Ein EU „Joint Situational Awareness Center“ (JSAC) in Brüssel?

Stellungnahme zum Vorschlag der EU-Kommissionspräsidentin


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Hans-Dieter Herrmann, Vorsitzender des Vorstandes

Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union

 

Die Forderung nach größerer außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit der Europäischen Union hat sich in den vergangenen Jahren verstetigt und hat Eingang in zahlreiche Ratsschlussfolgerungen gefunden.

Auf dem EU-Gipfel von Brdo in Slowenien (05./06.10.2021) haben Ratspräsident Michel, der Hohe Vertreter Borrell und der französische Staatspräsident Macron keinen Zweifel daran gelassen, dass eine Ertüchtigung der Union angesichts der Verschiebungen im weltpolitischen Macht- und Interessengefüge überfällig, jedenfalls aber Gebot der Stunde sei. Für die kommenden Monate, und insbesondere auch in der französischen Ratspräsidentschaft ab Januar 2022, werden neue Impulse in diesen Feldern in Aussicht gestellt.

In diesem Zusammenhang steht auch die jüngste „State of the Union Address“ von Kommissionspräsidentin von der Leyen vor dem Europäischen Parlament, in der umfangreiche Vorschläge und Forderungen für eine Verbesserung der EU-Strukturen und Prozesse vorgestellt wurden, unter ihnen auch eine Initiative zur Ausweitung und Aufwertung der Kapazitäten zur integrierten Lagefeststellung und Lagebeurteilung als notwendige Grundlage für eine integrierte Entscheidungsfindung der Union in letztlich allen Politik- und Aktionsfeldern von innerer wie äußerer Sicherheit und Daseinsvorsorge.


Der GKND verfolgt diese Entwicklung, die ihrerseits ein wesentliches Element deutscher Außen-, Sicherheits- und Europapolitik darstellt und nicht ohne Auswirkungen auch auf die aktuelle deutsche Diskussion über einen Nationalen Sicherheitsrat bleiben dürfte, mit großem Interesse und nimmt daher bereits zu Beginn des Prozesses zu einigen grundsätzlichen Fragen und Perspektiven Stellung.

 

Impuls der Kommissionspräsidentin vom 22. September 2021

Am 22. September 2021 schlug die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer State of the Union Address an das Europäische Parlament die Schaffung eines Joint Situational Awareness Centers (JSAC) vor, um den Anforderungen an eine umfassende Wissensgrundlage für informierte Entscheidungen der Europäischen Union gerecht werden zu können:

 

“…we need to build the foundation for collective decision-making – this is what I call situational awareness. We fall short if Member States active in the same region, do not share their information on the European level. It is vital that we improve intelligence cooperation.

But this is not just about intelligence in the narrow sense. It is about bringing together the knowledge from all services and all sources. From space to police trainers, from open source to development agencies. Their work gives us a unique scope and depth of knowledge. It is out there!

But we can only use that, to make informed decisions if we have the full picture. And this is currently not the case. We have the knowledge, but it is disjoined. Information is fragmented.

This is why the EU could consider its own Joint Situational Awareness Centre to fuse all the different pieces of information. And to be better prepared, to be fully informed and to be able to decide”.

Noch ist für den externen Beobachter nicht ausgemacht, dass diesem Vorschlag tatsächlich auch zielgerichtete Planungen und Entscheidungen in den Institutionen und mit den Mitgliedstaaten folgen werden. Gleichwohl steht hier eine Überlegung im Raum, deren Möglichkeiten und Implikationen im Interesse einer allseits, und gerade auch von deutscher Seite, immer wieder geforderten deutlichen Verbesserung der europäischen außen und sicherheitspolitischen Leistungsfähigkeit erörtert werden sollten.

 

Integrierte Lagekompetenz zur Bewältigung der Herausforderungen

Bemerkenswert ist, dass auch im europäischen Kontext offenbar die Einsicht zunehmend Raum greift, dass systematisch aggregiertes und etabliertes Wissen vor dem Handeln stehen solle, und dass eine Antwort auf komplexe Herausforderungen oder gar vorbeugendes Handeln angesichts sich abzeichnender Probleme zunächst einmal notwendig ein adäquates, mithin integriertes und umfassendes Lageverständnis, mithin „situational awareness“ erfordern.

Insoweit reflektiert der Vorschlag Gedanken, die zur Zeit auch in Deutschland in der Diskussion um einen möglichen Nationalen Sicherheitsrat erörtert werden. Darüber hinaus ist er offenbar zumindest indirekter Ausfluss einer akademischen und politikberatenden Diskussion zu Beginn dieses Jahres. Der Kerngedanke, dass die EU-Institutionen kraft ihrer Zuständigkeiten und Aufgabenerfüllung bereits heute über ein immenses handlungsrelevantes Wissen und Quellen in eigener Kompetenz verfügen, diese jedoch nicht in angemessener Weise zu aggregieren, strukturieren und auftragsbezogen in zeitgerechte und sachrelevante Berichterstattung und Analyse in Entscheidungsprozesse einzubringen in der Lage sind, ist vom ehemaligen Direktor INTCEN in einiger Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht worden[6], um auf dieser Grundlage erste handlungsleitende Vorschläge zur Überwindung dieses Defizits zu unterbreiten:

“In a first phase (by 2025), the legal status and function of EU INTCEN should be defined and consolidated by a Council decision, as it was done for EUMS.INT already in 2001. A significant increase of analytical manpower and technical capacity, especially in its Hybrid Fusion Cell but also in its regional desks, should be part of that initiative. In view of the marked increase in the level of ambition in CSDP and in response to various Council conclusions since 2017, commensurate capabilities of EUMS.INT in providing strategic defence intelligence analysis as well as in delivering operational intelligence by its Military Planning and Conduct Capacity (MPCC) will have to be built up as well.”

“In a second phase (by 2030) – that would however have to be conceptualized already in phase one – this consolidated SIAC-structure could be taken as the core for a larger EU all-sources assessment facility that – as it is already the case with INTCEN and EUMS.INT – would have to work without being influenced by policy preconceptions and wishful thinking in order to be in a position to ‘speak truth to power’. Such a facility should be able to support the whole range of decision making processes in EU activities across the institutions with implications for foreign and security policy as well as security”. … Whatever the concrete structures, their core task would be to ensure that EU capabilities in collection and analysis be coordinated across the institutions and in cooperation with Member States, and that the results of their work be aggregated, fused and analysed in a structured and timely way with the aim of providing decisionmakers across the EU institutions and in Member States’ governments with the best possible actionable situational awareness. An interinstitutional, probably Council-based, ‘Office of European Situational Assessment’with a strong mandate could thus emerge in the next decade as an important enabler for viable joint EU action in policy and security.

Die Notwendigkeit eines solchen konzeptionellen und organisatorischen Paradigmenwechsels allein schon im Bereich der Lagearbeit als Voraussetzung für verantwortliche und sachkundige Entscheidungen angesichts der sich rapide verändernden Weltlage, in der die Europäische Union ebenso massive wie rasche Fortschritte in ihrer Handlungsfähigkeit machen muss, wenn sie ihren Kernaufgaben für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger gerecht werden soll, wird abschließend betont:

“The next decade will be decisive for the European Union in further promoting its position as an international actor and security provider for its citizens. Recognizing that major challenge, the EU is committed to implementing its Global Strategy by devising a future Strategic Compass, introducing strategic foresight into decision-making and promoting an EU Security Union Strategy.

In all these core dimensions of EU ambition, adequate and comprehensive situational awareness is a must to take informed decisions. Creating and managing situational awareness should therefore be understood and treated as a distinct discipline which is to be conceptualized, built up and overseen in a dedicated political and administrative process. Resilient structures and dynamic processes of situational awareness-building that lead to timely and actionable results for the EU institutions and Member States in Council formats will be a core capability in support of viable EU policies and action. Securing these processes and assets from hostile intelligence and hybrid action will be vital for the Union’s credibility and ability to act and protect”.

 

Praktische Konsequenzen und erste Schritte

Programmatische Übereinstimmung besteht in Deutschland bei allen künftigen Regierungsparteien im Engagement für eine Stärkung Europas, gerade auch im Bereich der Sicherheitsgewährleistung im Interesse der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger*innen.

Es wäre mithin dringlich zu wünschen, wenn der Vorschlag der Kommissionspräsidentin sowohl in Brüssel als auch in Deutschland, ebenso wie in möglichst vielen Mitgliedstaaten, konstruktiv und tatkräftig aufgegriffen würde.

  • Durch die doppelte Funktion als Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (HR) und Vizepräsident der Kommission (VP), ist Josep Borrell in der einzigartigen Position, die Handlungsdimensionen von Kommission und Rat in seiner Person zu vereinen.

  • Er ist damit die zentrale Instanz für die Schaffung einer notwendig mitgliedstaatlich wie institutionell getragenen Lageinstanz. Hinzu kommt, dass mit EU INTCEN und
    EUMS.INT bereits die beiden einzigen EU-Stellen in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, die für dezidierte und professionelle Lagefeststellung und Lagebeurteilung ausgestattet und mandatiert sind.

  • Es läge mithin mehr als nahe, dass der HR/VP, zusammen mit den Direktoren INTCEN und EUMS.INT sowie im Zusammenwirken mit den Mitgliedstaaten den Vorschlag der Kommissionspräsidentin aufnähme und zur Grundlage eines Konzepts für ein Joint Situational Awareness Center (JSAC) machte, das – wie schon INTCEN und EUMS.INT – durch seine Position im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) an der Schnittstelle zwischen Rat und Kommission angesiedelt wäre und so die intergouvernementale wie die supranationale Dimension der Europäischen Union gleichermaßen abdecken könnte.

  • Einen modellhaften Ansatzpunkt von besonderer Relevanz stellt in diesem Zusammenhang die sogenannte Hybrid Fusion Cell (HFC) dar, die auf Anforderung der Mitgliedstaaten seit 2016 zur Analyse hybrider Bedrohungen hinsichtlich ihrer Zielsetzung, Relevanz und ihres Hintergrundes geschaffen worden ist. Hier ist im Kleinen die mögliche Struktur eines JSAC vorweggenommen worden: So unterhält die HFC als gemeinsam von INTCEN und EUMS.INT betriebene Einheit nicht nur die institutionellen Kontakte zu praktisch allen europäischen zivilen und militärischen Auslands- und Inlandsdiensten; sie steht vielmehr ebenfalls im Zentrum eines Netzwerks von PoCs zu den Regierungen der Mitgliedstaaten ebenso wie zu den thematisch relevanten Generaldirektoraten der Kommission und EU-Agenturen. Die Austauschrelationen zu diesem breiten Spektrum an Partnern und Unterstützern sind sicherlich noch weiter zu konsolidieren, dynamisieren und thematisch zu erweitern, doch sind die konzeptionellen Grundlagen in Form von Joint Terms of Reference bereits seit 2016 konkret gelegt.

  • In Anlehnung an diese Struktur und über ihre auftrags- und sachgerechte Weiterentwicklung könnte ein JSAC mithin grundsätzlich folgende Elemente enthalten und damit zu einer zentralen Instanz für alle EU-Institutionen und Agenturen ebenso werden wie ein Orientierungspunkt für die Mitgliedstaaten in der außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung:

    • Leitung des JSAC in unmittelbarer Unterstellung unter HR/VP

    • EU INTCEN/EUMS.INT als personell, strukturell wie thematisch zu erweiternder Kern einer strategischen all sources Analysefunktion für außen-, sicherheits- und militärpolitische Risiken und Bedrohungen für die EU.

    • EU HYBRID THREATS DIRECTORATE als um die Dimensionen Terrorismusanalyse (bisher INTCEN) und Counter Intelligence Analyse erweiterte und funktional aufgewertete Hybrid Fusion Cell zur analytischen Abdeckung der Bedrohungen für die innere Sicherheit der Union und ihrer Mitglieder.

    • OPEN SOURCE & SOCIAL MEDIA ANALYSIS DIRECTORATE mit umfassenden, durch Joint Terms of Reference verbindlich geregelten Austauschbeziehungen zu EU Direktoraten (DEVCO, ECHO, TRADE, NEAR, etc.) und Agenturen (EUROPOL, FRONTEX) als spezialisierte Unterstützungsfunktion für EU INTCEN/EUMS.INT sowie das HYBRID THREAT DIRECTORATE.

    • IMINT/GEOINT SUPPORT als Schnittstelle zu SATCEN und COPERNICUS, GALILEO in der Unterstützung der zentralen Auswerteabteilungen.

 

Ertüchtigung und Vernetzung bestehender Strukturen

Es versteht sich von selbst, dass eine solche summarische Skizze nur eine erste Anregung für weitere konzeptionelle und planerische Überlegungen der kompetenten Stellen geben kann.

Ebenso bedeutsam wie ermutigend sollte allerdings der Umstand sein, dass im Grunde alle Elemente für eine derartige Aggregierung und Strukturierung europäischer und mitgliedstaatlicher Befähigungen zur integrierten Lagefeststellung und Beurteilung bereits existieren. Sie müssten lediglich in geeigneter Weise einander zugeordnet, einer ebenfalls schon etablierten Instanz unterstellt sein und – dies sei hier allerdings in aller Deutlichkeit vermerkt – in einer aufgabengerechten Größenordnung über den EU-Haushalt oder nötigenfalls direkte mitgliedstaatliche Mittelzuflüsse gegenfinanziert werden.

Beim Aufbau einer solchen integrierten Lageinstanz kommt der Kommissionspräsidentin im Zusammenwirken mit dem Hohen Vertreter/Vizepräsidenten und der Unterstützung durch die Ratspräsidentschaft eine entscheidende Rolle zu: Wie bereits im Fall der Hybrid Fusion Cell gilt es hier letztlich, mit präsidialer Autorität die Generaldirektorate der Kommission bei Wahrung der Eigenständigkeit über Joint Terms of Reference in eine verbindliche und praktisch umsetzbare Kooperationsstruktur mit dem JSAC einzubinden und auf diese Weise den Informationsfluss (in beide Richtungen) zu etablieren. Auf der intergouvernementalen Seite wird es darauf ankommen, die notwendige gesamtstaatliche ressortübergreifende Unterstützungsbereitschaft der Mitgliedstaaten auch auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zu fördern, denn auch hier geht es nicht um einzelne sektorale Dimensionen der Kooperation sondern – wie bereits im Bereich der hybriden Bedrohungen erkennbar – um einen „whole of government approach“, der in Deutschland letztlich nur über die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers zustande gebracht und – mindestens ebenso wichtig – kontinuierlich aufrecht erhalten werden kann. Der Hohe Vertreter wird hier mithin nur mit Unterstützung der Ratspräsidentschaft die erforderliche Koordinations- und Aufbauleistung bewirken können. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass es vor der Etablierung des EAD im Sommer 2010 eben Javier Solana als Generalsekretär des Rates war, der auf Augenhöhe mit den Staats- und Regierungschefs die entscheidenden Weichenstellungen für die ersten Schritte hin zur Handlungsfähigkeit der zivilen und militärischen, Lageelemente im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit wie der außen- und sicherheitspolitischen Interessenwahrnehmung einleitete.

Die Notwendigkeit zeitnaher, energischer und konkreter Schritte zur Ertüchtigung der europäischen Handlungsfähigkeit ist aktuell angesichts der dramatischen Verschiebungen im transatlantischen Gefüge und der neuen Qualität der globalen Herausforderungen dringlicher als je zuvor. Es wäre mithin zu begrüßen, wenn der eher langfristig dimensionierte Ansatz des ehemaligen Director INTCEN wesentlich gestrafft werden könnte, mit der Zielsetzung, ein operationelles JSAC noch in der aktuellen Mandatszeit bis 2025 aufzustellen. Dies ist nicht zuletzt eine Frage des gemeinsamen politischen Willens der Mitgliedstaaten, zu allererst jedoch auch eines pragmatischen, ergebnisorientierten und energischen Zusammenwirkens von Kommission, EAD und Rat im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse. Die ersten Schritte, etwa die Beauftragung des HR/VP zur Erarbeitung eines JSAC-Konzepts, könnten so bereits kurzfristig ebenso erfolgen wie die Etablierung eines engen, von Kommissionspräsidentin, Ratspräsident und HR/VP gemeinsam zu überwachenden und verantwortenden Zeitplans. Ein JSAC muss aufgrund seiner strategischen Bedeutung und angesichts der vielfältigen zu überwindenden politischen, administrativen und budgetären Herausforderungen konsequent als Chefsache in der EU wie in den Mitgliedstaaten behandelt werden.

Wie bereits in Bezug auf die Lagekompetenz eines Nationalen Sicherheitsrates in Deutschland kann der  GKND auch hier im wohlverstandenen nationalen wie gemeinschaftlichen Interesse nur eindringlich für eine energische deutsche, im Idealfall deutsch-französische, Unterstützung in Konzeption und praktischer Umsetzung auf europäischer Ebene werben.

Dr. Hans-Dieter Herrmann

Vorsitzender

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