Nationale Sicherheitsstrategie zwischenRessortprinzip und gesamtstaatlicher Aufgabenwahrnehmung

Anmerkungen zur aktuellen Diskussion um die Erarbeitung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Gerhard Conrad

  • Die aktuellen Verzögerungen und öffentlichen Unstimmigkeiten bei der Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie verdeutlichen ein weiteres Mal die Problematik des Ressortprinzips bei der Bewältigung gesamtstaatlicher Projekte.

  • Zumindest in der bisherigen Außendarstellung der thematisch betroffenen Ressorts ist nicht erkennbar, dass unter der Federführung des Auswärtigen Amts bisher ein „whole of government approach“ effektiv hat umgesetzt werden können.

  • Hochrangige öffentliche Stellungnahmen zur Nationalen Sicherheitsstrategie sind erst nach der Kabinettsklausur in Meseberg am 31.08.2022 seitens BMVg und BMZ, deutlich später auch seitens des BMI festzustellen gewesen. Allen diesbezüglichen Äußerungen ist dabei gemein, dass sie die Bedeutung und Eigenständigkeit der eigenen Zuständigkeiten und Aufgabenwahrnehmung betonen, nicht aber die gemeinsame Klammer einer Nationalen Strategie.

  • Andere Ressorts sind auf Leitungsebene zumindest öffentlich nicht in Erscheinung getreten, ungeachtet ihrer thematischen Relevanz für eine Sicherheitsstrategie.

  • Eine operative Rolle des Bundeskanzleramts ist, ungeachtet der ressortübergreifenden Ambition der Strategie und der sich in den dortigen Abteilungen widerspiegelnden Ressortkompetenzen, nicht erkennbar.

  • Unterschiedliche konzeptionelle Ansätze der Ressorts bzw. Koalitionspartner zur organisatorischen Umsetzung einer Nationalen Sicherheitsstrategie auf Bundes- und Länderebene, auch im Hinblick auf einen Sicherheitsrat, scheinen bisher einer sachlich tragfähigen Lösung ebenfalls nicht zugeführt worden zu sein.

  • Eine stärkere Involvierung des Bundeskanzleramtes in Umsetzung der Richtlinienkompetenz gemäß Art. 65 GG wird für den Erfolg des Prozesses und insbesondere auch einer Umsetzung der Nationalen Sicherheitsstrategie unverzichtbar sein.

„Ausgerechnet Deutschland, dessen Strategiefähigkeit sich bei jedem Regierungswechsel darin erschöpfte, eine außenpolitische Kontinuität zu beschwören, die das Land in jede Krise unvorbereitet hineintappen ließ, soll nun in Rekordgeschwindigkeit „eine neue strategische Kultur“ entwickeln. So hat es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als Vorgabe formuliert. Bislang erschöpften sich die deutschen Ambitionen in ganzen drei Weißbüchern seit 1990, das letzte datiert von 2016. Andere Staaten schreiben derlei Grundsatzdokumente jährlich fort“.

Diese eher skeptische Bewertung eines langjährigen Beobachters des außen- und sicherheitspolitischen Betriebs gilt dem im Koalitionsvertrag der Ampel vom 07.12.2021 formulierten Vorhaben einer „umfassenden Nationalen Sicherheitsstrategie“, die dem Bundestag binnen eines Jahres vorgelegt werden sollte“. Die Aktualität und Dringlichkeit eines solchen Projekts hat mit der von Bundeskanzler Scholz am 27.02.2022 proklamierten Zeitenwende weiter an Bedeutung gewonnen. Die seit Herbst 2022 zu verfolgende Berichterstattung zum Entwicklungsstand des ambitionierten Projekts scheint dessen ungeachtet die kritische Haltung gegenüber dem bisherigen Zuschnitt und Verlauf des Prozesses zu bestätigen.

Gesamtstaatliche Aufgabe in Federführung eines Ressorts

Der Koalitionsvertrag enthält keine expliziten Hinweise auf den Prozess, mit dem die „umfassende Nationale Sicherheitsstrategie“ erarbeitet werden soll. Die Ambition eines „umfassenden“ Ansatzes legte jedoch von Anfang die Absicht dar, dass hier der seit den 1980er Jahren politikwissenschaftlich etablierte „erweiterte Sicherheitsbegriff" als Leitlinie und Maßstab für ein alle sicherheitsrelevanten Aspekte des Regierungshandelns berücksichtigendes Konzept dienen sollte. Neben den Kernressorts des Auswärtigen und der Verteidigung waren somit sachlogisch von Anfang an auf Bundesebene die ministeriellen Zuständigkeiten für innere Sicherheit und Resilienz/Katastrophenschutz (BMI), Versorgungs- und Ressourcensicherheit (BMWK), öffentliche Gesundheit (BMG), Umwelt und Nukleare Sicherheit (BMUV) und Verkehrssicherheit (BMDV) betroffen, darüber hinaus unter dem Aspekt von sicherheitspolitischer Lagefeststellung und Lagebeurteilung auch das Bundeskanzleramt als Dienstaufsichtsbehörde des Bundesnachrichtendienstes. In gleicher Weise stellte sich von Anfang die Frage, wie Länderkompetenzen in der föderalen Struktur der Bundesrepublik einzubeziehen sein müssten.

Die neue Koalition konnte oder wollte allerdings das tradierte Verfahren einer ressort- und parteiorientierten und nicht ressortübergreifenden gesamtstaatlichen Kompetenzallokation ungeachtet seiner bekannten strukturellen und organisatorischen Schwächen nicht überwinden und betraute das Auswärtige Amt unter prospektiver Leitung des grünen Koalitionspartners mit der Federführung in der Ausarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie.

Am 18. März 2022 trat nach einer durch den Krieg in der Ukraine zunächst noch verzögerten Vorbereitungsphase das Auswärtige Amt mit einer Grundsatzrede von Außenministerin Baerbock als federführendes Ressort für die Erarbeitung der umfassenden Strategie in Erscheinung. Diese sollte – ganz im Sinne des erweiterten Sicherheitsbegriffs – drei Pfeiler umfassen:

  • Die Sicherheit der Unverletzlichkeit unseres Lebens, zuvorderst vor Gewalt und Krieg

  • Die Sicherheit unserer Freiheit, der Resilienz unserer Demokratie.

  • Die Sicherheit unserer Lebensgrundlagen, der Schutz unserer Umwelt und Ressourcen.

Die Sicherheitsstrategie sollte in einem „gemeinsamen Prozess erarbeitet werden, der unterschiedliche Ressorts der Bundesregierung, den Deutschen Bundestag, und viele nationale und internationale Partnerinnen und Partner“ mit einbeziehe.

AA-Staatsminister Lindner formulierte dies wie folgt: „Praktisch bedeutet dies, dass wir im Amt einen Arbeitsstab gebildet haben, in dem Kolleginnen und Kollegen mit verschiedensten fachlichen Hintergründen mitarbeiten, und der zusätzlich von Expertinnen und Experten aus anderen Ministerien verstärkt wird. Sie werden in Absprache mit den Bundesressorts bis Jahresende einen Text erstellen, der schließlich durch das Bundeskabinett verabschiedet wird“.

Über umfängliche Anstrengungen zur Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie der politikberatenden Fachwelt konnte in den Folgemonaten berichtet werden. Zu nennen sind hier insbesondere die Bürgerdialoge der Außenministerin in ganz Deutschland ebenso wie eine ganze Reihe von Workshops mit politikberatenden Institutionen.

Involvierung der Ressorts?

Doch wie stand es um die Involvierung der thematisch zuständigen Ressorts der Bundesregierung? Hierzu finden sich Hinweise erst in den Aussagen der Ministerinnen Schulze (BMZ) und Lambrecht (BMVg) vom September 2022 und – recht spät – von Innenministerin Faeser am 15. November 2022. Vergleichbare prozessorientierte oder inhaltliche Aussagen finden sich nicht in der Kommunikation anderer thematisch betroffener Ressorts, und auch nicht des Bundeskanzleramts.

Allen Ressortverlautbarungen ist gemeinsam, dass in ihnen in großer Deutlichkeit auf die sachliche Relevanz des jeweiligen Zuständigkeitsbereichs für die Nationale Sicherheitsstrategie sowie die vielfältigen eigenen Aktivitäten und Projekte hingewiesen und folglich der Erwartung Ausdruck gegeben wird, dass all dies auch angemessene Berücksichtigung finden würde. Sie erwecken mithin den Eindruck, als seien sie in erster Linie dazu bestimmt, den Mitwirkungsanspruch der Ressorts und deren Eigenständigkeit im Regierungshandeln zu dokumentieren.

Das Verteidigungsministerium verweist auf seiner Website auf seine maßgebliche Beteiligung an der Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie, ohne dass jedoch konkrete Aussagen zu Art und Umfang dieser Involvierung erkennbar wären. Die erste Nationale Sicherheitsstrategie sei „umfassend“ geplant. Es werde dabei ein breiter Sicherheitsbegriff zugrunde gelegt. Die Strategie solle ein Dachdokument werden, aus dem sich andere Strategien ableiten ließen. In ihrer Grundsatzrede zur Nationalen Sicherheitsstrategie vor der DGAP am 12.09.2022 betont die Verteidigungsministerin, dass militärische Sicherheit als „ganz zentrale Aufgabe dieses Landes“ begriffen werden müsse. Sicherheit werde wieder zur „zentralen Staatsaufgabe, aus einem Guss, über die Ressortgrenzen hinweg“. Die Bundeswehr müsse „wieder als zentrale Instanz für unsere Daseinsvorsorge betrachtet“ werden. Für die Nationale Sicherheitsstrategie bedeute dieses: „Die Bundeswehr ist nicht nur als Haushaltsposten, sondern auch konzeptionell eine vorrangige Institution der Sicherheitsvorsorge. Und nicht etwa ein Nebenthema“. Die Nationale Sicherheitsstrategie müsse klar und glaubhaft beantworten, ob „Deutschlands Militär wirklich da sei, wenn es gebraucht werde. Sei Deutschland tatsächlich kampfbereit für den Schutz seiner NATO-Alliierten?“.

Nahezu zeitgleich weist ihrerseits die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Svenja Schulze in einem SPIEGEL-Interview darauf hin, dass „an der Nationalen Sicherheitsstrategie nicht nur Diplomaten und Militärs mitschreiben, sondern auch Entwicklungspolitikerinnen“. Eine starke Entwicklungspolitik, die Ungleichheit, Hunger und Armut als strukturelle Treiber von Konflikten angehe, sei auch im deutschen Sicherheitsinteresse. Zu einem breiten Sicherheitsbegriff gehörten heute auch stabile Gesellschaften, die Vermeidung von Pandemien, ein erträgliches Klima oder belastbare Lieferketten. Es gehe nicht nur um militärische Sicherheit, es gehe um menschliche Sicherheit. Der Zusammenhang von Entwicklungspolitik und Sicherheitspolitik wird auch auf der Website des Ministeriums nachdrücklich postuliert und ausgeführt: Entwicklungspolitik sei nachhaltige Sicherheitspolitik. Aussagen über die operative Involvierung des Ministeriums in einer künftigen Nationalen Sicherheitsstrategie finden sich jedoch auch hier nicht.

Auf seiner Website äußert sich das Bundesministerium des Inneren wie folgt: „Eine erstmalige und umfassende Nationale Sicherheitsstrategie hat die Bundesregierung bereits im Koalitionsvertrag verabredet. Im Frühjahr 2022 wurde im Auswärtigen Amt der Startschuss für den etwa einjährigen Entwicklungsprozess gegeben. Bei der Erstellung steht die Bundesregierung im Austausch mit dem Bundestag, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Think-Tanks, Verbänden, Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen sowie mit Verbündeten und Partnern. Mehr Informationen zum Beteiligungsprozess erhalten Sie auf der Seite des BMVg und des Auswärtigen Amtes“. Jeder kundige Leser erkennt: Mehr Distanz geht nicht. Kein Wort zur Partizipation des BMI in ressortübergreifenden Arbeitsgruppen, die letztlich ja unter der Federführung des Auswärtigen Amtes stehen würden. Mit Stand 15.11.2022, d.h. zeitgleich mit der Grundsatzrede der Ministerin vor der DGAP, figuriert die Nationale Sicherheitsstrategie dann als „Top-Thema“; die Frage der konkreten Involvierung der BMI wird jedoch erneut offen gelassen: In beiden Fällen folgen dann dezidierte Ausführungen zu den „Bedrohungen, die nach innenpolitischen Antworten verlangen“: Deshalb stehe die Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie ganz weit oben auf der innenpolitischen Agenda und damit auf der Agenda des BMI. Die Nationale Sicherheitsstrategie solle die Rolle Deutschlands für Frieden und Sicherheit in der Welt einordnen. Und auch die Bedrohungen der inneren Sicherheit, auf die es innenpolitische Antworten geben müsse, würden in dieser Strategie eine große Rolle spielen.

Alle anderen Websites der thematisch von einem umfassenden Sicherheitsbegriff betroffenen Ressorts, mithin des Bundesministeriums der Finanzen (BMF), des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) und des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) enthalten keine gesonderten Hinweise oder Ausführungen, in welcher Weise die dortigen sicherheitspolitisch relevanten Themen in die Nationale Sicherheitsstrategie eingebracht worden seien oder werden sollten.

Rolle des Bundeskanzleramts?

Auch das Bundeskanzleramt bleibt auf seiner Website in Bezug auf die Nationale Sicherheitsstrategie, immerhin ein Projekt von gesamtstaatlicher Bedeutung, stumm. Lediglich im Nachgang zur Regierungsklausur in Meseberg vom 31.08.2022 wird festgestellt, dass die Bundesregierung … einen integrierten Ansatz für die deutsche Sicherheitspolitik erarbeite, der alle Aspekte von Sicherheit in den Blick nehme. Es mag kein Zufall sein, dass alle öffentlichen Aussagen von BMVg, BMZ und zu guter Letzt auch BMI erst in den Wochen danach erfolgten.

Auch die Grundsatzrede von Bundeskanzler Scholz vor der Bundeswehrtagung am 16.09.2022 nimmt auf Meseberg ausdrücklich Bezug:“Zugleich geht dieses Verständnis von Sicherheit weit über das Aufgabenspektrum der Bundeswehr oder sogar die Aufgaben der klassischen Sicherheitsressorts hinaus. Wir müssen Sicherheit im 21. Jahrhundert viel umfassender denken. Deshalb wird die neue Nationale Sicherheitsstrategie einen integrierten Ansatz für unsere Sicherheitspolitik vorgeben und alle Akteure – staatliche und private – in die Pflicht nehmen, die dazu beitragen können.“

Darüber hinaus gehende Ansätze zur operativen administrativen Umsetzung dieser Maßgabe, etwa in einer hervorgehobenen ständigen Arbeitsgruppe aus den verschiedenen Abteilungen des Kanzleramtes zur Begleitung, ggf. auch Steuerung des Prozesses, sind dann allerdings auch in der Folge nirgends zu erkennen. Sachlich läge dies an sich nahe, da das Bundeskanzleramt ja erklärtermaßen die verschiedenen Dimensionen des Regierungshandelns in seinen Abteilungen widerspiegelt. Das Organigramm lässt mit seinen Abteilungen für

  • Innen- und Rechtspolitik (1),

  • Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik (2),

  • Sozial-, Gesundheits-, Arbeitsmarkt-, Umwelt und Gesellschaftspolitik (3),

  • Wirtschafts-, Finanz- und Klimapolitik (4),

  • Europapolitik (5),

  • Politische Planung, Grundsatzfragen und Gesellschaftlicher Dialog (6) und

  • Bundesnachrichtendienst, Koordination der Nachrichtendienste des Bundes (7)

diese Funktionalität auch deutlich erkennen. Wenn alle fachlichen Kernelemente des umfassenden Sicherheitsbegriffs in der Bundesregierung unter einem Dach angesiedelt sind, dann ist es das Bundeskanzleramt, das darüber hinaus ja eben auch das administrative Instrument des Bundeskanzlers zur Wahrnehmung seiner verfassungsmäßigen Richtlinienkompetenz bei der Bewältigung gesamtstaatlicher Aufgaben ist. Was aber wäre eine gesamtstaatliche Aufgabe, wenn nicht die angestrebte umfassende Nationale Sicherheitsstrategie, sowohl in ihrer ressortübergreifenden Erarbeitung und – wichtiger noch – Umsetzung?

Es bleibt mithin festzuhalten, dass mit der naheliegenden Ausnahme des federführenden Auswärtigen Amtes in der politischen Kommunikation der meisten „zuarbeitenden“ Ressorts wie auch des Bundeskanzleramtes selbst die Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie über die Monate hinweg kein herausgehobenes Profil hat gewinnen können, und dies ungeachtet einer besonderen Priorisierung als wesentlicher Teil der „Zeitenwende“. Dass nunmehr vor Weihnachten, nur wenige Wochen vor der angestrebten Kabinettsbefassung, eine Intervention seitens der Koalitionspartner SPD (Bundeskanzler) und FDP (Bundesfinanzminister) erfolgte, um das Verfahren aufgrund zahlreicher kontroverser Fragen aufzuhalten und nunmehr einem kurzfristig anberaumten gesonderten Klärungsprozess auf regierungs- und koalitionspolitischer Leitungsebene zu unterwerfen, verdeutlicht die systemischen Schwächen eines ressortspezifischen Ansatzes bei einem „whole of government approach“, der einer deutlich ausgeprägteren Sachleitung, zumindest aber Koordination in Anlehnung an die Richtlinenkompetenz des Bundeskanzlers nach Artikel 65 GG und der frühzeitigen Moderation zwischen den Koalitionspartnern bedarf. Je später Einvernehmen auf Arbeitsebene erzielt wird, desto größer das Risiko, dass Fehlentwicklungen bereits fortgeschritten, partei- und ressortpolitische Interessen fixiert sind und strittige Sachfragen zu „bargaining chips“ und entsprechend im Rahmen multilateralen Interessensausgleichs „verhandelt“ werden müssen. Sachgerechte Ergebnisse sind von einem solchen Prozess nicht notwendig zu erwarten.

Ressortübergreifende Gesprächsformate hat es bekanntlich auch im Fall der Nationalen Sicherheitsstrategie zwischen den Häusern gegeben, doch wirkt in eine solche rein interministerielle Runde in der Regel kaum die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers hinein. Nicht selten scheint im Laufe der Monate es eher den Ressorts überlassen zu werden, in welchem Maße, auf welcher Ebene und zu welchem Zeitpunkt sie sich im Interesse eines gemeinsamen Ergebnisses, das aber letztlich doch nur dem federführenden Ressort zugeschrieben wird, einbringen. Die Versuchung, das federführende Ressort „im Regen“ stehen zu lassen, ist hier erfahrungsgemäß hoch, insbesondere, wenn kein starkes und kontinuierliches Gestaltungsinteresse des Bundes-kanzlers zu erkennen ist. Diese missliche Situation hat bereits im Herbst 2022 offenbar zu re-signierenden Kommentaren auf Staatssekretärsebene geführt, man könne angesichts unter-schiedlicher konzeptioneller Ansätze eigentlich noch einmal von vorn anfangen.

Berücksichtigung der föderalen Strukturen?

Die Problematik wird im vorliegenden Fall noch durch den Umstand massiv verschärft, dass weite Bereiche von innerer Sicherheit, einschließlich Katastrophenschutz, Krisenvorsorge, Resilienz, Gesundheit, Cyber-, Verkehrs- und Versorgungssicherheit in der föderalen Struktur des Bundesrepublik zumindest teilweise wenn nicht vorwiegend Ländersache sind, so dass die betroffenen Ressorts, in Sonderheit das Bundesministerium des Inneren, die Fragestellungen nur in administrativen und politischen Bund-Länder-Formaten mit Aussicht auf Erfolg und damit praktische Relevanz behandeln können. Wie kann es da sein, dass die Bundesländer offenbar erst auf der Ministerpräsidentenkonferenz am 08. Dezember 2022, mithin nur wenige Wochen vor der intendierten Kabinettsbefassung ebenso öffentlich wie hochrangig ihre Mitwirkung anmahnen müssen und nun Mitte Januar zumindest einmal in Umrissen in Kenntnis gesetzt werden sollen? Wie soll auf dieser Grundlage in absehbarer Zeit operationalisierbares Einvernehmen über leistungsfähige aufbau- und ablauforganisatorische koordinative und sachleitende ressortübergreifende Strukturen auf Bund- und Länderebene erzielt werden? Wie kann es sein, dass im Nachgang zur Ministerpräsidentenkonferenz der Konflikt zwischen den Ampelkoalitionären öffentlich ausgetragen und mit dem Scheitern des Projekts im Fall weiterer Intransigenz des Koalitionspartners gedroht werden musste?

Wo und wie soll ressortübergreifend wirksam koordiniert werden?

Es ist bezeichnend, dass auch nach einem Jahr die Kernfrage eines gesamtstaatlichen organisatorischen Ansatzes zur Sicherstellung von Lagefeststellung, Lagebeurteilung, Entscheidungsfindung und -umsetzung in komplexen Risiko- oder Bedrohungslagen offenbar weiterhin umstritten ist. Nationale Sicherheitsstrategie und Nationale Entscheidungsgremien und -strukturen sind jedoch zwei Seiten derselben Medaille und gehören aufgrund ihrer ressortübergreifenden Funktion zum Kernbereich der Aufgaben des Bundeskanzleramtes, in dem Handeln auf Ressortebene bekanntlich gespiegelt wird. Form sollte hier der Funktion folgen, und an der fundamentalen Notwendigkeit bestandskräftiger, krisenfester, multidimensionaler und zugleich leistungsfähiger gesamtstaatlicher Entscheidungsstrukturen sollte angesichts der bitteren Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre eigentlich kein Zweifel mehr bestehen. Immerhin könnte die Forderung von Innenministerin Faeser nach einem „ständig verfügbaren Krisenko-ordinierungsstab der Bundesregierung, der künftig ressortübergreifend in Bedrohungslagen schnell aktiv werden können solle“, als eine Abkehr von der traditionellen Skepsis der SPD gegenüber einem „in Notlagen das Ressortprinzip ersetzenden“ Gremium verstanden werden, wenn damit nicht – zumindest in der herkömmlichen Perzeption aller Beteiligten – implizit eine Kompetenzzuweisung an das Innenministerium intendiert wäre, die so natürlich wieder auf die ressort- und parteipolitischen Abwehrreflexe stoßen dürfte.

Frühzeitige grundsätzliche konkrete gemeinsame Festlegungen sind jedoch hier umso wichtiger, als angesichts der Breite und Komplexität der sicherheitspolitisch relevanten staatlichen Handlungsfelder noch ganz erhebliche finanzielle, organisatorische und regulatorische Anstrengungen mit entsprechenden zeitlichen Implikationen in der ressortübergreifenden praktischen Umsetzung der angestrebten Sicherheitsstrategie anstehen werden. Die sich nunmehr auch in der Ampel abzeichnende budgetäre Kontroverse zum Erweiterungsbau des Bundeskanzleramts mit all den hiermit verbundenen zeitlichen und operativen Konsequenzen sollte noch einmal beispielhaft die Dimensionen erkennen lassen, die sich aus einer Nationalen Sicherheitsstrategie ergeben. Auch der mit Sicherheit begrüßenswerte Ansatz zur Etablierung eines „Datenlabors“ im Bundeskanzleramt und einer von dort aus zu koordinierenden interministeriellen „Arbeitsgruppe Datenlabore mit allen Chief Data Officers der Bundesregierung“, unter anderem mit dem Ziel der „Entwicklung datenbasierter Lösungen und Analysen“ zur „Unterstützung der Entscheidungsprozesse im Bundeskanzleramt“ auch „im Kontext von Krisen“ wird an der Notwendigkeit einer möglichen IT-Lösungen zwingend vorgelagerten klaren aufbau- und ablauforganisatorischen Regelung von ressortübergreifenden Lagefeststellungs-, Lagebeurteilungs- und Entscheidungsprozessen nichts ändern.

Ein „whole of government approach“ wird daran zu messen sein, ob und in welchem Umfang er robuste, konsistent organisierte gesamtstaatliche Handlungsfähigkeit und Zielorientierung im Zeichen der neuen Herausforderungen einer „globalen Zeitenwende“ sicherstellen kann. Mit lockeren, koordinativen Formaten zwischen Ressorts und Koalitionspartnern wird es hier nicht getan sein.

Für den Vorstand

Dr. Gerhard Conrad

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