach einer über zweijährigen Phase der Bestandsaufnahme und Analyse unter breiter Einbeziehung der Mitarbeiterschaft hat der Bundesnachrichtendienst im Rahmen der Anfang 2019 eingeleiteten Strategischen Modernisierung eine umfassende Restrukturierung seiner Aufbau- und Ablauforganisation entwickelt. Diese wurde nunmehr im Rahmen der öffentlichen Anhörung der drei Nachrichtendienste im PKGr am 27.10.2021 von BND-Präsident Dr. Kahl angekündigt.
Aussagen des BND-Präsidenten zur neuen Struktur
Den diesbezüglichen Ausführungen des BND-Präsidenten zufolge seien grundlegende strukturelle Anpassungen für die Schaffung eines modernen, zukunftsfähigen Dienstes erforderlich geworden. Die nunmehr vorgesehene neue Aufbau- und Ablauforganisation setze hierbei die folgenden Ziele um:
Das „all sources-Prinzip“ solle durch eine engere Verzahnung der Auswertung mit allen Beschaffungsarten gestärkt werden.
Verantwortlichkeiten und Prozesse würden deutlicher an den jeweiligen Bedarfsträgern orientiert werden.
Ähnliche Aufgaben seien soweit wie möglich zusammenzulegen, um die Gesamtleistungsfähigkeit und Schnelligkeit des BND zu erhöhen.
Organisatorische Rahmenbedingungen seien zu schaffen zur Beförderung eines zeitgemäßen Personalwesens und moderner Informationstechnik.
Die vertikalen und horizontalen Entscheidungsprozesse seien eindeutiger zu fassen.
Aus diesen Gründen werde dem Bundesnachrichtendienst ein neues organisatorisches Gerüst gegeben, in das die Abläufe logisch und strikt funktional eingebettet seien.
In diesem Rahmen würden alle Aufgaben, die der Dienst zu erledigen habe, fünf neu zu schaffenden Bereichen zuzuordnen sein:
Beschaffung,
Auswertung,
Operative Unterstützung,
IT Unterstützung und
Administrative Unterstützung.
Koordinierte und verbindliche Verfahren gewährleisteten hierbei die Abstimmung und Kommunikation innerhalb und zwischen diesen Bereichen, so zum Beispiel in der noch näheren Hinführung aller Beschaffungsarten an die Auswertung.
Die weitere Ausgestaltung und anschließende Umsetzung werde nunmehr Schritt für Schritt mit den Führungskräften erfolgen und sicherlich noch mehrere Monate in Anspruch nehmen.
Das PKGr werde wie stets über das weitere Vorgehen unterrichtet.
Durch die Organisationsreform solle sichergestellt werden, dass die vielen Lösungen, die zur Verbesserung der Arbeit des Dienstes in den vergangenen drei Jahren erarbeitet worden seien, auch tatsächlich Früchte tragen könnten. Hierzu zähle auch die weitere Optimierung der guten Zusammenarbeit mit den Partnerbehörden BfV und BAMAD.
Auf Nachfrage der Abgeordneten von Notz und Lindhorst zum aktuellen Anlass der Umsetzung gerade zum jetzigen Zeitpunkt führte der BND-Präsident aus, dass sich hier zwei Entwicklungen überschnitten hätten, ein konkretes aktuelles Ereignis (Afghanistan) und ein seit 2019 eingeleiteter und durchgeführter Prozess der Modernisierung. Zu den hiermit verbundenen Projekten habe auch die Konzeption einer modernen Organisation gezählt. Die bisher entwickelten inhaltlichen Verbesserungen seien nur in einer neuen Organisationsstruktur wirksam zur Geltung zu bringen. Es existierten zu viele Schnittstellen, zu viele sich überkreuzende Entscheidungsstränge, zu langsame Entscheidungswege und zu weit gestreute Verantwortungsbereiche. Die Strukturreform sei nunmehr der Schlussstein des Modernisierungsprozesses. Das Momentum eines großen Prozesses sei an dessen Ende durch eine Strukturreform zu nutzen.
Die Einnahme der neuen Strukturen werde noch etliche Zeit dauern. Nach der Entscheidung über Leitplanken und über Grundstrukturen seien jetzt diese strukturellen Veränderungen auszuplanen, kaskadenartig in die verschiedenen Führungsebenen nach unten zu entwickeln und auch personell zu unterlegen. Dies sei ein Prozess, der nicht vor Mitte nächsten Jahres zu einem Ende kommen werde.
Aktuell erkennbare Konturen der angestrebten Neustruktur
Die Ausführungen des BND-Präsidenten bleiben zum gegenwärtigen Zeitpunkt und im Rahmen einer öffentlichen Anhörung notwendig allgemein. Gleichwohl lassen sich bereits erste Konturen und Tendenzen erkennen, zu denen Stellung genommen werden kann und im Interesse einer fachpolitischen Begleitung des Prozesses auch sollte.
Zunächst kann einmal festgehalten werden, dass anstelle der elf gleichgeordneten Abteilungen, in denen Beschaffung und Auswertung seit 2009 zumindest teilweise regional oder thematisch zusammengefasst worden sind, nunmehr eine Rückkehr zur traditionellen aufbauorganistorischen Trennung beider Kernbereiche vorgesehen ist. Hierbei soll jedoch der Weg einer Zusammenfassung aller Beschaffungsarten, mithin auch der traditionell stets getrennt geführten technischen Beschaffung (SIGINT), in einem Großbereich beschritten und somit die Möglichkeit einer „all sources collection“ unter einheitlicher Führung und Verantwortung eröffnet werden. Hierzu komplementär würde dann der Bereich „Auswertung“ stehen, in dem sowohl regional wie thematisch analysiert und an die Bedarfsträger der Bundesregierung berichtet wird.
Dies bedeutet, dass die 2009 aus vormals spezifisch organisierten und geführten operativen und analytischen Einheiten zusammengestellten Regionalabteilungen LA und LB sowie die thematischen Abteilungen TE (Terrorismusaufklärung) und TW (Aufklärung von Proliferation etc.) erneut aufgelöst und entsprechend den beiden Bereichen Beschaffung/Operationen und Auswertung zugeschlagen werden. Die traditionell auch vor 2009 eigenständige Abteilung Technische Aufklärung (TA) würde als Ganzes in den Bereich Beschaffung/Operationen eingegliedert.
Die unterstützenden Abteilungen GU (Lageunterstützung), IT (Technik), ID (Service, Ausbildung) und ZY (Verwaltung) würden dann folgerichtig in modifizierter Aufstellung in den weiteren drei Unterstützungsbereichen zusammenzufassen sein.
Die Zusammenfassung der Kernfunktionen Beschaffung/Operationen und Auswertung/Berichterstattung in zwei Bereiche, die angesichts eines BND-Gesamtpersonalkörpers von etwa 6.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Sicherheit jeweils zwischen 1.500 und 2.000 Personen umfassen dürften, erfordert eine zweite, dritte und vierte Hierarchieebene von Abteilungs- und Referats- und Sachgebietsleitern, um bewältigbare Leitungsspannen zu erhalten.
Das Leitungskollegium des BND würde in dieser neuen Struktur mithin den Präsidenten/die Präsidentin, die drei Vizepräsident*innen sowie fünf Hauptabteilungsleiter*innen (anstelle zuvor 11 Abteilungsleiter*innen) umfassen.
Zahlreiche wichtige Fragen der Aufgabenzuweisung und Kompetenzabgrenzung sind hier offenbar bereits konzipiert oder werden noch auszuplanen und umzusetzen sein, können jedoch aufgrund ihrer Sensitivität schwerlich in der breiteren Öffentlichkeit erörtert werden. Hier werden die sich in Kürze konstituierenden parlamentarischen Gremien der 20. Legislaturperiode, insbesondere das PKGr und das Vertrauensgremium, als die geeigneten und zuständigen Foren zu befassen sein.
Herausforderungen
Vor dem Hintergrund der einschlägigen Erfahrungen aus der letzten Transformationsphase von 2007 bis 2009 ist grundsätzlich anzumerken, dass der hier angestrebte Prozess alles andere als trivial sein und auch bei anzunehmender gründlicher konzeptioneller Vorarbeit und Planung in seiner organisatorischen und personalwirtschaftlichen Dimension Monate in Anspruch nehmen wird. Der in der Befragung avisierte Zeithorizont bis zur Jahresmitte 2022 kann hier durchaus als ambitioniert angesehen werden.
Unter organisationswissenschaftlichen Aspekten sollte ebenfalls klar sein, dass sich die Zahl der vertikalen und horizontalen Schnittstellen zwischen den neu zusammengestellten Bereichen nicht notwendig entscheidend verringern muss; zumeist werden sie verlagert und – im besten Fall – einem stringenteren und in seiner Verantwortung klarer zugeordneten Management zugeführt. Allein dies wäre allerdings bereits zu begrüßen, setzt jedoch einen klaren, strukturierten Führungswillen und eine übergreifende Führungs- und Kooperationskultur insbesondere in den Spitzenpositionen, in abgewandelter und abgeleiteter Form dann aber auch bis auf die Sachgebietsleiterebene voraus. Kooperation und bereichsübergreifendes Denken und Handeln im Sinne des Gesamtauftrags müssen gefördert, aber auch systematisch und nachhaltig eingefordert werden, Ressortegoismen unterbunden und nötigenfalls auch sanktioniert werden. Erfolge müssen als Gemeinschaftsleistung angestrebt, verwirklicht und angemessen gewürdigt werden. Ein Hauptargument der Reform von 2009 war bekanntlich, dass die bis zur Rivalität und gegenseitigen Obstruktion entwickelte Abgrenzung zwischen den drei Abteilungen HUMINT, SIGINT und Auswertung/Berichterstattung durch eine Kultur des Desk-Prinzips (Zusammenarbeit von Beschaffung und Auswertung in thematisch definierten Arbeitsbereichen) abgelöst werden sollte. Ein zweites, bei der Analyse der BND-Strukturen vor 2009 immer wieder generiertes Argument war, dass tiefe Hierarchien und große Personalkörper das Risiko von zumindest partiellen Dienstaufsichts- und Kontrollverlusten der Leitung des Dienstes, wie im Zweifel auch der Abteilungsleitungen führen würden. Flache Hierarchien würden dagegen Leitungsentscheidungen in größerer Sachnähe (und damit implizit eine verbesserte Dienst- und Fachaufsicht) ermöglichen. Es wird mithin für eine Bewertung der angestrebten neuen Struktur entscheidend darauf ankommen, mit welchen konkreten aufbau- und ablauforganisatorischen Maßnahmen und praktisch auf allen Ebenen umzusetzenden Führungsmitteln (commmand, control, communication) diese organisationssoziologisch zwangsläufig auftretenden Kollateraleffekte und Risiken für die zeit- und sachgerechte Auftragserfüllung beherrscht werden können.
Hierin liegt eine der zentralen Herausforderungen der Neuorganisation. Die andere liegt im „Faktor Mensch“.
Der Mensch im Mittelpunkt
Geeignete Organisationsstrukturen sind wichtig, um vorhandene Potentiale wirksam zur Geltung bringen zu können. Sie kompensieren jedoch nicht deren Fehlen oder defizitäre Qualität.
Im Interesse der Zukunftsfähigkeit des Dienstes wird mithin neben der Einführung verbesserter Strukturen das Hauptaugenmerk auf ein Personalkonzept und dessen konsequente Umsetzung zu richten sein, das dem Primat der bestmöglichen fachlichen Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtet ist. Agilität und vernetztes Denken und Handeln nützen wenig, wenn Fachkompetenz fehlt oder inadäquat ist.
Hohe Intelligenz und persönliche Befähigung zur Ausübung von Funktionen in Auswertung und/oder Beschaffung sowie untadelige, durch entsprechende spezifische (akademische) Ausbildung erworbene fachliche und sprachliche Expertise müssen hierbei die Grundlage bilden. Durch Weiterbildung, Training und Coaching zu vermitteln sind dann administrative, prozedurale und soziale Sekundärtugenden wie etwa die (elementar wichtige) Befähigung und der Wille zum bereichsübergreifenden Denken und Handeln, die über geeignete Führungsmechanismen entwickelt, gefördert, aber eben auch eingefordert werden müssen.
In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine optimale fachliche Befähigung zur qualifizierten Aufgabenerfüllung Vorrang vor allgemeinen beamten- und verwaltungsrechtlichen Vorgaben haben muss. Personalwirtschaft muss die optimale Allokation und Organisation von Expertise zum Ziel haben, keineswegs aber eine über den umfassenden Einsatz von Generalisten anzustrebende universelle Einsetzbarkeit. Generalisten sind nur so gut wie die Spezialisten, die sie beraten. Universelle Einsatzbarkeit führt bei Anwendung auf fachlich hochspezialisierte, zugleich sensitive Bereiche zu Dilettantismus und gefährlicher Inkompetenz.
Nur mit ebenso hoch wie spezifisch qualifiziertem Personal kann der Dienst dem Anspruch gerecht werden „mutiger, gemeinsamer und adaptiver“, insbesondere aber auch im Sinne einer fachlich fundierten, sach- und zeitgerechten Information der Bundesregierung, zu agieren.
Nur mit hochqualifiziertem Personal in agiler, komplementäre Kompetenzen aggregierender Organisationsstruktur kann das Risiko einer vermeidbaren Fehleinschätzung dynamischer und volatiler Lageentwicklungen verringert, wenngleich nicht notwendigerweise ausgeschlossen werden. In solchen Konstellationen gehört beides dazu: Eigenständige, agile und exzellente fachliche Expertise und Befähigung in Beschaffung wie in der Auswertung durch effizient vernetzte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Intelligence Failures und Intelligence Studies
Fehleinschätzungen hochdynamischer Lageentwicklungen wie zum Beispiel in Afghanistan basieren in der Regel primär auf kognitiven, erst in zweiter Linie auf aufbau- oder ablauforganisatorischen Faktoren: Mangel an verzugsarmer spezifischer Information aufgrund defizitärer taktischer Beobachtungs- und Beschaffungskapazitäten, mit denen auch informelle Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zeitgerecht penetriert und deren Inhalte berichtet werden, sowie mentale Beharrung in einem etablierten Interpretationsrahmen (Lageverständnis), die den Blick auf alternative Szenarien und die sie andeutenden Indikatoren oder die sie nahelegenden erkennbaren Sachzusammenhänge und Kausalitäten trübt.
Die prozessuale Analyse von intelligence failures ist seit Dekaden ein zentraler Forschungsbereich von interdisziplinären intelligence studies, ebenso wie die darauf aufbauende Suche nach kognitiven wie organisatorischen Hilfestellungen, diesen entgegenzuwirken. Erneut wird es hier mithin entscheidend auf den „Faktor Mensch“ ankommen, auf gezielte fachliche und methodische Qualifizierung unter Berücksichtigung psychologischer und organisationssoziologischer Erkenntnisse und Methoden.
Es ist zu begrüßen, dass mittlerweile mit dem Masterstudiengang „Intelligence and Security Studies“ (MISS) an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung und der Universität der Bundeswehr auch in Deutschland ein Kompetenzzentrum für solche Fragen entwickelt wird. Es wäre sehr zu wünschen, dass dort wie auch die international verfügbare reichhaltige wissenschaftliche Expertise in die angekündigte Bewertung und Aufarbeitung der aktuellen Vorgänge einbezogen wird.
Perspektiven
Die angestrebte Restrukturierung des Bundesnachrichtendienstes ist erklärtermaßen das Ergebnis eines langfristig konzipierten Prozesses der Bestandsaufnahme und Modernisierungsstrategie; sie ist ganz offensichtlich keine improvisierte Reaktion auf die Ereignisse in und um Afghanistan, auch wenn nunmehr im zeitlichen Kontext ihrer Bekanntgabe dieser Eindruck entstehen könnte.
Der Beschluss zur Umorganisation fällt in die Übergangsphase zwischen zwei Legislaturperioden und setzt damit zumindest sachlogisch die Validierung durch eine neue Bundesregierung voraus. Erste eher positive grundsätzliche Kommentare aus Bündnis90/Die Grünen (MdB Dr. Konstantin von Notz), FDP (MdB Stephan Thomae) und auch der Linkspartei (André Hahn) können die Positionierung des Bundeskanzleramts in neuer Besetzung als Dienst- und Fachaufsicht nicht substituieren.
Ob und in welchem Umfang die Restrukturierung gelingen kann, hängt aus fachlicher Sicht entscheidend davon ab, ob die avisierte weitere Verbesserung der horizontalen Verzahnung zwischen beschaffenden und auswertenden Bereichen auf Arbeits- und Führungsebene erreicht und aufrecht erhalten werden kann. Ein Rückfall in früher beklagte Konkurrenzverhältnisse zwischen mächtigen, intransparenten Abteilungen mit tiefen Hierarchien muss im Interesse des Dienstes und seiner Leistungsfähigkeit in einer Ära neuer schwerwiegender Herausforderungen für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland unbedingt vermieden werden.
Dr. Hans-Dieter Herrmann
Vorsitzender