Des einen Freud, des anderen Leid
Anmerkungen zum mutmaßlichen Landesverrat eines BND-Mitarbeiters
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Dr. Gerhard Conrad
Der Fall des am 22.12.2022 unter dem Vorwurf des Landesverrats nach § 94 StGB verhafteten und am Folgetag in Untersuchungshaft genommenen BND-Mitarbeiters hat schlaglichtartig Ausmaß und Intensität russischer Spionage in Deutschland ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Bedrohungslage ist allerdings nicht neu. Sie besteht seit Jahren und ist insbesondere nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 immer wieder von zuständiger Seite betont worden.
In Zeiten der politischen und insbesondere militärischen Konfrontation hat Informationsbeschaffung mit nachrichtendienstlichen Mitteln, also Spionage, für alle involvierten Seiten eine herausragende Bedeutung. Mehr denn je gilt es in einer solchen Situation, die Potentiale, Absichten und Aktivitäten der jeweiligen Gegenseite rechtzeitig zu erkennen und zutreffend zu bewerten. Die bisher bekannt gewordenen Ausspähungsbemühungen in Europa deuten darauf hin, dass russische Dienste hier in den vergangenen Monaten erhebliche Anstrengungen unternommen haben. Insoweit reiht sich der aktuelle Fall in das Umfeld des Ukraine Konflikts ein.
Aus der Sicht Moskaus ist auch die Bundesrepublik Deutschland als Akteur und als Schauplatz westlicher Aktivitäten von erheblicher Relevanz. Insoweit darf ein solcher Fall grundsätzlich nicht überraschen. Die Anwerbung eines relevanten Informationsgebers in den Reihen eines als gegnerisch perzipierten Nachrichtendienstes ist Hochziel für alle Dienste. Der zugrundeliegende Antagonismus zwischen den Parteien führt dann meist zu selektiver Perzeption: Eigene Erfolge, je eindrucksvoller desto besser, werden mit Wohlgefallen zur Kenntnis genommen, sofern sie eben bekannt werden. Es sei hier nur an die Wertschätzung westlicher und ukrainischer „Informationsüberlegenheit“ im Konflikt erinnert, zu der sowohl technische Mittel der Gefechtsfeldaufklärung eingesetzt werden als grundsätzlich auch – wenn möglich – die Penetration gegnerischer Planungs- und Entscheidungsstrukturen. Gleiches gilt – mutatis mutandis – eben auch für die gegnerische Seite und ist damit unvermeidlicher Teil und Ausdruck der zugrundeliegenden Konfrontation und des seiner Natur nach wechselhaften „Kriegsglücks“. „C’est la guerre“, würde der Franzose hier pragmatisch resignierend kommentieren. Es besteht mithin kein Anlass, den aktuellen Fall politisch als etwas „Unerhörtes“ hochzustilisieren. Er ist sachlogisch Element und Ausdruck der gegenwärtigen gefährlichen militärischen, macht- und ordnungspolitischen Konfrontation, die in ihren Konsequenzen im Rahmen der vielbeschworenen, auch mentalen Zeitenwende auch in der öffentlichen Wahrnehmung nicht verdrängt werden sollte.
Auf professioneller Ebene ist die erfolgreiche gegnerische Anwerbung einer Innenquelle stets eine massive Herausforderung für den betroffenen Dienst, der es zunächst mit raschem, umsichtigem und konsequentem Handeln sowohl dienstintern als auch im Zusammenwirken mit potentiell betroffenen Partnern und Verbündeten im Rahmen möglichst umfassender Schadenbegrenzung entgegenzuwirken gilt. Die bisherigen öffentlichen Einlassungen der BND-Leitung deuten darauf hin, dass dieser Prozess zu einem sehr frühen Zeitpunkt, d.h. bereits vor Wochen, wenn nicht Monaten nach Erfassung und Bewertung der ersten Verdachtsmomente, eingeleitet worden ist. Die Festnahme des Mitarbeiters markiert hier nur eine erste öffentlich bekannt gewordene Zäsur in einer anhaltenden nachrichtendienstlichen Schadensbegrenzung und Einhegung von Weiterungen in personeller und materieller Sicherheit.
Entscheidend für die fachliche Bewertung des Falls und seiner daraus resultierenden operativen wie politischen Bedeutung wird nunmehr die möglichst genaue Sachverhaltsermittlung sein müssen, insbesondere in Bezug auf den Beginn, den konkreten inhaltlichen Umfang und die Qualität der tatsächlichen Informationsweitergabe. Der Vorwurf der Weitergabe eines Staatsgeheimnisses im Sinne des § 93 StGB deutet auf hoch eingestuftes Material von erheblicher Bedeutung für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland hin. Die in den Medien verbreiteten ersten Details zur Zugehörigkeit des mutmaßlichen Täters zum Bereich der technischen Aufklärung würden diese Einordnung des strafwürdigen Verhaltens unterstützen. Erneut wird es jedoch hier auf die tatsächlichen konkreten Inhalte der unzulässigen Weitergabe und nicht um ein allgemein aus Zugehörigkeit und Funktion ableitbares, gegebenenfalls jedoch (noch) nicht realisiertes Schädigungspotential ankommen, um eine fundierte Bewertung des eingetretenen Schadens vornehmen zu können. Voreilige „Weltuntergangsszenarien“ im Sinne eines „Debakels“ oder „Desasters“ verbieten sich hier allein schon angesichts des aus Sicherheitsgründen notwendigen aktuellen Informationsdefizits der Öffentlichkeit ebenso wie im Interesse eines politisch verantwortungsvollen Umgangs mit dem Sachverhalt.
In diesem Zusammenhang ist auch von erheblichem Belang, ob es sich bei dem Beschuldigten um einen Einzeltäter handelt, ob er auf Unterstützung in seinem Arbeitsumfeld hat zurückgreifen oder unzureichende Sicherheitsvorkehrungen hat ausnutzen können. Die bisherigen öffentlichen Ausführungen deuten darauf hin, dass Anzeichen für eine unzulässige Informationsweitergaben offenbar recht frühzeitig erkannt worden sind und – wohl nach Maßgabe operativ-sicherheitlicher Rahmenbedingungen – zu entsprechenden ersten Maßnahmen geführt haben. Auch in einem solchen, positiv zu bewertenden Fall, bleibt im Rahmen der Aufarbeitung und Nachbereitung immer noch zu prüfen, ob es eventuell frühere Indizien im Verhalten oder in den bekannten Lebensumständen des Beschuldigten gegeben hat, die die Besorgnis gravierender Loyalitätsdefizite hätte auslösen müssen. Hier handelt es sich um eines der besonders heiklen, nicht nur in der Literatur der Intelligence Studies diskutierten Probleme in der Fallkonstellation eines Innentäters, bei der es stets um das Verhältnis zwischen Vertrauen als notwendiger Basis von Zusammenarbeit und der erforderlichen Achtsamkeit von Vorgesetzten und Kollegen geht, die ihrerseits allein schon im Interesse der eigenen Handlungsfähigkeit nicht in institutionelles Misstrauen und eine Unkultur der gegenseitigen Verdächtigungen und Intrigen degenerieren darf.
In gleicher Weise bedeutsam wird in diesem Kontext auch ein vertieftes Verständnis der Motivationslage des mutmaßlichen Täters, gegebenenfalls auch möglicher weiterer, Beihilfe leistender Personen, sein: Es macht einen gravierenden Unterschied, ob ein Angehöriger des Dienstes aufgrund einer spezifischen, vom gegnerischen Nachrichtendienst dann offenbar erkannten und ausgenutzten persönlichen realen oder psychosozialen Situation aus seinen Loyalitätsbeziehungen „herausgeführt“ oder gar, z.B. über ein Kompromat „herausgebrochen“ worden ist, oder ob sich der Betroffene aus eigenem Antrieb, eigener politischer Überzeugung, persönlicher frustrationsbedingter Abwendung vom Dienst oder einer persönlichen, dann meist materiellen Notlage, zu einem Verrat, eventuell in der Rolle eines „Selbstanbieters“ bereitgefunden hat. Die Übertragung meist über Jahre hinweg aufgebauter und praktizierter interner Loyalitätsbindungen auf einen Außenstehenden ist in der Regel kein trivialer und nur selten ein spontaner psychologischer Prozess. In diesem Zusammenhang wird daher auch die Feststellung relevant werden, wie konkret ein relevanter Kontakt zwischen mutmaßlichem Täter und dem in Frage stehenden russischen Dienst überhaupt zustande gekommen und danach ausgestaltet worden ist. Schließlich steht am Anfang einer solchen Operation stets das „Targeting“, mithin die Ermittlung eines geeigneten nachrichtendienstlichen Ziels. Der Mitarbeiter muss erst einmal in die „Optik“ des betreffenden Dienstes geraten sein, sei es durch frühere direkte Exposition im Rahmen möglicher Fachkontakte, sei es durch eine Kette von Hinweisen die aus dem privaten oder dienstlichen Umfeld des Beschuldigten hin zu einer relevanten Stelle im russischen Dienst geführt haben würde. Dann erst könnte sachlogisch eine mögliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit exploriert und anschließend genutzt worden sein. Der Verratsfall an sich, die unzulässige Weitergabe geheimer Informationen, hat so in der Regel eine „Vorgeschichte“, deren Dauer, Charakter und Verlauf wesentlich für die operative und politische Bewertung der Tat sind.
Erst die Beantwortung all dieser Fragestellungen wird es erlauben, den aktuellen Fall zutreffend in seiner nachrichtendienstlichen, sicherheitlichen und politischen Bedeutung zu beurteilen. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht hier sachlogisch vom individuellen, quasi spontanen „Fehltritt“ von kurzer Dauer bis hin zu einer gefährlichen strukturellen Verratsstruktur mit weit-reichenden Konsequenzen für zumindest Teile des Dienstes. Mehr denn je gilt es hier daher zwingend, von voreiligen öffentlichen Bewertungen auf notwendig völlig unzureichender Informationsgrundlage Abstand zu nehmen.
Erst im Lichte dieser Erkenntnisse werden dann auch intern die in einem solchen Fall essentiellen Führungsaufgaben innerhalb des Dienstes zu definieren und zu leisten sein: In jeder Organisation, und insbesondere in einem Nachrichtendienst, dessen Leistungsfähigkeit und Resilienz wesentlich von innerer Kohärenz, Loyalität gegenüber dem Auftrag wie der Kollegenschaft und institutionellem wie personellem Vertrauen getragen wird, stellt ein Verratsfall – je nach Schwere und sachlichen Konsequenzen – eine potentiell schwerwiegende Erschütterung dar. Dieser gilt es, intern durch frühzeitige größtmögliche Transparenz in der Information und Bewertung sowie durch „vertrauensbildende Maßnahmen“ entgegenzuwirken. Vorbildhaftes Verhalten auf allen Führungsebenen in der Vermittlung der notwendigen Konsequenzen, zugleich aber auch Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit in der Aufrechterhaltung wie Einforderung von gegenseitiger Wertschätzung und Vertrauen, werden hier in besonderem Maße anzustreben sein, um einer möglichen Vergiftung der Atmosphäre entgegenzuwirken.
In gleicher Weise wird es auf politischer und medialer Ebene darauf ankommen, den Fall betont sachbezogen und in angemessener Wahrung des Ansehens der Behörde zu behandeln: Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in einer gefährlichen sicherheitspolitischen Konfliktlage, in der Sachlichkeit und Maß gerade gegenüber den im Fokus stehenden Diensten und ihren Angehörigen nicht nur ein Gebot von Fairness sondern in besonderem Maße auch von Staatskunst ist.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad