Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates
Anmerkungen zum Vortrag von Herrn Stephan Kramer, Präsident des AfV Thüringen, vor dem GKND am 12.01.2023
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Dr. Gerhard Conrad | Stefan Kramer, Präsident des Amts für Verfassungsschutz Thüringen
Für den 12. Januar 2023 hatte der GKND den Präsidenten des Amts für Verfassungsschutz Thüringen (AfV), Herrn Stefan J. Kramer, für einen Vortrag vor der Mitgliedschaft zum Phänomen der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates und seiner Beziehungen zum Rechtsextremismus gewinnen können. Das GKND dankt an dieser Stelle Herrn Kramer sehr herzlich für seine eindrucksvollen Ausführungen.
Das Amt für Verfassungsschutz Thüringen besteht als Abteilung des Thüringer Ministeriums für Inneres und Kommunales seit dem 01. Januar 2015. Mit der Neugründung des Amtes, seiner Eingliederung als Abteilung in das Innenministerium des Freistaats und der Berufung eines neuen Präsidenten war seinerzeit ein Neuanfang nach der in mehrfacher Hinsicht belasteten und kompromittierten Ära des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (TLfV) gemacht worden. Dieses war von 1991 bis Ende 2014 als eine eigenständige obere Landesbehörde mit der Aufgabenwahrnehmung im Bereich des Verfassungsschutzes betraut gewesen. Die Aufgabenschwerpunkte des heutigen Amtes liegen auf den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Reichsbürger/Selbstverwalter, Islamismus, Ausländerextremismus und Linksextremismus. Zunehmend spielen auch die Mitwirkungsaufgaben, die Spionageabwehr und der Wirtschaftsschutz eine immer wichtigere Rolle.
Mit dem Phänomenbereich der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ hat sich zudem aus dem Corona-spezifischen Protestgeschehen heraus zunehmend ein Extremismus eigener Art entwickelt, den auch das Bundesamt für Verfassungsschutz im April 2021 als gesonderte Kategorie eingeführt hat.
Die diesem Phänomenbereich zugeordneten Akteure zielen, so das BfV, darauf ab, das Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Dies versuchen sie zu erreichen, indem sie unter anderem
demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates verächtlich machen,
staatlichen Institutionen und ihren Vertretern die Legitimität absprechen,
zum Ignorieren gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen aufrufen,
staatliche oder öffentliche Institutionen (z.B. der Gesundheitsfürsorge) mittels Sachbeschädigungen sabotieren oder
zu Widerstandshandlungen gegen die staatliche Ordnung aufrufen.
Diese Verhaltensweisen stehen im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratie- oder dem Rechtsstaatsprinzip.
Zum Teil wird die Bundesrepublik Deutschland mit den diktatorischen Regimen des Nationalsozialismus und der DDR gleichgesetzt. Hierdurch soll die Rechtmäßigkeit der Corona-Schutzmaßnahmen in Zweifel gezogen und der Rechtsstaat im Allgemeinen diskreditiert werden.
In der Szene werden zudem Verschwörungstheorien verbreitet, in denen die fundamentale Ablehnung des Staates und seiner Repräsentanten zutage tritt. Diese Erzählungen sind häufig von antisemitischen Ressentiments geprägt, womit auch eine Brücke zu Rechtsextremisten sowie „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ geschlagen wird.
Lange Zeit war die Coronapandemie das bestimmende Thema im Phänomenbereich der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“, der sich zukünftig aber auch auf neue und sich ggf. überlagernde Themen konzentrieren dürfte. Insbesondere gesellschaftliche Krisensituationen, etwa signifikante Einschränkungen im Zusammenhang mit Klimaschutzmaßnahmen oder eine wirtschaftliche Rezession infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, können instrumentalisiert werden, um Institutionen und Repräsentanten des Staates systematisch zu delegitimieren und das demokratische System insgesamt zu diskreditieren.
Ein zeitweiliger Themenwechsel zeichnete sich bereits im Kontext mit der Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 ab. Akteure aus dem Phänomenbereich versuchten, die angespannte Versorgungssituation vor Ort auszunutzen, um den Eindruck zu vermitteln, staatliche Stellen seien unwillig und unfähig, sich der dortigen Notlage zu stellen und Abhilfe zu schaffen. Seit Februar 2022 tritt nunmehr zusehends der Krieg Russlands gegen die Ukraine als Agitationsthema in den Vordergrund.
Die neue Kategorie ist in ihrer Abgrenzung zu grundgesetzlich geschützter legitimer, auch polemischer politischer Auseinandersetzung mit Staat und Verwaltung nicht immer einfach zu handhaben und wird aus diesem Grund immer wieder kritisch hinterfragt.
Hier konnte Präsident Kramer anhand konkreter Fälle wichtige Klarstellungen vornehmen und Tendenzen aufzeigen. Er konnte so insbesondere sehr eindrucksvoll die verbale und mentale Aggressivität vor Augen führen, die in diesem Milieu einer dämonisierten und verhassten Staatsmacht oder auch internationalen „Verschwörer-Strukturen“ entgegengebracht wird. Die Abfolge der Beispiele zeigte auch den Wandel von individuellen, nicht selten auch stark idiosynkratisch geformten Betroffenheitsbekundungen bis hin zu Aufrufen zur disruptiven Aktion gegen staatliche oder gesellschaftliche Akteure, zu hochemotionalen Gewaltphantasien und generischen Aufrufen zu Straftaten. Ein ebenfalls zur Verfügung gestelltes Video zu einem Zwischenfall in Schmalkalden zeigte, wie sich bei einem als „Spaziergang“ getarnten und damit nicht anmeldungspflichtigen Corona-Protest aus einer niederschwelligen Routinemaßnahme der Polizei (Feststellung der Personalien eines mutmaßlichen Veranstalters) innerhalb kürzester Zeit eine explosive Situation bis hin zur körperlichen Aggression gegen die Beamten entwickeln konnte.
Die im Vortrag präsentierten Beispiele lassen klar erkennen, dass die heftige Aversion und latente bis manifeste Aggression gegen staatliche Stellen und Akteure nicht gruppen- oder ideologiespezifisch ist, sondern weit in alle gesellschaftlichen Milieus reicht und von einer Vielzahl unterschiedlicher individueller oder kleingruppenspezifischer Vorstellungswelten getragen wird. Eine gemeinsame politische Zielvorstellung oder Ideologie ist – im Unterschied zu den anderen verfassungsschutzrelevanten Extremismen – nicht erkennbar. Das heterogene Milieu eint eine stark von individuellen und informell kollektiven Angstvorstellungen und teilweise auch existenziellen Frustrationen geprägte heftige Ablehnung und Diskreditierung staatliche Strukturen und Akteure, denen ein extremes Maß an Inkompetenz, Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und/oder Böswilligkeit bis hin zur Teilhabe an globalen Verschwörungen gegen das „Volk“ und damit die Protestierenden selbst attestiert wird. Diese persönlich wie kollektiv identitätsstiftende Grund-Aversion, Bedrohungs- und Verschwörungsperzeption ist polymorph und situativ: Sie entzündet und nährt sich nahezu beliebig an realen oder perzipierten Fehlfunktionen in Staat und Gesellschaft. Sie ist hierbei dem Grunde nach vorwiegend destruktiv, in Anlehnung an das Motto „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“, und verbindet Störung oder Zerstörung nicht mit einer ideologischen Zielprojektion, es sei denn, dass im Einzelfall der Schritt hin zu einer der bestehenden extremistischen ideologiebasierten Gruppierungen unternommen würde.
Es ist diese gewaltaffine und radikale Delegitimierung staatlicher Strukturen und gesellschaftlicher Akteure, bis hin zur Bedrohung einzelner Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die Verfassungsschutzrelevanz begründet, nicht aber die grundgesetzlich geschützte, auch polemische Kritik an perzipierten oder realen politischen, administrativen oder gesellschaftlichen Missständen, die Teil des notwendigen öffentlichen Diskurses und der demokratischen Meinungsbildung ist.
Grobe Schätzungen auf der Grundlage von Demonstrationsgeschehen und der Auftritte in sozialen Medien gehen allein für Thüringen davon aus, dass das Milieu der sogenannten „Querdenker“, aus dessen Angehörigen sich die Exponenten verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung des Staates rekrutieren, um die 8.000 bis 10.000 Menschen umfasst. Die Zahl einschlägig interessierter Subscriber in den sozialen Medien, insbesondere im Telegram Messenger Dienst, beläuft sich „bei den deutschsprachigen Q-Anon Angeboten“ aktuell auf etwa 120.000 bis 130.000.
Die Aufgabe des Verfassungsschutzes besteht auch hier, so Präsident Kramer, in der Identifizierung von Stichwortgebern und maßgeblichen Agitatoren und Akteuren im Netz, der Beobachtung möglicher Instrumentalisierung, Orientierung und Unterstützung der staatsfeindlichen Szene durch interessierte internationale Akteure, auch durch Nachrichtendienste im Rahmen hybrider Kriegsführung, und in der Unterstützung staatlicher Stellen bei der Gefahrenabwehr durch möglichst frühzeitige Sensibilisierung und Warnung vor sich materialisierenden Gefährdungsmomenten.
In der angeregten Diskussion wurde allerdings auch klar, dass die gesamtgesellschaftliche und politische Herausforderung darin bestehen werde, den gesellschaftlichen und politischen Ursachen für dieses sich in den vergangenen Jahren stetig ausbreitende Phänomen nachzugehen und nach geeigneten Wegen zur Abhilfe zu suchen. Die Frage muss beantwortet werden, wie die Abwendung von den aktuellen Strukturen und Methoden demokratischer Willensbildung zu erklären ist, wie der wirkungsmächtigen Perzeption von persönlicher wie kollektiver Hilflosigkeit angesichts einer nicht mehr verständlichen und als schädigend empfundenen Realität durch spürbare und zielführende Maßnahmen begegnet werden kann. Neben einer dringend notwendigen Überprüfung und Herstellung von Leistungsfähigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen werden hier auch erhebliche Anstrengungen in Politik und Verwaltung unternommen werden müssen, gerade auch im modernen Medienzeitalter, um eine glaubhafte, sach- und lösungsorientierte Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern zustande zu bringen.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad