Mehr Handlungsfähigkeit wagen!

Stellungnahme zum Koalitionsvertrag


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Zum Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP vom 24.11.2021 merkt der GKND kritisch an:

  • Bedeutung, Rolle, Funktion und Verantwortlichkeiten der Dienste für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland fehlen in der Betrachtung der politischen Handlungsfelder für die kommende Legislaturperiode, im Unterschied zur Bundeswehr und zu den Polizeien von Bund und Ländern.

  • Nachrichtendienste und Sicherheitsgesetze werden lediglich als Objekte von Kontrolle und Einhegung behandelt. Die fundamentale Wechselwirkung von Sicherheit und Freiheit wird erwähnt, jedoch nur in Bezug auf die Wahrung der Freiheitsrechte, nicht aber auf die erforderlichen Befähigungen der Dienste, extensiv behandelt. Dass Sicherheit nicht alles, aber ohne Sicherheit eben alles nichts ist, wird übergangen.

  • Folgerichtig fehlt auch ein umfassender Referenzrahmen zum Spektrum der Sicherheitsbedrohungen und Risiken, zu deren Beobachtung, Analyse und Abwehr Dienste wie Sicherheitsbehörden mandatiert sind.

  • Das Gleiche gilt für die dringlich erforderliche Befähigung zur ressortübergreifend strukturierten und organisierten Abwehr hybrider Bedrohungen als eine der auch international anerkannten zentralen gesamtstaatlichen Herausforderungen gerade auch der eigenen Dienste und Sicherheitsbehörden.

  • Ressortübergreifendes Regierungshandeln wird vielfach (15 mal) postuliert, operativ jedoch nicht konkretisiert. Gleiches gilt für Forderungen nach gesamtstaatlichem oder gemeinsamem Handeln, mit der signifikanten Ausnahme der Einrichtung eines gemeinsamen Krisenstabes zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.

  • Die Entwicklung einer „umfassenden Nationalen Sicherheitsstrategie“ ebenso wie einer „Gesamtstrategie auf nationaler und europäischer Ebene“ für die Bekämpfung von Extremismus bleibt operativ im Unverbindlichen.

  • Von einer „Öffnungsklausel“ am Ende des Vertrags, die eine Option zur Bildung von Kabinettausschüssen für die „ressortübergreifende Koordinierung besonderer Ziele des Koalitionsvertrags“ vorsieht, bleibt eine Weiterentwicklung hin zu einem „whole of government approach“ der neuen Regierung zu erhoffen.

Am 24. November 2021 wurde der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis90/Die Grünen und der FDP unter dem zukunftsgewandten Titel „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ vorgestellt. Der GKND nimmt, vorbehaltlich weiterer Änderungen des Textes durch abschließende Voten der jeweiligen Parteibasis, zu den bisher erkennbaren Implikationen des Vertragswerks für die Position, Aufgabenstellung, Arbeit und Zukunftsperspektiven der Dienste und ihrer Integration in Entscheidungsprozesse der neuen Bundesregierung Stellung.

Wo bleiben die Dienste?

Gleichwohl bleibt eingangs bereits festzuhalten, dass auf (brutto) 177 Seiten und in (brutto) 6.018 Zeilen die Begriffe „Bundesamt für Verfassungsschutz“, „Bundesnachrichtendienst“ oder „Militärischer Abschirmdienst“ kein einziges Mal Erwähnung finden, mit einer signifikanten Ausnahme im Zusammenhang mit dem (kritisch) zu überprüfenden Einsatz von Überwachungssoftware (Zeile 3657-3661).

Der Begriff „Nachrichtendienste“, soweit erkennbar in erster Linie auf die Verfassungsschutzämter gemünzt, kommt immerhin zwei Mal vor, jeweils im Kontext einzuschränkender, zumindest jedoch stärker zu kontrollierender Befähigungen und Befugnisse (Zeilen 3673-3679, 3683-3687). Daran kann auch die vorangestellte allgemeine positive Feststellung, dass

„Nachrichtendienste … ein wichtiger Teil der wehrhaften Demokratie [sind]“

nichts ändern, zumal dieser apodiktischen Aussage nichts weiter folgt, so dass sich der Eindruck eines reinen Lippenbekenntnisses nicht ganz vermeiden lässt.

Die Polizeien und die Bundeswehr sind in diesem Zusammenhang besser aufgestellt. Der Begriff der „Sicherheitsbehörden“ (in meist polizeilicher Konnotation) kommt fünf Mal vor; der Bundeswehr mit ihren Soldatinnen und Soldaten wird immerhin ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem sowohl deren

„wesentliche[r] Beitrag zum Schutz und zur Verteidigung unseres Landes sowie unserer Partner und Verbündeten“ (Zeilen 5001-5002)

wie auch die sich hieraus ergebende Notwendigkeit ihrer bestmögliche Ausstattung und Unterstützung betont werden (5001-5073):

„Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Internationalen Sicherheit. Wir verbessern ihre Ausrüstung wie auch die der Bundeswehr“. (Zeilen 5017-5018).

Ähnliches sucht man vergeblich in Bezug auf die Dienste

Die auf (polizeiliche) „Sicherheitsbehörden“ bezogenen Passagen des Koalitionsvertrages seien allein schon aufgrund ihres Seltenheitswertes hier im Wortlaut wiedergegeben:

„Sicherheit und Freiheit bedingen einander. Die Sicherheitsbehörden und ihre Beschäftigten verdienen Respekt und Unterstützung. Wir wollen ihre Strukturen und Zusammenarbeit effektiver machen“ (Zeilen 93-95)

„Leben in Freiheit braucht Sicherheit. Unsere Verantwortung ist die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Dafür [brauchen wir] die Sicherheitsbehörden, den Bevölkerungsschutz und die Justiz“. (Zeilen 3433-3435)

„Die Angehörigen der Sicherheitsbehörden in unserem Land, die uns jeden Tag aufs Neue bei der Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterstützen, verdienen unseren Respekt und [unsere] Anerkennung.“ (Zeilen 3461-3464)

„Unsere Sicherheitsbehörden [Bundespolizeien] … leisten professionelle Arbeit im Kampf gegen Kriminalität und für den Schutz unserer Demokratie. Die Wertschätzung für unsere Polizistinnen und Polizisten drückt sich auch durch eine gute Personal- und Sachausstattung … [aus]. (Zeilen 3467-3470)

„Wir machen die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität … zu einem Schwerpunkt unserer Sicherheitsbehörden“ (3566-3571)

Völlig unterbleibt die Erwähnung der Dienste im sicherheitspolitisch ohnehin eher schmallippigen Abschnitt „Kampf gegen Extremismus“ (Zeilen 3577-3598), und damit in einem Kernbereich ihres Auftrags, ebenso wie die Rolle des Bundesnachrichtendienstes bei der auch vom Bundesverfassungsgericht geforderten „wirksamen Auslandsaufklärung“ in den zentralen Bereichen von Proliferation, Terrorismus, hybriden Bedrohungen, internationaler Schleuserkriminalität, Untergrabung regionaler Sicherheit, Prosperität und Stabilität mit ihren gefährdenden Auswirkungen auf „die Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung – und damit um Verfassungsgüter von hohem Rang. In Frage steht mithin ein gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht.“ Ähnlich klare Worte hätten den Koalitionsvertrag sicherlich nicht unzulässig verlängert.

Allein schon de iure legen geheime Nachrichtendienste bekanntlich Wert auf die nötige öffentliche Diskretion bezüglich ihrer geheimhaltungsbedürftigen Aktivitäten. Totgeschwiegen werden sollten sie deswegen jedoch gerade auch in der aktuellen politischen Programmatik nicht, zumal auch ihre geschätzt insgesamt bis zu 15.000 Angehörigen in BfV, BND, BAMAD und 16 Landesämtern in gleicher Weise wie Polizeien, Bundeswehr und andere Behörden im Sicherheitsbereich Respekt und Anerkennung verdienen und – wichtiger noch! – auch zur wirksamen Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben angesichts umfassender und neuartiger Herausforderungen befähigt werden müssen.

Befähigung und Kontrolle

Der GKND hat gerade auch im Lichte des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 19. Mai 2020 immer wieder dafür geworben, im Zusammenhang mit den Diensten die beiden essentiellen Kategorien „Befähigung“ und „Kontrolle“ in gleichem Maße zu betrachten und in ein sach- und aufgabengerechtes Verhältnis zu bringen.

Wenn für die Bundeswehr, die „einen wesentlichen Beitrag zum Schutz und zur Verteidigung unseres Landes“ leistet (Zeilen 5001-5002), gilt, dass diese „entsprechend ihres Auftrages und ihrer Aufgaben bestmöglich personell, materiell sowie finanziell verlässlich ausgestattet werden“ müssen (Zeilen 5008-5010), so sollte dies in gleicher Weise auch für die Dienste als „wichtiger Teil der wehrhaften Demokratie“ (Zeile 3673) zutreffen und so auch programmatisch festgehalten werden.

Dies ist ausweislich des vorliegenden Vertrags nicht der Fall. Die Notwendigkeit von Sicherheit als eine Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten wird zwar ebenso anerkannt wie damit einhergehend die funktionale Existenzberichtigung von Sicherheitsbehörden und Diensten; ihre damit zwingend verbundene Leistungsfähigkeit jedoch allenfalls implizit vorausgesetzt und zugleich in erster Linie als Gegenstand von Kontrolle und Einhegung :präsentiert. Das mag einem perzipierten gesellschaftlichen „Zeitgeist“ entsprechen, nicht jedoch der Realität eines breiten Spektrums an Herausforderungen und Bedrohungen im Zeichen umfassender informationstechnischen Revolutionen, denen sich die Dienste, ebenso wie die Polizeien und die Bundeswehr, in der Wahrnehmung ihres Schutz- und Vorbeugungsauftrags gegenüber sehen.

Im Zusammenhang mit den Diensten stehen so Befugnisse und deren gesetzliche Grundlagen in erster Linie unter dem Aspekt ihrer Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Freiheitsrechten auf dem Prüfstand, nicht jedoch unter dem essentiellen Gesichtspunkt ihrer Zweckbestimmung, Notwendigkeit, Sachgerechtigkeit und Wirksamkeit:

  • „Leben in Freiheit braucht Sicherheit. Unsere Verantwortung ist die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Dafür [brauchen wir] die Sicherheitsbehörden, den Bevölkerungsschutz und die Justiz. Sicherheitsgesetze und deren Auswirkungen auf die Bürgerrechte werden wir im Lichte der technischen Entwicklung einer unabhängigen wissenschaftlichen Evaluation unterziehen“ (Zeilen 3431-3437).

  • „Wir sorgen für eine vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik. … Die Sicherheitsgesetze wollen wir auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren. Deshalb erstellen wir eine Überwachungsgesamtrechnung und bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen. Jede zukünftige Gesetzgebung muss diesen Grundsätzen genügen. Dafür schaffen wir ein unabhängiges Expertengremium (Freiheitskommission), das bei zukünftigen Sicherheitsgesetzgebungsvorhaben berät und Freiheitseinschränkungen evaluiert“. (Zeilen 3626-3636)

  • „Angesichts … des bevorstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs … werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können“. (Zeilen 3643-3646)

  • „Der Staat wird … keine Sicherheitslücke ankaufen oder offenhalten, sondern in einem Schwachstellenmanagement unter Federführung eines unabhängigeren Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik immer um die schnellstmögliche Schließung bemühen“. (Zeilen 36513655)

    • Für den Einsatz von Überwachungssoftware … setzen wir die Eingriffsschwellen hoch und passen das geltende Recht so an, dass der Einsatz nur nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes für die Online-Durchsuchung zulässig ist. Die Befugnis des Verfassungsschutzes zu Einsatz von Überwachungssoftware wird im Rahmen der Überwachungsgesamtrechnung überprüft“ (Zeilen 3657-3661)

    • „Wir schaffen für die Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS) und … für die gemeinsamen Zentren (GTAZ etc.) gesetzliche Grundlagen, legen die Verantwortlichkeiten klarer fest und garantieren die lückenlose Kontrolle durch Parlamente und Datenschutzaufsichtsbehörden.“ (Zeilen 3666-3669)

    • „Nachrichtendienste sind ein wichtiger Teil der wehrhaften Demokratie [sic!].Wir achten das verfassungsrechtliche Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten. Wir stärken und bauen die Kontrolle, insbesondere die parlamentarische, aller nachrichtendienstlichen Tätigkeiten des Bundes weiter aus. Das Sicherheitsrecht des Bundes reformieren wir umfassend. Hilfsorgane der Parlamentarischen Kontrolle [G-10 Kommission, UKR] stärken wir. Die Wahrnehmung der Rechte Betroffener verbessern wir. Kontrolllücken schließen wir. Die Arbeit der Dienste wird durch eine fundierte wissenschaftliche Analyse gestärkt und differenziert“. (Zeilen 3673-3679)

    • „Wir regeln Voraussetzungen für den Einsatz von V-Personen, Gewährspersonen und sonstigen Informantinnen und Informanten aller Sicherheitsbehörden gesetzlich und machen sie unter Wahrung der notwendigen Anonymität parlamentarisch überprüfbar“. (Zeilen 3683-3685)

Eine „rühmliche Ausnahme“ von diesem Muster findet sich lediglich im Bereich der Aufklärung der Terrorismusfinanzierung:

  • „Wir prüfen, ob die Nachrichtendienste bei der Nachverfolgung von Transaktionen zur Terrorismusfinanzierung über ausreichende Möglichkeiten verfügen.“ (Zeilen 3685-3687)

Das ist zweifellos gut, jedoch definitiv nicht gut genug.

Bekanntlich liegt zwischen Ankündigung, gesetzlicher Regelung und ihrer Umsetzung in die Praxis ein weiter, mit komplexen Sach- und Rechtsfragen ebenso wie mit partei- und ressortpolitischen Divergenzen gepflasterter Weg. Diesem Prozess sei jedoch aus Sicht des GKND eine klare Botschaft mitgegeben:

Eine „Überwachungsgesamtrechnung“ wie auch eine „Verrechtlichung“ aller nachrichtendienstlichen Aktivitäten müssen zwingend auch die Zweckgerichtetheit und Wirksamkeit von Maßnahmen und Strukturen berücksichtigen und die Konsequenzen ihrer Einschränkung, Veränderung oder auch Abschaffung klar erfassen und benennen, insbesondere, wenn keine glaubhaften und gangbaren Alternativen für die Wahrung und Entwicklung angemessener Befähigungen gefunden werden können. Im Einzelfall handelt es sich dann im wahrsten Sinne des Wortes um den „Preis der Freiheit“, der im „Ernstfall“ mit tragischen Konsequenzen zu entrichten sein würde. Diesen gilt es dann nicht, schamhaft zu verschweigen oder zweckorientiert argumentativ zu minimieren, sondern in aller Entschiedenheit und Deutlichkeit in der politischen Diskussion und im Gesetzgebungsverfahren zu berücksichtigen. Dies wird die Verantwortlichkeit sowohl der Exekutive („Speaking truth to power“) als auch der neuen Bundesregierung und der sie tragenden Parteien sein.

Der GKND wird sich bemühen, im Rahmen seiner Möglichkeiten auf diese Dimension des Problems immer wieder hinzuweisen.

Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten

Der Koalitionsvertrag formuliert hohe Anforderungen an die Handlungsfähigkeit Deutschlands vor dem Hintergrund eines „Jahrzehnts im Umbruch“, geprägt von der existenzgefährdenden Klimakrise und einem verschärften globalen systemischen Wettbewerb (Zeilen 22-25).

  • Deutschland werde nur auf der Höhe der Zeit agieren können, „wenn wir den Staat selbst modernisieren. Wir wollen staatliches Handeln schneller und effektiver machen und besser auf künftige Krisen vorbereiten“ (Zeilen 39-41)

  • Deutschland müsse handlungs- und leistungsfähig sein, insbesondere in Krisenzeiten. Der Staat müsse vorausschauend für seine Bürgerinnen und Bürger arbeiten. (Zeilen 141-143)

  • Die Verwaltung müsse agiler und digitaler werde und auf interdisziplinäre und kreative Problemlösungen setzen. Man werde sie konsequent aus der Nutzungsperspektive denken. (Zeilen 173-174)

  • Silodenken sei zu überwinden; feste ressort- und behördenübergreifende agile Projektteams und Innovationseinheiten mit konkreten Kompetenzen seien zu schaffen. (Zeilen 174-176)

  • Von der Leitung der Ministerien … sei zu erwarten, dass sie eine moderne Führungs- und Verwaltungsstruktur vorantrieben (Zeilen 180-181).

  • Ein Föderalismusdialog zur transparenteren und effizienteren Verteilung der Aufgaben, insbesondere zu den Themen Katastrophen- und Bevölkerungsschutz, … innere Sicherheit … sei zu führen. (Zeilen 252-257)

  • Gemeinsam mit den Ländern sei die Sicherheitsarchitektur in Deutschland einer Gesamtbewertung zu unterziehen und die Zusammenarbeit der Institutionen für die Sicherheit der Menschen effektiver und wirksamer zu gestalten (Zeilen 3520-3522).

  • Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BBK) sei neu auszurichten und zur Zentralstelle weiterzuentwickeln, mit entsprechenden Konsequenzen für seine personelle und materielle Ausstattung. (Zeilen 3495-3497)

  • Der physische Schutz kritischer Infrastrukturen sei in einem KRITIS-Dachgesetz zu bündeln. (Zeilen 3504-3505).

Was in diesem ambitionierten Katalog an Zielsetzungen fehlt, ist die Befähigung zur ressortübergreifend strukturierten und organisierten Abwehr hybrider Bedrohungen, die eine der zentralen gesamtstaatlichen Herausforderungen gerade auch der eigenen Dienste und Sicherheitsbehörden sind und immer stärker sein werden. Bemerkenswert ist übrigens, dass der Begriff „hybrid“ im Koalitionsvertrag in erster Linie im Bereich alternativer Antriebsverfahren Verwendung findet. Die seit 2014 etablierte internationale, von NATO und EU gleichermaßen behandelte Problematik der „hybrid threats“ als multidimensionales Sicherheitsproblem ist an diesem Papier konzeptionell spurlos vorüber gegangen. Aus dem Spektrum hybrider Bedrohungen sind einzelne Elemente aufzuspüren, ohne dass sich hieraus ein Gesamtansatz im Regierungshandeln („whole of government approach“) erkennen ließe:

  • „Den neuen Bedrohungen im Cyberspace wollen wir durch eine ehrgeizige Cybersicherheitspolitik entgegentreten. Die Bundeswehr muss zudem in die Lage versetzt werden, im Verbund mit anderen Bundesbehörden im Cyber- und Informationsraum als Akteur erfolgreich zu bestehen“. (Zeilen 5040-5042)

  • „Die Cybersicherheitsstrategie und das IT-Sicherheitsrecht werden weiterentwickelt. … Das Identifizieren, Melden und Schließen von Sicherheitslücken in einem verantwortlichen Verfahren, z. B. in der IT-Sicherheitsforschung, soll legal durchführbar sein. Hackbacks lehnen wir als Mittel der Cyberabwehr grundsätzlich ab“. (Zeilen 437-438, 445-447)

  • Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News, Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können. (Zeilen 4460-4462).

Es reicht eben nicht, „Hassrede und hybride […?]“ bekämpfen zu wollen (Zeile 4178), man muss dann auch eine Vorstellung davon entwickeln, wer dies im Gesamtzusammenhang der Ressorts, Dienste, Bundes- und Landesbehörden tun soll, und insbesondere auch wie und womit. Einer praktischen Umsetzung der Vorstellungen des Koalitionsvertrages, gerade auch in ihrer mehrfach geforderten ressortübergreifenden und interdisziplinären Dimension, kann hier nur mit Spannung entgegengesehen werden.

Ressortübergreifendes Regierungshandeln?

Ressortübergreifende Ansätze für Regierungshandeln finden sich in den verschiedensten Bereichen: Gesetzesvorhaben sollen „frühzeitig und ressortübergreifend“ diskutiert werden (Zeilen 198-199), eine ressortübergreifende Bund-/Länder-Steuerungsgruppe soll Beschleunigungsvorhaben in Planung und Genehmigung fördern (Zeilen 375-376), Forschungsbedarfe sollen ressortübergreifend, schneller und wirksamer adressiert werden (Zeilen 552-553), eine ressortübergreifende „one-in-one-out“-Regelung soll Bürokratieabbau fördern (Zeilen 967-968). Ein ressortübergreifendes Kompetenznetzwerk soll die Umsetzung einer Reduktionsstrategie zu Tierversuchen unterstützen (Zeilen 1398-1400), die Einrichtung der Schnellladestruktur für Elektrofahrzeuge sei ressortübergreifend zu beschleunigen (Zeilen 1654), eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe zur Kindergrundsicherung unter Federführung des Bundesministeriums für Frauen, Senioren, Familien und Jugend werde einzusetzen sein (Zeilen 3343-3344), eine ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie des Bundes sei weiterzuentwickeln (Zeilen 3828-3829) ebenso wie eine ressortübergreifende politische Strategie gegen Gewalt (Zeilen 3838-3839) und ein ressortübergreifender Nationaler Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (Zeilen 3999-4001).

Zur Rückgabe kolonialer Beutekunst wird eine ressortübergreifende internationale Kooperation angestrebt (Zeilen 4216-4220), und so soll schließlich auch „die deutsche Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik wertebasiert und europäischer aufgestellt werden. Die deutsche Außenpolitik soll aus einem Guss agieren und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten, um die Kohärenz unseres internationalen Handelns zu erhöhen.“ (Zeilen 4814-4816)

Die Forderung nach einer ressortübergreifenden Außenpolitik „aus einem Guss“ (Zeile 4815-4816) ist spätestens seit dem Weißbuch 2016 und den Leitlinien zur Krisenprävention etabliertes Gemeingut und angesichts des institutionell wie parteipolitisch bedingten Spannungsverhältnisses zwischen Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium ebenso wenig wirksam umgesetzt worden, von einer qualifizierten Einbeziehung anderer Ressorts mit außenpolitisch relevanten Zuständigkeiten, wie dem BMZ, aber eben auch BMWi und BMF, ganz zu schweigen. Die Konsequenzen dieses Zustands sind vielfältig beleuchtet worden und haben in den jüngsten Ereignissen in und um Afghanistan eine erneute ebenso eindrucksvolle wie deprimierende Bestätigung erfahren.

Vor diesem Hintergrund ist es nun mehr als erklärungsbedürftig, dass es offenbar erneut nicht gelungen ist, eine ressortübergreifende, wirksame Struktur in Lagefeststellung, Lagebeurteilung und Entscheidungsvorbereitung für einen vernetzten, handlungsbefähigenden außen- und sicherheitspolitischen Politikansatz zu finden. Eine solche Struktur wäre umso wichtiger, als allein schon die Ressortverteilung unter den Koalitionären starke Koordinationsmechanismen zwischen den SPD-geführten Häusern Verteidigung, Entwicklungszusammenarbeit, Inneres und dem von Bündnis 90/Die Grünen geleiteten Auswärtigen Amt erfordern wird, ganz zu schweigen von den finanz-, wirtschafts- und gesundheitspolitischen Dimensionen von Außenpolitik.

Europapolitik wird dagegen im Koalitionsvertrag zutreffend als eine ressortübergreifende Gestaltungsaufgabe für die Bundesregierung verstanden. Man müsse sich folglich durch eine stringentere Koordinierung eindeutig und frühzeitig zu Vorhaben der Europäischen Kommission positionieren. (Zeilen 4538-4540) Dazu würden sich die Koalitionspartner innerhalb der Bundesregierung eng abstimmen und zu regelmäßigen europapolitischen Koordinierungen zusammenfinden. Die Abstimmungsverantwortung werde durch die Bundesministerinnen und Bundesminister im Rahmen ihrer Fach- und Koordinierungszuständigkeiten und im engen Zusammenwirken mit dem Bundeskanzler wahrgenommen (Zeilen 5961-5967).

Die Umsetzung dieses organisatorisch eher vagen Ansatzes in die Praxis wird mit einiger Aufmerksamkeit zu verfolgen sein, sofern es sich hier nicht nur um eine allgemeine Absichtserklärung handeln sollte. Signifikant ist hier der Verweis auf die „enge Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzler“, von der im allseitigen Interesse zu hoffen sein wird, dass sie auch für die anderen, gleichfalls ressortübergreifend angelegten Bereiche deutscher Außen- und Sicherheitspolitik gelten möge.

In besonderem Maße gilt dies schließlich auch für die für das erste Jahr in Aussicht gestellte Erarbeitung einer „umfassenden nationalen Sicherheitsstrategie“ (Zeilen 4857-4858). Wenn ein Projekt ressortübergreifend ist, dann angesichts des hier eindeutig zugrundeliegenden erweiterten Sicherheitsbegriffs wohl dieses! Um so bemerkenswerter ist, dass in diesem Kontext kein einziges erläuterndes Wort über die Umsetzung dieses ambitionierten Vorhabens fällt. Der Sachzusammenhang ließe eine intendierte Federführung des Auswärtigen Amtes vermuten, was alle Beobachter bisheriger Verhältnisse angesichts der aktuellen Verteilung der hier betroffenen Ressorts (BMVg, BMZ, BMI und BMG bei SPD, BMF, BMJ bei FDP, lediglich BMWi noch bei Bündnis 90/Die Grünen) wohl erst einmal zu ungläubigem Kopfschütteln veranlassen dürfte. Ebenso offensichtlich wie in der Sache unabweisbar ist, dass hier zumindest das Gleiche gelten muss wie für die Europapolitik, soll das Projekt nicht erneut zur operativen Bedeutungslosigkeit verurteilt sein.

In diesem Zusammenhang sei abschließend auf eine Art „Öffnungsklausel“ zum Ende des Koalitionsvertrags verwiesen:

„Zur ressortübergreifenden Koordinierung besonderer Ziele des Koalitionsvertrages können Kabinettsausschüsse gebildet werden, deren Aufgaben und Mitglieder einvernehmlich zwischen den Koalitionspartnern festgelegt werden.“ (Zeilen 5930-5932)

Sollte über einen solchen Kabinettsausschuss eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie entwickelt werden können, die ihren ambitionierten Namen auch verdient, wäre im Zuge dieses Prozesses auch die Erarbeitung von Strukturen in Anlehnung an den bekanntlich als Kabinettsausschuss eingerichteten Bundessicherheitsrat zu erhoffen, die eine wirksame ressortübergreifende Umsetzung dieser wahrhaft gesamtstaatlichen Aufgabe ermöglichten.

Was für das Pandemie-Krisenmanagement gilt, das die Koalitionäre zu Recht als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe identifiziert haben (Zeilen 18-20) und mit der unverzüglichen Einrichtung eines gemeinsamen Krisenstabes der Bundesregierung angehen wollen (Zeilen 5954-5956), gilt bekanntlich für zahlreiche weitere komplexe Herausforderungen für die Lebensinteressen von Staat und Gesellschaft.

Es muss nicht besonders darauf hingewiesen werden, dass der nun intendierte gemeinsame Krisenstab im Jahr Drei der Pandemie kein besonders gutes Licht auf gesamtstaatliche Resilienz und Reaktionsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland wirft. In unser aller Interesse wird daher zu wünschen sein, dass endlich angemessene Konsequenzen aus diesem Fall wie aus Afghanistan oder der Flutkatastrophe auch im Bereich von gesamtstaatlicher Organisations- und Handlungsfähigkeit gezogen und nicht erneut taktischen Interessen und der „Schwerkraft der Verhältnisse“ untergeordnet werden.

Dem Motto des Koalitionsvertrages „Mehr Fortschritt wagen“ sei daher der dringliche Aufruf „Mehr Handlungsfähigkeit wagen“, und dies gerade auch im Bereich der Sicherheitsgewährleistung für unsere Land und seine Partner, hinzugefügt.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender des Vorstandes

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Nationale Sicherheitsstrategie und Koordination von Regierungshandeln