„Strategische Überraschung“ und die neue Sicherheitsarchitektur des Bundes
Mögliche Lehren aus der Forschung zur „Strategischen Überraschung“ für eine Reform der deutschen Sicherheitsarchitektur
Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen
Prof. Dr. Christoph Meyer & Dr. Daniel Neumann, King’s College London
Die neue Bundesregierung ist am 06. Mai vereidigt worden. Die Umsetzung der Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag vom 10.04.2025 zur Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats und eines Nationalen Krisenreaktionszentrums im Bundeskanzleramt steht nunmehr unter der Federführung des Kanzlerbüros an.
Für die Funktionsfähigkeit der angestrebten ressortübergreifenden Entscheidungsstrukturen wird es nunmehr wesentlich darauf ankommen, eine ebenfalls ressortübergreifende Lagekompetenz zu entwickeln, auf deren Ergebnisse ein Sicherheitsrat als Kabinettsausschuss zeitnah und zuverlässig zurückgreifen kann. Dies gilt sowohl für die langfristig angelegten Prozesse der strategischen Planung als auch für die kurzfristigen, reaktiven wie präventiven Maßnahmen, die im Rahmen von Krisenvorsorge und dynamischem Krisenmanagement erforderlich sind.
In den vergangenen Jahren hat der GKND hierzu mehrfach unter dem Aspekt der nachrichten dienstlichen Unterstützung ressortübergreifender Lagefeststellungs- und Analysestrukturen unter dem Aspekt ihrer Voraussetzungen und Rahmenbedingungen Stellung genommen. Eine erneute Befassung mit der Thematik unter Beiziehung von Erkenntnissen aus der internationalen Intelligence-Forschung soll daher im Sinne der Satzung des GKND einen weiteren Beitrag zu den nun anstehenden Planungsprozessen leisten.
Mit Prof. Dr. Christoph Meyer, Lehrstuhlinhaber für Europäische und internationale Politik am King’s College London, und Dr. Daniel Neumann, beide Mitglieder des King’s Centre for the Study of Intelligence, haben prominente Vertreter ihres Fachs für eine wissenschaftliche Begleitung dieses Prozesses gewonnen werden können. Professor Meyer ist bereits seit Jahren mit umfänglichen, interdisziplinären Forschungen zu „strategic intelligence“ und „early warning“ in politischen Entscheidungsprozessen verschiedener Staaten wie auch der Europäischen Union hervorgetreten und in dieser Eigenschaft auch in der Enquête-Kommission des Bundestages zum Afghanistan-Einsatz zur Rate gezogen worden. Dr. Daniel Neumann hat kürzlich am King’s College London über die nachrichtendienstliche Unterstützung der EU-Institutionen durch die Mitgliedsstaaten promoviert, und dort auch zu den Intelligence Studies gelehrt.
Ihr hier als GKND-Hintergrundinformation zur Verfügung gestelltes erstes „Lessons Learned“-Papier soll eine Reihe weiterer Stellungnahmen und Veranstaltungen in den kommenden Monaten einleiten, mit denen der GKND im Zusammenwirken mit King’s College Impulse für die Diskussion der neuen Sicherheitsarchitektur geben möchte.
Kernaussagen und Schlussfolgerungen der Studie:
Wesentliche, immer wiederkehrende Ursachen für fehlerhafte Lageanalysen und Entscheidungsprozesse werden identifiziert:
Übermäßiger Einfluss von Wunschdenken, vor allem auf leitender Ebene
Fehlendes Interesse, Wissen, und Bewusstsein über den guten Umgang mit Intelligence bei Entscheidungsträgern, Parlament und Öffentlichkeit
Unzureichende Integration von Informationen und Analyse über Ressortgrenzen hinweg
Unzureichende Kommunikation zwischen Nachrichtendiensten, Entscheidern und
Parlament
Fehlendes oder unzureichendes Lernen
Folgende Empfehlungen für einen zukunftsorientierten Umbau der Sicherheitsarchitektur werden ausgesprochen und erläutert:
Regelmäßige Erstellung einer nationalen Sicherheitsstrategie
Schaffung eines Nationalen Direktors für das Nachrichtendienstwesen
Institutionalisierung behördlicher und interministerieller Zusammenarbeit
Stärkung des Austauschs zwischen Entscheidern und Intelligence-Produzenten
Mehr problembezogenes, professionelles und unabhängiges Lernen durch Parlamentsausschüsse und unabhängige Expertengruppen
Schaffung einer gemeinsamen Lern- und Streitkultur mit EU-Mitgliedstaaten
Reform der Kontrolle von Nachrichtendiensten zur Stärkung politischer Aufsicht
Förderung unabhängiger Forschung und Bildung
Eine vertiefte Befassung mit den Inhalten dieser Studie in verschiedenen, den anstehenden Planungs- und Entscheidungsprozess begleitenden Formaten empfiehlt sich aus Sicht des GKND uneingeschränkt. So wird hierzu am 19.06.2025 ein Berliner Treffen mit Professor Meyer anbieten, an dem auch ehemalige hochrangige Intelligence-Vertreter aus EU und NATO ihre Expertise einbringen werden. Diskutiert werden Einzelaspekte des Themas in kleiner Runde auch am 16.06.25 im Rahmen des Kongresses „Wehrhafte Demokratie“ und voraussichtlich ebenfalls im Rahmen einer GKND-Konferenz zur „Zeitenwende für die Nachrichtendienste“ in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Zentrale für Politische Bildung Anfang August 2025.
Weitere Gelegenheiten zur thematischen Vertiefung und Ausdifferenzierung, auch unter den Auspizien von Bundesregierung, Bundestag und Parteien, wären im Jahresverlauf im Interesse einer Entwicklung unter optimalen Rahmenbedingungen sehr zu begrüßen.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad