Strategic Intelligence und ihre Rolle in politischen und militärischen Entscheidungsprozessen

Ein Vortrag von Professor Dr. Christoph Meyer


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Prof. Dr. Christoph Meyer, King’s College London

Zum 12. Dezember 2024 konnte Professor Dr. Christoph Meyer (christoph.meyer@kcl.ac.uk) auf Einladung des GKND und der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) für einen Vortrag zum Thema „Strategic Intelligence und ihre Rolle in politischen und militärischen Entscheidungsprozessen“ gewonnen werden.

Vor dem Hintergrund der spätestens nach dem überstürzten Abzug der westlichen Kräfte aus Afghanistan auch in Deutschland anhaltenden Diskussion über die organisatorischen und strukturellen Konsequenzen, die aus vermeidbaren wie unvermeidbaren strategischen wie taktischen Überraschungen zu ziehen seien, war dieses Thema von besonderer Aktualität. Sowohl der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zu Afghanistan als auch die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zum Afghanistan-Engagement insgesamt werden in Kürze ihre Abschlussberichte vorlegen. Der Schock des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vom 24.02.2022 sitzt ebenso tief wie die jähen Überraschungen des präzedenzlosen Überfalls von Hamas auf Israel vom 23. Oktober 2023, des spektakulären Zusammenbruchs von Bashar al-Asad’s Regime in Syrien vom 09.12.2024, aber auch des schrecklichen Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg vom 20.12.2024, gefolgt von einem IS inspirierten Terrorakt in New Orleans in der Silvesternacht 2024/2025. In all diesen wie vergleichbaren Fällen stellen sich immer wieder die gleichen quälenden Fragen nach der möglichen Vermeidbarkeit durch besseres und präziseres Vorwissen, das zu rechtzeitigen Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen füh-ren könnte.

Die politikwissenschaftliche Forschung hat sich dieser Thematik bereits seit geraumer Zeit angenommen und sich hierbei der Frage nach der Rolle und Bedeutung von Strategic Intelligence als Element im Entscheidungsprozess in besonderer Weise gewidmet.

Mit Christoph Meyer konnte ein international besonders ausgewiesener Forscher und Experte für einen Vortrag zu dieser Thematik gewonnen werden.

Professor Meyer ist seit 2012 Professor für Europäische und internationale Politik am King’s College London und seit 2020 gewählter Fellow der britischen Akademie für Sozialwissenschaften. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt er sich in Zusammenarbeit mit internationalen Forschern, mit Fragen der Vorausschau, Warnung, Prävention und Lernen nach Überraschungen, Krisen und Fehlern in der Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere in Europa.

Neben vielfältigen Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften stehen hier insbesondere zwei grundlegende Sammelwerke im Vordergrund:

  • Warning about War: Conflict, Persuasion and Foreign Policy, das 2021 den “best book award der International Studies Association” gewann, und

  • Estimative Intelligence in European Foreign Policymaking: Learning Lessons from an Era of Surprise (Edinburgh University Press, 2022).

Als Sachverständiger zum Thema Fehlerkultur beriet er 2022 die Afghanistan-Enquête-Kom-mission des Deutschen Bundestags. Seit 2019 ist er Autor von Analysen für den Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlaments.

Der aktuelle Vortrag vor GKND und DGAP basiert auf dieser Forschung und kommt zu folgenden Kernaussagen:

  • Strategic Intelligence ist nur dann erfolgreich, wenn durch sie die Chance für vorausschauende und effektive Außen- und Sicherheitspolitik deutlich verbessert wird. Das gilt insbesondere für die Fälle und Bedrohungen, die den Akteuren wichtig sind.

  • Sie sollte daher nicht nur warnen sondern auch positive Folgen, Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten ausloten.

  • Strategic Intelligence muss sich daher in ihrem Mittel- und Methodenansatz darauf fokussieren, gute Vorhersagen zu liefern, wenn es wirklich zählt, und wenn möglicher-weise bedeutsame Veränderungen anstehen.

  • Die Leistungsfähigkeit und Relevanz von Strategic Intelligence hängt stets von der politischen Priorisierung bestimmter Bedrohungen, Länder oder Regionen ab, die ihrerseits Ressourcen und Aufmerksamkeitsspannen der Abnehmer bedingen. Diese Priorisierung muss allerdings nicht notwendig den Realitäten entsprechen.

  • Strategic Intelligence wird nicht wahrgenommen, abgelehnt oder als nicht relevant erachtet wenn ihren möglicherweise unbequemen Vorhersagen und Szenarien kognitionspsychologische, bürokratische, kulturelle und politische Widerstände entgegenstehen. Diesen gilt es dann, im Informationsprozess wo immer möglich Rechnung zu tragen.

  • Komplexe Entscheidungsprozesse finden häufig vor dem Hintergrund einer Kakophonie verschiedener „Hauslagen“ statt, also innerhalb eines Ressorts erarbeiteter Perzeptionen und Bewertungen, aus denen sich Entscheidungsträger das für sie jeweils Überzeugendste oder politisch Gewünschte heraussuchen.

  • Eine derartige Fragmentierung der Entscheidungsgrundlagen muss aufbau- und ablauf-organisatorisch in einem möglichst frühen Stadium überwunden werden.


Mit freundlichem Einverständnis des Autors stellt der GKND nachfolgend eine leicht gestraffte Version des Vortrags zur weiteren Kenntnisnahme und Rezeption zur Verfügung:

Angesichts der geschilderten Problematik stellt sich die Frage, ob eine Stärkung von Strategic Intelligence dazu beitragen kann, das gegenwärtige und zukünftige sicherheitspolitische Umfeld und das Verhalten und den Einfluss von Akteuren besser zu verstehen und auf dieser Grundlage zu sach- und zeitgerechteren Entscheidungen zu gelangen.

Dieser Themenkomplex soll über drei Leitfragen erschlossen werden:

  1. Was sind legitime und realistische Erwartungen an Strategic Intelligence?

  2. Was wissen wir empirisch über die Stärken und Schwächen von Strategic Intelligence?

  3. Was kann und sollte getan werden, damit Strategic Intelligence besser und mehr genutzt wird?

1. Unterschiedliche Erwartungen an Strategic Intelligence

Strategic Intelligence nutzt verschiedene Methoden und Ansätze, je nach Fragestellung und Zeithorizont der Entscheidungen selbst. Dazu gehört probabilistische Vorausschau – auch solche über wenige Wochen und Monate. Auf der anderen Seite geht es um die langfristige Auslotung von Möglichkeitsräumen über Jahre oder Jahrzehnte, etwa in der Erneuerung oder Beschaffung militärischer Fähigkeiten. Zu den klassischen Produkten gehören hier das traditionelle National Intelligence Estimate der USA, oder auch die 2021 neu eingeführte 360 Grad Bedrohungsanalyse der EU für den Strategischen Kompass. Aber auch einzelne Ministerien und Dienste produzieren ihre eigene Lagefeststellung und Vorausschau wie etwa das Verteidigungsministerium. Selbst Botschaftsberichte sind wichtige Bausteine für Strategic Intelligence, wenn sie Ereignisse von strategischer Bedeutung antizipieren.

Die Gründe, warum Staaten Strategic Intelligence selbst produzieren oder in Auftrag geben, sind ebenso simpel wie ambitioniert: Wachsende Bedrohungen und Risiken sollen frühzeitig genug erkannt werden, damit sie entweder abgewehrt, abgeschreckt, vermieden oder zumindest abgeschwächt, verzögert oder in ihren Folgen gemildert werden. Ziele sind im engeren Sinn die Abwehr kinetischer Angriffe oder die Sicherung des Überlebens des Staates und seiner Bürger. Im weiteren Sinn geht es um den Erhalt der Wohlstandsgrundlagen, um die Vermeidung der Erpressbarkeit durch andere Akteure, oder um die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Strategisches Ziel kann auch sein, die regionale und globale Ordnung, Regeln, Werte und Normen im eigenen Sinne zu fördern. Im besten Fall bietet Strategic Intelligence Entscheidungsträgern einen Wissens- und damit Entscheidungsvorteil gegenüber konkurrierenden und möglicherweise feindlich gesonnen Akteuren und Interessen.

Forscher wie Praktiker haben unterschiedliche und unterschiedlich hohe Erwartungen und Bewertungsmaßstäbe an Strategic Intelligence und deren Einfluss auf Entscheidungsprozesse. Die Schule des US-Vordenkers der Intelligence Studies, Sherman Kent (1903-1986), glaubt an die Faktenbasiertheit und Wissenschaftlichkeit von Strategic Intelligence. Um diese Wahrheitsproduktion gegenüber politischer Macht zu kultivieren, bedürfe es einer strikten Trennung von Analysten und politische Handelnden. Zwar wird nicht angenommen, dass Entscheidungsträger immer auf diese Erkenntnisse hörten, aber es gibt die klare normative Erwartung, dass sie es tun sollten.

Um Sherman Kent zu zitieren:

“The job of intelligence analysis is to see that the doers are generally well-informed; its job is to stand behind them with the book opened at the right page, to call their attention to the stubborn fact they may be neglecting”.

Gezeichnet wird hier also das Bild eines Lehrers mit klarem Wissensvorteil, der erwartet, gehört und akzeptiert werden. Kent’s Lehrer muss nicht versuchen, den Schüler zu verstehen, sich an dessen Wissenstand oder Lernstil anzupassen, oder gar besondere Erklär- und Überzeugungs-versuche zu unternehmen.

Zum besseren Verständnis des Verhältnisses von Intelligence-Produzenten gegenüber Entscheidern bietet eine Foresight-Expertin die idealtypische Unterscheidung des gemeinsamen Kochens gegenüber dem Restaurantbesuch an. Beim Kochen arbeiteten Analysten und Nutzer zusammen mit dem gemeinsamen Ziel besserer Entscheidungen. Dies allerdings widerspreche der klaren Trennung von Analyse und Entscheidung und sei in der Realität oft schwierig umzusetzen. Strategic Intelligence folge daher eher dem Restaurant-Besuch Prinzip. Der Kunde bestelle, der Koch liefere idealerweise das Gewünschte. Das Problem sei allerdings, dass der Kunde nicht genau wissen könne, was er wolle und dass man ihm manchmal etwas geben müsse, was er brauche, aber eigentlich nicht wolle.

Stellen Sie sich ein kleines familiär geführtes italienisches Restaurant vor, das kein umfangreiches Menü zur Auswahl hat. Der Kunde bekommt von der Köchin bei den regelmäßigen Besuchen jedes Mal etwas anderes, vielleicht auch komplett Neues vorgesetzt. Der Kunde vertraut darauf, dass die Köchin ihn ein bisschen wie einen Teil der Familie betrachtet, ihn und seine Bedürfnisse gut kennt und nur sein Bestes will. Er weiß, dass es ihm schmecken wird, und er wird alles auf dem Teller essen, auch wenn es ungewohnt aussieht und vielleicht seltsam schmeckt. Warum? Weil er neugierig ist, weil er weiß, dass alle Teile des Gerichtes zusammengehören, und weil er darauf vertraut, dass es gesund für ihn ist.

Bei genauerer Betrachtung beruht dieser Idealtypus von Strategic Intelligence auf folgenden Annahmen:

  1. Die Produzenten haben Zugang zu besseren Informationen, Expertise und Analyse-Methoden als andere alternative Quellen des Entscheidungsträgers. Sie sind nachweislich korrekter in ihren Vorhersagen oder kreativer in der Identifizierung plausibler und relevanter Szenarios als andere vom Entscheider genutzte Quellen.

  2. Es gibt eine einzige autoritative Lagefeststellung und Vorhersage seitens der Nachrichtendienste und Ministerien für Bedarfsträger - statt viele verschiedene möglicherweise konkurrierende Vorhersagen, aus denen sich Entscheidungsträger eine aussuchen können.

  3. Strategic Intelligence wird auf eine Weise kommuniziert, die von Entscheidungsträgern nicht nur wahrgenommen, sondern auch verstanden wird.

  4. Entscheidungsträger vertrauen darauf, dass Wissenserzeuger vollkommen objektiv sind und sie in keiner Weise politisch manipulieren wollen. Sie können scharf unterscheiden zwischen Lagefeststellung, Lagebeurteilung und politischem Handeln.

  5. Entscheidungsträger akzeptieren Analyse und Schlussfolgerung der Experten anstatt sie zu duplizieren und zu revidieren im Glauben, dass sie

    a) mehr wissen als die Produzenten oder

    b) ein besseres Urteilsvermögen haben.

Viele dieser Voraussetzungen sind allerdings in der Realität meist nicht gegeben und auch kaum zu generieren. Einige Autoren plädieren deshalb dafür, die Erwartungen über den Einfluss von strategischer Vorausschau auf Entscheidungsträger stark herunterzuschrauben oder gar ganz fallen zu lassen. Sie argumentieren, dass Überraschungen unvermeidlich und ihrer Natur nach unvorhersehbar seien. Sie seien strukturell im Wesen der kompetitiven und komplexen internationalen Politik angelegt. Statt zu fragen, ob Analysten mit Vorhersagen richtig gelegen hätten, geht es für die sogenannte orthodoxe Schule um andere, enger gefasste Fragen:

  1. Seien mit den vorhandenen Ressourcen und Prioritätensetzungen relevante und belastbare Informationen gewonnen worden?

  2. Seien die richtigen handwerklichen Methoden genutzt und den Umständen entsprechend möglichst korrekte Analysen angefertigt worden?

  3. Seien die Analysen zeitnah an Entscheider kommuniziert worden?

Ob und wie Entscheidungsträger dann diese handwerklich gut hergestellten Erkenntnisse nutzten, sei dagegen eine Frage, die nicht in die originäre Verantwortung der Analysten falle.

Mein Vorschlag ist stattdessen, sowohl realistischer als auch ambitionierter in den Erwartungen zu sein:

Gutes Handwerk in der Analyse allein reicht nicht. Strategic Intelligence ist nur dann erfolgreich, wenn hierdurch die Chance für vorrauschauende und deshalb effektive Außen- und Sicherheitspolitik deutlich verbessert wird. Das gilt insbesondere in den Fällen und Bedrohungen, die wirklich zählen und den Akteuren wichtig sind. Das heißt nicht, dass alle Ereignisse, vor allem ihr Timing, ihre Dynamik und ihr Ausmaß vorauszusehen sind. Sie sollten aber zumindest grundlegende strukturelle Veränderungen aufzeigen, wichtige handlungsleitende Annahmen regelmäßig überprüfen und versuchen, gute Fragen zu stellen. Strategic Intelligence hat eine Bringschuld, nämlich einen positiven Unterschied für politisches Denken und Handeln zu machen.

Gleichzeitig gibt es eine Holschuld des Empfängers. Strategic Intelligence hängt von guter Priorisierung zwischen Anforderungen ab, von der Bereitstellung adäquater Ressourcen zur Auftragserfüllung, von Ermutigung zur analytischen Unbequemlichkeit. Es hängt vom guten Zusammenspiel von Experten, Analysten, Politikplanern, politischen Beratern und Entscheidern ab. Es hängt von funktionierenden Strukturen und Kompetenzen zur Bündelung und Verarbeitung von Analysen ab. Wir sollten über Strategic Intelligence nicht losgelöst von der Außen- und Sicherheitspolitik selbst sprechen. Mit diesem Ansatz verringert man auch die Gefahr unproduktiver „Blame-Games“ nach negativen Überraschungen, etwa in dem Stil: „Ihr habt uns nicht, nicht deutlich genug oder nicht rechtzeitig gewarnt, oder habt das Falsche vorhergesagt.“ Und im Gegenzug: „Ihr habt uns nicht hören wollen, habt Euch von Wunschdenken leiten lassen und wart schlicht nicht willens oder fähig zum frühzeitigen und entschiedenen Handeln“.

Die Forschung – unsere eigene als auch die von Kollegen – kann durchaus die tatsächlichen Defizite und Leistung von Strategic Intelligence sowie ihre Ursachen aufzeigen.

2. Was wissen wir über den Erfolg und Scheitern von Strategic Intelligence?

Viele der Forschungsergebnisse zur Strategic Intelligence basieren auf Fällen aus den USA. Stephen Marrin kommt hier zu dem eher ernüchternden Ergebnis, dass viele US Intelligence Estimates im Nachhinein nicht unbedingt korrekter waren als die Einschätzungen von Politikern selbst oder diese nur duplizierten und bestätigten. Und in den Fällen in denen sie sich im Nachhinein als korrekt herausstellten – wie etwa die Prognose des Bürgerkriegs in Jugoslawien oder der negativen Konsequenzen der Invasion in Irak 2003 hätten Sie keinen Einfluss auf das politische Handeln gehabt.

Wir wissen leider immer noch zu wenig, ob solche Erkenntnisse auf Europa, die EU speziell aber auch Deutschland übertragbar sind. Es gab zu wenige Untersuchungen mit umfassender Akteneinsicht und systematischer Befragung von Zeugen. Ausnahmen sind Großbritannien mit den Franks, Butler und Chilcot inquiries. Immerhin wurde in Deutschland mit der Enquête-Kommission des Bundestages zum militärischen und politischen Engagement in Afghanistan und dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Afghanistan-Evakuierung Neuland beschritten, auch wenn man die in Kürze anstehenden Abschluss-Berichte abwarten muss. Die Wissenschaft ist bisher für Analyse von Ereignissen und Prozessen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte auf die Analyse von öffentlichen Quellen und vor allem von Interviews angewiesen. Dennoch lassen sich bereits auf dieser Grundlage, wenn auch vorläufige, Schlussfolgerungen über die Leistungsfähigkeiten und Defizite von Strategic Intelligence ziehen:

Es scheint, dass die EU zumindest punktuell in der Lage war, negative wie auch positive Entwicklungen in wichtigen Regionen zu einem gewissen Grade vorherzusehen. EU INTCEN Produkte waren beispielsweise gut darin, die Entwicklung des Darfur-Konflikts von 2004 zu prognostizieren. Die Politikwissenschaftler Arcos und Palacios fanden, dass ein EU-INTCEN Bericht von 2009 mit dem Titel „Worst Scenarios for a narrower Middle East“ ein mögliches Szenario der durch social media geförderten regionalen Ausbreitung der arabischen Aufstände sehr gut antizipierte. Ein weiteres EU INTCEN-Produkt analysierte in Frühherbst 2013, dass Präsident Janukowitsch das Assoziierungsabkommen wahrscheinlich nicht unterzeichnen würde, und dass es in der Folge zu großen Unruhen in der Ukraine kommen würde. Die EU griff dabei vor allem auf eigene Länderexperten und öffentliche Quellen zurück, aber auch auf die von Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellten nachrichtendienstlichen Analysen. Diese Erkenntnisse stehen in einem gewissen Widerspruch zur Betonung geheimer Quellen als Basis für den „added-value“ oder als Alleinstellungsmerkmal von Nachrichtendiensten. Sie stehen auch im Widerspruch zu der Tendenz nationaler Diplomaten gerade aus großen EU- Mitgliedstaaten, Produkten aus ihren eigenen Diensten den Vorzug zu geben, weil diese per se als korrekter, besser und legitimer als EU-Produkte angesehen werden.

In Bezug auf die Bedrohung durch Russland scheint zumindest nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft die Aggression von 2014 und die Besetzung der Krim eine große Überraschung für die USA, die EU aber auch für deutsche Dienste gewesen zu sein. Allerdings sind weder negative innenpolitische Entwicklungen in Russland, insbesondere seit 2012, als auch die militärische Modernisierung und Aufrüstung des Landes nach 2008 und verstärkt nach 2015 den Diensten verborgen geblieben. Nach 2014 fand insbesondere in den USA und Großbritannien eine stärkere Priorisierung der Analyse Russlands statt. Es ist zu vermuten, dass entsprechende operative und analytische Lerneffekte die präzisen und mit viel Selbstsicherheit vorgetragenen US-Warnungen vor einer erneuten großangelegten russischen Invasion ermöglichten. Wir wissen nicht genau, welche Warnungen zu Russland von den deutschen Diensten kommuniziert wurden, aber wir sind in unseren Gesprächen von 2022 vor allem Beamten begegnet, die überaus negativ über die Entwicklung Russlands und der von ihm ausgehenden Bedrohungen sprachen.

Allerdings fehlte es an gleichwertiger Expertise in Bezug auf die gesellschaftlichen, politischen und militärischen Entwicklungen in der Ukraine. Die eigentliche Überraschung auf Expertenebene war nicht der umfassende Angriff Russlands mit der Intention, Ukraines Staatlichkeit zu beseitigen. Es war die Fähigkeit der Ukraine, sich so lange und erfolgreich zu verteidigen. Russlands Stärke wurde überschätzt, während die militärischen Fähigkeiten und die gesellschaftliche Resilienz der Ukraine unterschätzt wurden. Diese fehlerhaften Annahmen hatten erhebliche Konsequenzen: Sie stützten über Jahre das Bild eines weit überlegenen, mächtigen Russlands, das man besser nicht provoziert, und gegen das sich die Ukraine unmöglich verteidigen könnte. Sie unterlegten auch Argumente gegen die Lieferung von Waffen an die Ukraine vor dem Krieg und für zögerliche Lieferung nach der Voll-Invasion.

Wenn wir den Blick weiterspannen, sehen wir, dass die Leistungsfähigkeit und Relevanz von Strategic Intelligence von der Priorisierung bestimmter Bedrohungen, Länder oder Regionen abhängt.

Großbritannien konzentrierte vor 2014 seine nachrichtendienstlichen Ressourcen auf den islamistischen Terrorismus, hier insbesondere Al-Qaida, und vernachlässigte infolgedessen eine mögliche Bedrohung durch Russland. Deutschland sah Iran und Iraq vor allem als ein Problem für die USA und Großbritannien, weniger als eine Herausforderung für die eigene Außen- und Sicherheitspolitik. Als Daesh/IS erstarkte, fehlte es Deutschland an Quellen vor Ort und ausreichender Regionalkompetenz an entscheidenden Stellen. Zudem fehlte vielen Diensten die notwendige technische und kulturellsprachliche Expertise, um richtig und frühzeitig zu verstehen, warum und wie es dem IS gelang, durch soziale Medien und Videospielforen junge Europäer und auch Deutsche für den Kampf für das Kalifat zu gewinnen.

Eine andere Ursache für Analyseschwächen ist die Tendenz, Risiken und Bedrohungen nach Ländern geordnet zu betrachten, zumal wenn sich eine solche Sichtweise dann entsprechend auch in Länderreferaten und internen Prozessen widerspiegelt. Die Wechselwirkungen zwischen den Entwicklungen verschiedener Länder wurden so vielfach nicht ausreichend betrachtet und analysiert – insbesondere wenn Staatlichkeit und Grenzen schwach sind wie etwa zwischen Afghanistan und Pakistan oder zwischen Iraq und Syrien.

Außerdem wird zu häufig versäumt, die längerfristigen und sekundären Wirkungen von Konflikten über unmittelbare Nachbarstaaten hinaus zu betrachten. Natürlich sind solche Kaskadeneffekte schwer mit Sicherheit vorauszusehen: hätte man verstehen können oder gar müssen, welche schwerwiegenden und längerfristigen Folgen die Selbstbehauptung des Assad-Regimes im Bürgerkrieg durch militärische Hilfe von Iran und Russland hatten? Sie löste Flüchtlingsströme nach Europa aus und stärkte Russlands Position in Afrika, ermöglichte es Russland, seine Waffen und Taktiken zu testen und stärkten vermutlich Putins Überzeugung, durch militärische Gewalt seine Ziele erreichen zu können, während der Westen schwach und unentschie-den schien. Umgekehrt sehen wir heute, wie die Verluste Russlands in der Ukraine wie auch von Hizbullah in Libanon, den unerwartet schnellen militärischen Sieg der syrischen Rebellen-Koalition über ein Asad-Regime mit ermöglicht haben, das weder ausreichende eigene Resilienz besaß noch auf die erforderliche Unterstützung bauen konnte.

Aber Entscheider können nicht wissen, welche vorausschauende Analysen sich im Nachhinein als richtig erweisen. Deshalb sollten wir uns näher ansehen, warum Strategic Intelligence nicht wahrgenommen, abgelehnt oder als nicht relevant erachtet wird. Ein wichtiger Grund liegt in den bürokratischen, kulturellen und politischen Widerständen gegen unbequeme Vorhersagen und Szenarien.

Wir dürfen hier nicht übersehen, dass jede Lagefeststellung und Lagebeurteilung, jede Vorhersage, und jedes Szenario mehr oder weniger direkt politikrelevant sind – selbst wenn keine Politikempfehlungen explizit ausgesprochen oder aufgeschrieben werden. Diese Politikrelevanz ist sowohl den Sendern als auch den Empfängern implizit klar.

Dies wiederum führt zu strukturellen und prozeduralen Problemen in der gemeinsamen Erstellung einer maßgeblichen Lage auf der Basis aller relevanten Quellen, die dann koordiniertes strategisches Handeln ermöglicht. Der Normalfall ist häufig eine Kakophonie verschiedener „Hauslagen“, also innerhalb eines Ressorts erarbeiteter Perzeptionen und Bewertungen, aus denen sich Entscheidungsträger das jeweils Überzeugendste oder politisch Gewünschte heraussu-chen. Beispielsweise waren 2014 Teile der EU-Kommission, insbesondere DG Trade, für die geo- und sicherheitspolitische Risiken des von ihr vorangetriebenen Assoziationsabkommens mit der Ukraine weitgehend blind. Die Perspektiven des Europäischen Auswärtigen Dienstes wurden nicht zureichend integriert, und die Mitgliedstaaten engagierten sich unzureichend in dem als überwiegend technokratisch wahrgenommen Prozess.

In Deutschland selbst haben bereits die Zwischenergebnisse der Afghanistan-Enquête und des Parlamentarische Untersuchungsausschusses gezeigt, dass es ein Nebeneinander von unterschiedlichen Lageeinschätzungen und Perspektiven gab – in jedem Ministerium gab es eine sogenannte „Haussicht“. Die Staatssekretärsrunden waren häufig nicht in der Lage, die meist politisch-operativ begründeten Unterschiede zu überbrücken und eine maßgebliche gemeinsame Lagefeststellung und Lagebeurteilung zu erreichen. Der Bundessicherheitsrat konnte aufgrund seines seit Jahrzehnten auf die Prüfung und Genehmigung von Waffenexporten limitier-ten Mandats hier ohnehin keine Rolle spielen.

Hinzu kommt, dass die einzelnen Hauslagen selbst bereits durch die politischen Präferenzen und die dominierende Organisationskultur eines Ministeriums, einer Behörde, beeinflusst werden. Wir fanden viele Beispiele für negative Reaktionen der Hierarchie gegenüber unbequemen Einschätzungen und Vorhersagen im eigenen Zuständigkeitsbereich. In einem Fall wurde ein EU-Botschafter sogar gebeten, seinen Bericht zurückzuziehen. Im Afghanistan-Untersuchungs-ausschuss ist es eine der Kernfragen, warum den Warnungen des Gesandten in Kabul bis zuletzt nicht mehr Gewicht gegeben wurde. In anderen Fällen wurde Analysten seitens der Hausleitung gesagt, dass bestimmte Zukunftsszenarien nicht bearbeitet werden dürften, oder nur mit vorheriger Genehmigung. In anderen Fällen wurden problematische Szenarien weichgespült. Je nachdem wie hierarchisch die Kultur eines Ministeriums oder eines Dienstes ist, kann dies auch schon zur präventiven Selbstzensur unter Beamten führen, die Ärger und Konflikte vermeiden wollen oder sich Sorgen um ihre Aufstiegschancen machen.

Es gibt auch Hinweise, dass in der Vergangenheit die Hausleitung, die überwiegende Experten-meinung im Haus nur verzerrt an Entscheider und Öffentlichkeit weitergibt. Dies ist leider keine Besonderheit der EU oder gar Deutschlands. Die Berichterstattung und erste Forschungen über die Anschläge vom 7. Oktober durch die Hamas zeigen, dass es durchaus Beobachtungen und Berichte über Hamas Angriffsübungen auf die Grenzanlagen gab, und auch einschlägige Pläne gefunden und diskutiert wurden. Allerdings konnten die Berichte und Warnungen von Personal auf niedriger bis mittlerer Hierarchiestufe den dominanten Konsens über die begrenzten Absichten und Fähigkeiten der Hamas auf der Leitungsebene von Nachrichtendiensten und Politik nicht erschüttern.

In diesem Zusammenhang spielen Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie eine wichtige Rolle: Fakten sprechen selten für sich selbst, sondern sie müssen interpretiert werden vor dem Hintergrund einer übergreifenden Weltsicht, von individuellen Erfahrungshorizonten und von Theorien über Akteure. Das bedeutet, dass potentiell unbequeme Fakten um- und weginterpretiert werden können – so können etwa die Angriffsübungen der Hamas als bewusste Irreführung oder Beschäftigungstherapie gedeutet werden, oder Russlands Truppenaufmarsch als erpresserische Verhandlungstaktik. Politiker und ihre engen Berater sind miteinander wechselseitig durch eine gemeinsame Weltsicht verbunden und häufig geprägt von ihrer gemeinsamen Parteizugehörigkeit mit den jeweiligen Grundwerten und Lehren aus der Geschichte. Nur so bauen sich gemeinhin die erforderlichen Vertrauensverhältnisse im Kernbereich der Exekutive auf. Analysen, die diese Weltsicht oder Grundüberzeugungen direkt oder indirekt in Frage stellen, lösen psychischen Stress aus. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, werden dann Fakten und Analysen selektiv wahrgenommen und Widersprüche wegrationalisiert – auch wenn man sich dabei stark von etablierten Fakten und der Expertenmeinung entfernt.

Ein zweiter, überaus verbreiteter kognitiver Mechanismus ist das sogenannte mirror-imaging. Hier werden Wissenslücken über ausländische Entscheider und Staaten gefüllt mit Analogien aus geschichtlichen Erfahrungen des eigenen Staates bzw. mit Rationalitätsannahmen aus der eigenen persönlichen, jedenfalls aber sozio-kulturellen Perspektive. Wenn ein Staatssekretär im Rückblick auf Februar 2022 sagt, dass er den Angriff von Putin nicht erwartet habe, weil er ihm vollkommen irrational erschienen sei, ist dies klassisches mirror-imaging. Es ist aber objektiv schwierig für westlich sozialisierte Berater und Politiker, sich in ausländische Entscheider hin-einzudenken – insbesondere wenn diese Absichten haben oder Methoden benutzen, die den eigenen Interessen und Werten stark zuwiderlaufen. Hierin liegt eine der zentralen Aufgaben für soziokulturelle und sozialpsychologische Regionalexpertise in Nachrichtendiensten und ihrer effektiven Kommunikation an Entscheidungsträger.

3. Wie kann die Kluft zwischen Erwartung und Realität überbrückt oder gar geschlossen werden?

Hier sollen drei Ansätze im Vordergrund stehen:

1) Strategic Intelligence muss besser in der überraschungssensitiven Vorausschau werden.

Es geht nicht primär darum, im Durchschnitt richtig zu liegen, also einen hohen „betting average“ zu haben. Stattdessen sollte das Ziel sein, dann gute Vorhersagen zu liefern, wenn es wirklich zählt und wenn möglicherweise bedeutsame Veränderungen anstehen. Dazu braucht es allerdings den Willen und die Fähigkeit zum konstruktiven, ergebnisorientierten Streit über Annahmen, Trends und Kausalzusammenhänge. Eine starke Kultur der Konsensorientierung wie sie zum Beispiel gerade in der EU besteht, lässt wenig Raum für das Entstehen und die robuste Artikulation alternativer Hypothesen und Minderheitsmeinungen. Ich bin skeptisch, dass Empfehlungen für Red-Teaming und Devil‘s Advocacy dies erreichen können, da sie häufig zu artifiziell und deshalb unglaubwürdig sind. Stattdessen sollte man nach Wegen su-chen, kompetente authentische Vertreter von alternativen Perspektiven zu involvieren. Das kann bedeuten, gezielt Experten aus anderen EU-Mitgliedstaaten, Disziplinen oder mit anderen Ansätzen einzuladen. Zum anderen sollten Hauptstädte mehr auf langjährige Landesexpertise und auf fundierte und reflektierte Erfahrungswerte von Menschen hören, die vor Ort leben und arbeiten.

Für die Praxis bedeutet dies, dass positive Rekrutierungs- und Karriereanreize für Analysten geschaffen werden müssen, die primär von Wissbegierde motiviert und in der Lage sind, eine fachlich fundierte Minderheitsposition zu vertreten und sich nicht scheuen, „dumme Fragen“ zu stellen. Sinnvoll kann es auch sein, externe Experten gezielt für ein bis zwei Jahre einzuladen, ohne dass sie auf eine Position oder Beförderung im Dienst oder im Ministerium hoffen würden. Gleichzeitig müssen negative Anreize beseitigt werden. Man kann nicht auf der einen Seite nach Überraschungen den Mangel an Expertise und Vorstellungskraft kritisieren, und auf der anderen Seite, diejenigen die unbequeme oder disruptive Szenarien entwickeln und durchdenken, zu kritisieren oder gar zu bestrafen. Wenn solche Szenarien in die Öffentlichkeit kommen, müssen Minister dies als notwendiges Nachdenken zur Vorbereitung und Zukunftsgestaltung verteidigen – anstatt sich zu distanzieren oder diese gar zu skandalisieren. Über mögliche Zukünfte nachzudenken, heißt nicht, diese vorauszusagen, noch dass diese angestrebt werden. Wer über den Ausbruch und die Konsequenzen von militärischer Gewalt nachdenkt, ist kein Kriegstreiber. Dazu gehört auch eine gute Fehlerkultur und Aufarbeitung nach negativen, aber auch nach positiven Überraschungen. Diese ist leider weder in der EU noch in Deutschland stark ausgeprägt.

2) Die Fragmentierung in politisch eingefärbte und fachlich mitunter fragwürdige Hauslagen muss überwunden werden.

Wenn es unter der nächsten Regierung endlich einen nationalen Sicherheitsrat zur besseren Koordinierung und strategischen Leitung deutscher Sicherheitspolitik geben sollte, braucht es eine deutsche Version des britischen Joint Intelligence Committees, kurz JIC. Das JIC soll politische Entscheidungsträger mit bestmöglichen Einschätzungen zu aktuellen und zukünftigen Bedrohungen der nationalen Sicherheit zu versorgen. Dabei kann es bei der Analyse auf alle zur Ver-fügung stehenden Quellen und Nachrichtendienste zurückgreifen. Unterstützt wird das JIC dabei von einem festen Mitarbeiterstab, der Analysen verfasst; es wird geleitet von einem hohen Beamten am Ende seiner Laufbahn, der das Ansehen und die Unabhängigkeit besitzt, den Mächtigen auch unbequeme Wahrheiten zu verkünden. Das JIC versucht, einen Konsens über Einschätzungen herzustellen, damit die Produkte mehr Gewicht haben. Zwar sind Minderheitsvoten möglich, bleiben aber eher selten. Die Spannung zwischen Konsensorientierung und Überraschungssensibilität lässt sich nie ganz auflösen und wird von Fall zu Fall variieren.

Ich persönlich plädiere dafür, dass eine deutsche JIC Version versucht, den Schwerpunkt etwas weniger auf Konsensorientierung setzt, ohne dabei ein Einfallstor für Hauslagen zu schaffen.

Das zweite Spannungsfeld besteht zwischen Glaubwürdigkeit durch Objektivität und Handlungsrelevanz. Im JIC sind die Ministerien zwar mit eingebunden, aber es gibt eine strikte Begrenzung auf die Lagefeststellung. Damit soll die Relevanz für aktuelle Herausforderungen gesichert, aber gleichzeitig der Verdacht der politische Entscheidungslenkung vermieden werden. Ich würde dafür plädieren, dass es entweder auf Aufforderung oder zumindest im Umfeld von Krisen und langfristigen Entscheidungen ein rigoroses „future-proofing“ stattfindet – also der Versuch, gegenwärtige und zukünftige Politikoptionen auf ihre wahrscheinlichen oder möglichen Folgen zu durchleuchten. Solche Prozesse könnten auch zu einem besseren Verständnis zwischen Analysten und Entscheidungsträgern führen, das sich wiederum positiv auf die Kommunikation zwischen beiden Seiten auswirkt. Wichtig wären auch verpflichtende Einführungs- und Weiterbildungsprogramme für hochrangige Beamte, außen und sicherheitspolitische Berater und Staatsekretäre über den Umgang mit Nachrichtendienstlichen Produkten, auch zur Sensibilisierung für typische Fehler in der Vorhersage.

3) Um der weitverbreiteten Warnungsmüdigkeit entgegen zu wirken, sollte Strategic Intelligence stärker positive Folgen, Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten ausloten.

Strategische Vorrauschau muss Wunschdenken vermeiden, aber gleichzeitig müssen wir genauer hinsehen, inwiefern Krisen möglicherweise auch positive Folgen haben könnten bzw. wie diese aktiv gestaltet werden könnten. Während die Analyse von Bedrohungen und Risiken the-oretisch und methodisch sehr fortgeschritten ist, bedarf es bewusster Bemühungen zum Ver-ständnis der möglichen positiven Zukunftsfolgen des eigenen Handelns. Auch dafür ist es notwendig, aus der Zwangsjacke der strikten Trennung von Analyse und Politikempfehlungen aus-zubrechen. Das heißt nicht, die Welt der Fakten hinter sich zu lassen und ausschließlich Fragen des „was sollen wir tun“ in den Vordergrund zu stellen. Aber weder Deutschland noch die EU können es sich leisten, die aktive Gestaltung der Zukunft anderen zu überlassen und nur defensiv zu reagieren. Marshall-Plan, Europäische Einigung oder die EU-Osterweiterung sind alles erfolgreiche Beispiele von vorausschauender Außenpolitik, von der Deutschland profitiert hat. Strategic Intelligence im erweiterten Sinn kann dabei helfen, den politischen Möglichkeitsraum zu erweitern und damit strategisches aber auch kreatives taktisches Handeln zu befördern. Eine solche positive strategische Vorrauschau kann auch dabei helfen, ein Mindestmaß von parteiübergreifendem Konsensus bzw. gesellschaftlicher Unterstützung für Strategie und die notwendigen Ressourcen dafür herzustellen. Zukunftsfähige Außen- und Sicherheitspolitik findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern braucht ein Grundverständnis oder Bewusstsein in Parlament, Medien und Öffentlichkeit für die Notwendigkeit von fach- und sachkompetenter Lagefeststel-lung und Lagebeurteilung als Grundlage für sachgerechtes Handeln. Es geht dabei letztlich um die Strategie- und Zukunftsfähigkeit von Deutschland und Europa.



Für den Vorstand



Dr. Gerhard Conrad

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