Einen Nationalen Sicherheitsrat für das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland?
Eine Hintergrundinformation
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Dipl.-Pol. Thomas Horloh
Im Rahmen seiner Bemühungen um eine sachgerechte Diskussion von Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit und ihren Implikationen für die Nachrichtendienste kann der GKND einen weiteren sach- und fachkundigen Beitrag zur aktuellen Diskussion einer Neuaufstellung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in die Reihe seiner Hintergrundinformationen aufnehmen und präsentieren.
Die „Handreichung“ steht in der Kontinuität thematisch verwandter, wenngleich vornehmlich aus der Perspektive der Erfordernisse einer ressortübergreifenden Lagearbeit verfasster Stellungnahmen des GKND der vergangenen Wochen.
Umso mehr ist Herrn Horlohe für seine freundliche Bereitschaft zu danken, sein Papier dem GKND als weiteren Denkanstoß für die aktuelle politische Diskussion zur Verfügung zu stellen.
Herr Dipl.-Pol. Thomas Horlohe beschäftigt sich seit seinem Studium in Hamburg, Berlin und Washington, D.C. (Fulbright-Scholar) immer wieder mit außen- und sicherheitspolitischen Stäben und Strategiefragen und ist in den vergangenen Jahren immer wieder mit Beiträgen zur Rundfunksendung „Streitkräfte und Strategien“ des Norddeutschen Rundfunks und in Fachpublikationen wie der "Zeitschrift für Politikberatung" und in "Sicherheit & Frieden" hervorgetreten. Hauptberuflich ist er seit Oktober 2013 in der Ministerialverwaltung des Landes Baden-Württemberg tätig.
Eine Handreichung
Zusammenfassung:
Die Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrates zum Zentrum eines ressortübergreifenden Koordinierungsapparats sollte in den Koalitionsverhandlungen thematisiert werden.
Die Realisierungschancen sind in einer Dreierkoalition größer denn je. Mit dieser Reform können Aufbruch und Handlungsfähigkeit demonstriert werden.
Ein Bundessicherheitsrat neuer Art kann den allseits beklagten Defiziten des außen- und sicherheitspolitischen Apparats bei Koordinierung, Vernetzung, Anpassungsfähigkeit und Krisenmanagement entgegenwirken.
Hierzu muss er auf einen weiten Sicherheitsbegriff verpflichtet werden und als Teil eines umfassenderen Koordinierungs-Systems nach dem Vorbild, aber nicht als Kopie des National Security Council-Systems der USA konzipiert werden.
Dem Bundessicherheitsrat als Kabinettsausschuss sollte eine Staatssekretärskonferenz vorgeschaltet und zum zentralen Beratungs- und Steuerungsgremium im Bundessicherheitsrat-System ausgestaltet werden.
Die Staatssekretärskonferenz sollte von der Staatsministerin bzw. dem Staatsminister im Kanzleramt geleitet werden, die BSR-Sitzungen vorbereite, Themen initiativ aufgreifen und interministerielle Arbeitsgruppen einsetzen und wieder auflösen können.
Der Bundessicherheitsrat und die Staatssekretärskonferenz sollten im Kanzleramt auf eine geschäftsführende Arbeitseinheit und auf ein Lagezentrum zurückgreifen können, dem die ressortübergreifende Lagefeststellung und -analyse übertragen ist.
1) Neue Chance für eine alte Idee
Die Idee eines Nationalen Sicherheitsrates für Deutschland „ist gewiss nicht neu“, wie Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer feststellte. Das war eher eine Untertreibung. In der Vergangenheit war der Vorschlag mehrfach vorgebracht worden, erfolglos. Allen voran war es zuletzt die Münchener Sicherheitskonferenz mit ihrem Vorsitzenden Wolfgang Ischinger, die als Sprachrohr der außen-und sicherheitspolitischen Funktionselite der Bundesrepublik rechtzeitig vor der Bundestagswahl am 26. September 2021 die Argumente bündelte, weshalb der Bundessicherheitsrat im Kanzleramt zu einem Nationalen Sicherheitsrat nach ausländischem Vorbild weiterentwickelt werden solle. Denn
„die einzige echte Chance für Veränderungen bietet sich zu Beginn einer neuen Regierung, wenn sich für eine neue Führung ein kurzes Zeitfenster öffnet, um der Arbeit ihres oder seines Sicherheitskabinetts neue Formen zu geben.“
Nach Kramp-Karrenbauer machte sich auch Armin Laschet den Vorschlag zu eigen, weswegen er dem Risiko der Stigmatisierung durch Assoziation ausgesetzt ist: Nationaler Sicherheitsrat – eine Idee für Verlierer?
Nein, dieses Urteil wäre nicht angemessen. Das Ergebnis der Bundestagswahl mit seinen neuen Koalitionskonstellationen liefert gute Gründe, den Vorschlag unter den neuen Voraussetzungen gründlich zu prüfen.
Das Thema ist von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP gesetzt. Beide kleineren Koalitionspartner haben sich vor der Bundestagswahl, mit unterschiedlichen Akzenten, ebenfalls für eine Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrats ausgesprochen.
Wenn es FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darum geht, Aufbruchstimmung, Reformwillen und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und gegenüber dem größeren Koalitionspartner die Initiative zu ergreifen, dann bietet sich ihnen hiermit ein geeignetes Objekt.
Und welch besseren Nachweis für Handlungs- und Regierungsfähigkeit kann man sichvorstellen, als einen Reformvorschlag umzusetzen, der von der SPD bisher stets abgelehntund von der befürworteten Union in Jahrzehnten nicht verwirklicht werden konnte.
Vor allem anderen aber sind die Realisierungschancen so gut wie nie zuvor. In der Vergangenheit scheiterte eine Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrats stets an der Befürchtung, dass der erwartete Machtzuwachs des Kanzleramts zulasten des Auswärtigen Amtes gehen werde, dessen Leitung traditionell dem kleineren Koalitionspartner zufiel. Diese Konstellation mit der Tendenz zum Null-Summen-Denken wird es so nicht mehrgeben.
Schließlich ließe sich die Aufwertung zu einem Nationalen Sicherheitsrat mit einem Beschluss der Bundesregierung über eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundessicherheitsrates vergleichsweise einfach und zügig in die Wege leiten, geeignetes Material also für die 100-Tage-Bilanz der neuen Bundesregierung.
Dieses Papier rekapituliert und strukturiert zunächst die Argumente für einen Nationalen Sicherheitsrat für das Regierungssystem der Bunderepublik: Was soll der Rat nach den Vorstellungen seiner Befürwortenden leisten? Danach wird der Blick auf den National Security Council (NSC) der USA gerichtet, um das deutsche Erwartungsprofil mit der Leistungsbilanz des US-amerikanischen Originals zu vergleichen. Welche Funktionen erfüllt der NSC in den USA? Was lässt sich auf das Regierungssystem der Bundesrepublik übertragen? Was nicht? Schließlich wird skizziert, wie der Bundesssicherheitsrat zu einem Nationalen Sicherheitsrat weiterentwickelt werden könnte und was dabei berücksichtigt werden sollte.
2) Wozu einen Nationalen Sicherheitsrat für die Bundesregierung?
Die Erwartungen, die an einen Nationalen Sicherheitsrat für Deutschland geknüpft werden, sind an anderer Stelle aktuell, umfassend und kompetent zusammengestellt worden, sodass sich ihre Wiederholung erübrigt. Doch sind die Erwartungen sehr allgemein formuliert. Deswegen ist es sinnvoll und hilfreich, die erwünschten Funktionen zunächst analytisch getrennt, genauer und kritisch zu betrachten.
2.1) Bessere Koordinierung und Vernetzung
Das Hauptproblem, dem ein Nationaler Sicherheitsrat abhelfen soll, ist die als mangelhaft empfundene Koordinierung der Ressorts und Dienststellen, die in der Bundesregierung mit Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik im weiten Sinne befasst sind. Darin besteht ein breiter Konsens aller Befürwortenden. „Koordinierung gilt seit langem als eine Problemzone der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.“ Während die Herausforderungen vielfältiger und komplizierter geworden sind, beispielsweise die Abgrenzung von Außenpolitik und Innenpolitik längst nicht mehr wirklichkeitstauglich ist, hat sich die Aufbau- und Ablauforganisation des außen- und sicherheitspolitischen Apparats praktisch nicht verändert. Das Anforderungsprofil und die Lösungskompetenz fallen immer stärker auseinander. Sicherheit sei umfassend und mehrdimensional zu begreifen. Deswegen müsse sich auch der Verwaltungsapparat sehr viel stärker vernetzen.
„[W]enn wir unseren umfassenden, vernetzten Ansatz mit Leben füllen wollen, dann müssen wir das auch an herausragender Stelle organisieren.“
Der Nationale Sicherheitsrat soll der Ort für mehr und bessere Ressortkoordinierung im Sinne einer vernetzen Außen-und Sicherheitspolitik im weiten Sinne sein.
Hinsichtlich der Ursachen für das kritisierte Koordinierungsdefizit wird auf das Spannungsverhältnis zwischen Richtlinienkompetenz von Kanzlerin bzw. Kanzler und dem Ressortprinzip verwiesen. Die Analyse kommt aber zu keinem klaren Ergebnis. Während einerseits beklagt wird, Bundeskanzlerin Merkel habe von ihren Möglichkeiten unzulänglich Gebrauch gemacht, wird andererseits festgestellt, dass in der Vergangenheit Kanzler mittels ihrer Richtlinienkompetenz wichtige außenpolitische Fragen zur Chefsache machten, auch während der Kanzlerschaft Merkels. In der Europapolitik hat sich mit der Stärkung des Europäischen Rates das Gewicht strukturell ins Kanzleramt verlagert, zulasten des Außenamtes. Und schließlich wird eingewendet, dass die Erfahrungen mit dem Nationalen Sicherheitsrat in Großbritannien gezeigt hätten, dass „starke Ressorts und effektive Koordinierung ... keine Gegensätze“ sind.
Überformt und verschärft wird dieses Spannungsverhältnis zwischen Ressorts und Kanzleramt durch die Machtmechanik von Koalitionsregierungen. Da das Auswärtige Amt stets vom kleineren Koalitionspartner geleitet wurde, konnte er politisch unliebsame Initiativen in der Ressortabstimmung unterbinden und abschwächen oder deren Umsetzung verzögern oder verhindern. „Der dominierende Blockadeanreiz entsteht aus der Verbindung von Koalitionsregierungen und Ressortveto“. Da beide Mechanismen auf Einvernehmen angewiesen sind, um handlungsfähig zu sein, bedarf es eines doppelten Konsenses, in der Regierung und in der Koalition.
Diese Ursachenanalyse muss sich den Hinweis gefallen lassen, dass beide Mechanismen kein Alleinstellungsmerkmal der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung sind. Das Prinzip des Einvernehmens in Ressortabstimmungen, mit seinen Einigungszwängen und seinem Blockadepotenzial, gilt auch in allen anderen Fragen des Regierungshandelns des Bundeskabinetts. Auf Ebene der Länder sind Koalitionsregierungen ebenfalls Regierungsalltag. Mitunter übersteuern dort Koalitionsausschüsse das Regierungshandeln. Koalitionskonflikte werden zu Ressortkonflikten und umgekehrt. Die Parlamentsfraktionen der Koalitionsregierungen werden mitunter sogar obligatorisch und gleichberechtigt in die Ressortabstimmung von Kabinettsvorlagen einbezogen, eine verfassungspolitisch fragwürdige Praxis. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten machen in unterschiedlicher Weise von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch. Ihrer Aufgabe der Ressortkoordinierung kommen die Staatskanzleien und Staatsministerien in wechselnder Qualität nach. Zu beobachten ist, dass den Regierungszentralen die Ressortintervention, also das Ansichziehen von Einzelfragen und Themen, leichter fällt, als die Ressortkoordinierung im Sinne einer Disziplinierung und Konfliktregulierung, was beides eine gewisse Nachhaltigkeit verlangt.
Die Erwartungen an einen Nationalen Sicherheitsrat, er werde das Veto- und Blockadepotenzial von Koalitionsregierungen oder auf Einvernehmen angelegter Ressortabstimmungen wesentlich verringern oder gar beseitigen, ist ungerechtfertigt optimistisch. Allerdings wird anders herum ein Schuh daraus: Wenn die Bereitschaft von Kanzlerin bzw. Kanzler besteht, in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik die Ressorts zu koordinieren oder gar initiativ zu lenken, dann ist ein Nationaler Sicherheitsrat ein geeignetes Instrument. Und dann muss er zwingend ins Bundeskanzleramt integriert werden.
2.2) Politische Planung und Entscheidungsvorbereitung
„Vorschläge machen, Ideen entwickeln, Optionen vorstellen“,
das erwartet Kramp-Karrenbauer von einem Nationalen Sicherheitsrat und wird damit vergleichsweise konkret.
Laschet wünscht sich von ihm
„strategische Vorausschau“, die Analyse der „strategischen Lage des Landes“ und die Formulierung der „strategischen Antworten der Bundesregierung“ auf die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen.
Die Münchener Sicherheitskonferenz erhofft sich die
„systematische Erarbeitung von Politiken zu komplexen Themen“
und nennt Klima Außenpolitik und Künstliche Intelligenz als Beispiele.
So unscharf dieser Teil des Aufgabenkatalogs auch ausfällt, ähnelt er doch stark dem, womit z.B. die Planungsstäbe im Auswärtigen Amt und im Bundesverteidigungsministerium beschäftigt sind. Seine Befürwortenden stellen sich den Nationalen Sicherheitsrat als ressortübergreifenden Planungsstab und „Denkfabrik“ vor.
Die Münchner Sicherheitskonferenz weist dem Nationalen Sicherheitsrat die Aufgabe zu, eine „Nationale Sicherheitsstrategie“ zu formulieren, ein „regelmäßig vorzulegendes nationales Strategie-Dokument“, wie es auch andere Staaten veröffentlichen, aber für Deutschland fehlt. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht in „eine[r] ressortübergreifend abgestimmte[n] Gesamtstrategie mit den Zielen und Prioritäten der deutschen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik“ die Leitlinie für die Arbeit des Nationalen Sicherheitsrates.
Es fällt auf, dass die Entscheidungsvorbereitung weit weniger Aufmerksamkeit erhält als die Politische Planung. Als deren wichtigstes Produkt wird ein Super-Weißbuch zur Außen- und Sicherheitspolitik (im weitesten Sinne) angesehen.
2.3) Lageanalyse und Krisenmanagement
Bereits in der Vergangenheit bot das Management aktueller Krisen Anlass für Forderungen nach einer Reform des außen- und sicherheitspolitischen Apparats, bei denen die Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrats zu einem Nationalen Sicherheitsrat eine wichtige Rolle spielte. Die Vorschläge vor der Bundestagswahl verweisen ebenfalls auf Defizite beim Krisenmanagement der Bundesregierung und sehen die Lösung in einem Nationalen Sicherheitsrat. Die Argumente können indes nicht immer überzeugen.
Voraussetzung für ein erfolgreiches Management von Krisen ist, dass sie rechtzeitig als solche erkannt werden, auch und gerade von den maßgeblichen Entscheidern. Die Münchener Sicherheitskonferenz will „Lagefeststellung und Lagebeurteilung“ mit der Krisenmanagement-Funktion verknüpft wissen.
Noch deutlicher wird der Gesprächskreis der Nachrichtendienste (GKND):
„Gesamtlagefeststellung und Lagebeurteilung sind sachlogisch eine ressortübergreifende Aufgabe, die einen gemeinsamen fachlichen – und nicht politischen – Ansatz der unterschiedlichen Ressourcen und Kompetenzen erfordert … [Sie] dürfen nicht Verhandlungssache zwischen partei- und hauspolitisch geprägten Ressorts sein. Der Streit um die besten Lösungen darf nicht bereits auf der vorgelagerten Ebene der kognitiven Erfassung und Bewertung komplexer Realität beginnen.“
Tatsächlich wurde das Lagezentrum der Bundesregierung für Außen- und Sicherheitspolitik im Sommer 2019 im Auswärtigen Amts eingerichtet, nicht in der Regierungszentrale. Bundeskanzleramt, Innen- und Verteidigungsministerium sind beteiligt.
Wer einen Nationalen Sicherheitsrat mit Augen und Ohren will, der aktuell und umfassend informiert ist, muss ihm ein Lagezentrum zur Seite stellen. Um dem Auswärtigen Amt nichts wegzunehmen und weil Redundanz sinnvoll sein kann, wäre an ein zweites, besser wohl: erstes Langezentrum im Kanzleramt zu denken. Hierfür spricht auch, dass dort bereits die Koordinierung der Nachrichtendienste angesiedelt ist. Wer das vom GKND formulierte Gebot beherzigen will, eine unpolitische Lagefeststellung und -analyse von der Beratung politischer Schlussfolgerungen und Handlungsmöglichkeiten zu trennen, der sollte im Unterstützungsapparat und in der Vorbereitung des Nationalen Sicherheitsrats für eine organisatorische Trennung beider Funktionen sorgen.
Insgesamt fällt auf, dass die Vorstellungen von dem, was der Nationale Sicherheitsrat leisten soll, eher als Wunschliste, denn als Bauanleitung oder Gebrauchsanweisung formuliert sind.
3) Das US-amerikanische Original: Der National Security Council (NSC)
An den Vorschlägen für einen Nationalen Sicherheitsrat für die Bundesrepublik ist zudem bemerkenswert, dass vom US-amerikanischen Original die Bezeichnung wortgetreu übernommen werden soll, es ansonsten aber kurzerhand als untaugliches Vorbild verworfen wird. Statt aus 74 Jahren Erfahrungen mit dem NSC zu lernen, schaut man auf die 13 bzw. 11 Jahre alten Nachbildungen in Großbritannien und Japan. Der NSC sei viel zu groß. Die Rahmenbedingungen eines präsidialen Regierungssystems einfach nicht mit deutschen Verhältnissen vergleichbar. Die starke Zentralisierung der Außen- und Sicherheitspolitik im US-Präsidialamtsei ein abschreckendes Beispiel.
Wirklich überzeugend sind diese Ablehnungsgründe nicht. Der Ausbau des NSC vom Stab zueiner Behörde und die Zentralisierung der Außen- und Sicherheitspolitik im Weißen Haus sind zwei Seiten derselben Medaille, die beide vom Präsidialsystem geprägt sind. Und das britische und das japanische System mit ihrer Ein-Parteien-Regierung sind mit den Koalitionsregierungen in Deutschland ebenfalls nur eingeschränkt vergleichbar. Die offene deutschsprachige Literatur zum NSC ist zwar überschaubar. Aber der NSC der USA ist gründlich untersucht. Die Forschungsergebnisse bieten Antworten auf die Fragen: Welche Funktionen erfülltder NSC? Welche stärker, welche weniger gut? Welche Schwächen und Risiken sind mit ihm verbunden? Sind die Erwartungen gerechtfertigt, welche die Befürwortenden in Deutschlandan einen Nationalen Sicherheitsrat knüpfen?
Zentral für das Verständnis des NSC ist, dass sich hinter dem Begriff dreierlei verbirgt: Das Sicherheitskabinett, das NSC-System zur interministeriellen Koordinierung und Entscheidungsvorbereitung und der Stab des Präsidenten, der ihn informiert, berät und unterstützt und das NSC-System steuert.
3.1) Der NSC als Sicherheitskabinett
Ursprünglich wurde der NSC von seinen Befürwortern als Sicherheitskabinett konzipiert. Der Präsident sollte in ein kollegiales Beratungsorgan eingebunden, außen- und sicherheitspolitischer Rat sollte ihm zwangsangedient werden. Insofern war der NSC die organisatorische Antwort auf den Führungsstil von Präsident Roosevelt, der zu einsamen und für die großen außen- und sicherheitspolitischen Apparate intransparenten ad hoc-Entscheidungen neigte.
Die zugrundeliegenden Beweggründe, nämlich der entscheidenden Person an der Spitze durch organisatorische Vorkehrungen Beratung und Unterstützung zuzuführen, um damit ihre Defizite auszugleichen oder die Qualität ihrer Entscheidungen zu verbessern, sind nicht neu. Ideengeschichtlich lassen sich alle Stäbe auf dieses Motiv zurückführen. Es scheint auch durch die o.g. Vorschläge für einen Nationalen Sicherheitsrat für Deutschland hindurch, denen eine Unzufriedenheit darüber anzumerken ist, dass Kanzlerin Merkel das außen- und sicherheitspolitische Potenzial Deutschlands nicht voll ausgeschöpft habe.
Alle Versuche einer Zwangsberatung finden ihre Leistungsgrenze in den Eigenschaften und im Arbeitsstil der Person, für die sie gedacht sind. Denn Ratschläge können bekanntlich auch als Schläge empfunden werden. Alle US-Präsidenten haben deutlich gemacht, dass der NSC als Sicherheitskabinett lediglich beratende Funktion habe, sie in ihrer Entscheidungsfreiheit keinesfalls einengt. In seiner Rolle als Sicherheitskabinett, häufig auch als „full NSC“ angesprochen, ist der NSC die Ausnahme geblieben und nicht die Regel, weil das Kabinett im präsidialen Regierungssystem eben kein Kollegialorgan ist.
Aufschlussreich sind die Bedingungen, unter denen der Präsident vom „full NSC“ Gebrauch macht. In Krisensituationen signalisiert seine Einberufung den Medien und der Öffentlichkeit, dass man tätig geworden ist, eine Situation sehr ernst nimmt und gemeinsam auf allerhöchster Ebene um Antworten ringt. Das vollständige Sicherheitskabinett in einen Entscheidungsprozess einzubinden, verleiht dem Ergebnis Legitimation und übt einen Zwang zur Loyalität aus. Beide Funktionen kann auch ein Nationaler Sicherheitsrat im Regierungssystem der Bundesrepublik erfüllen. Seine Chancen, zum Ort gemeinsamer Beratungen und Entscheidungen zu werden, sind wegen der Stellung des Bundeskabinetts als Kollegialorgan größer als die des „full NSC“ in den USA. Gleichwohl wird auch in der Regierungspraxis der Bundesrepublik die Rolle eines Sicherheitskabinetts durch informelle, kleinere und vertraulichere Runden relativiert.
3.2) Der NSC als Koordinierungssystem und -prozess
Die Funktion des Hilfsorgans bei der Entscheidungsfindung korrespondiert zwar eng mit dem Motiv der (Zwangs)beratung. Aber in der Rolle als „zentrale(s) Nervensystem“ des außen- und sicherheitspolitischen Regierungsapparats war der NSC ungleich erfolgreicher als in der des Beratungsgremiums. Alle Präsidenten haben die Vorzüge eines NSC-Systems erkannt, das Informationen beschafft, Vorlagen erarbeitet, Entscheidungsprozesse für die Beteiligten nachvollziehbar und damit legitim steuert, Entscheidungsvorschläge formuliert, kommuniziert, Verantwortlichkeiten benennt und die Umsetzung verfolgt. Als wichtigstes Gremium des NSC-Systems hat sich nicht der „full-NSC“ erwiesen, sondern das Deputies Committee, der Ausschuss, treffen der: die Arbeitsgruppe der Stellvertreter der Ressortchefinnen und -chefs. Hier werden Handlungsmöglichkeiten entwickelt und abgewogen, vorläufige Verfahrensentscheidungen getroffen, schwierige Fragen an Facharbeitsgruppen delegiert, wiederaufgegriffen und zur Entscheidungsreife für die Ressortchefs (principals) vorangetrieben. Auf dieser Ebene wird die Hauptarbeit der Ressortkoordinierung geleistet und auch die des Krisenmanagements. Den Vorsitz des Stellvertreter-Ausschusses führt meist der stellvertretende Sicherheitsberater des Präsidenten.
Der Sicherheitsberater bzw. die Sicherheitsberaterin steht auf derselben Ebene wie die Ressortchefs. In seiner Person sind zwei Rollen vereinigt, desjenigen, der die Integrität des Koordinierungs- und Entscheidungsfindungsprozesses gewährleistet, und desjenigen, der den Präsidenten außen- und sicherheitspolitisch berät, unabhängig von den Ressorts. Beide Rollen geraten gelegentlich in Konflikt miteinander. Ursprünglich von Präsident Eisenhower der Position des Chefs des Stabes in militärischen Stäben nachempfunden, bauten Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski die Position des Sicherheitsberaters zum wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Akteur neben und gelegentlich auch vor dem Präsidenten aus. Das Gegenmodell ist das eines Sicherheitsberaters als Mediator zwischen den Ressorts, der dem Prozess verpflichtet ist und nur in Ausnahmefällen eine eigene Position markiert.
Das NSC-System hat sich als sehr flexibel erwiesen und je nach Bedarf und Dringlichkeit neue Arbeitsgruppen und Ausschüsse ins Leben gerufen und auch wieder aufgelöst. Diese Flexibilität kommt dem Wunsch nach Vernetzung am nächsten, der in der deutschen Diskussion vorgebracht wird. Aber auch die Anpassungsfähigkeit des NSC-Systems konnte nicht verhindern, dass drängende Aufgaben in negativen Kompetenzkonflikten zwischen Ressorts stecken blieben. Als Lösung bleibt dann nur, dass der NSC-Stab die Aufgabe an sich zieht.
Kissinger führte als Sicherheitsberater ein Verfahren in das NSC-System ein, das sich bewährt hat und bis heute fortgeführt wird. Themen, zu denen die Regierung eine Position entwickeln muss, wurden in Form eines National Security Study Memorandum zur Prüfung an die Verwaltung überantwortet. Diese Arbeitsaufträge ergingen schriftlich, legten das federführende Ressort fest und wurden mit Eckpunkten (terms of reference) versehen, die deutlich machten, welche Reichweite der Auftrag haben sollte und welche Fragen zu adressieren waren. Die Prüfungsergebnisse wurden im NSC-System zu Entscheidungsvorlagen verdichtet und mündeten in ein National Security Decision Memorandum, eine präsidentielle Direktive. Die innovative Besonderheit des Verfahrens bestand darin, dass die Entscheidungsvorlagen in unterschiedliche Handlungsoptionen münden sollten, statt in einer konsentierten Empfehlung. Der Zwang für die Ressorts, Einvernehmen erzielen zu müssen, fiel fort. Zeitraubende Einigungsgespräche wurden entbehrlich. Statt eine scheinbar alternativlose Kompromissempfehlung auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners „abnicken“ zu sollen, wurden dem Präsidenten Entscheidungsmöglichkeiten mit ihren Konsequenzen dargelegt. Besonders gut eignen sich die Study Memoranda dafür, zu Beginn einer neuen Amtszeit etablierte Politiken kritisch zu überprüfen, neue Themen zu setzen und gegenüber den außen- und sicherheitspolitischen Apparaten die Initiative zu ergreifen. Hiervon sollte allerdings mit Augenmaß Gebrauch gemacht werden, um das NSC-System – oder dessen deutsches Pendant – nicht zu überlasten.
3.3) Der NSC-Stab
Am erfolgreichsten war und ist der NSC als außen- und sicherheitspolitischer Stab des Präsidenten. Mit seiner Hilfe kann der Regierungschef außen- und sicherheitspolitische Initiativen ergreifen und die Umsetzung seiner Entscheidungen verfolgen und durchsetzen. Beim Sicherheitsberater und seinen Mitarbeitenden kann er Rat einholen, der unabhängig von den Interes-sen und Positionen der Ressorts ist. Immer dann, wenn Präsidenten die Erfahrung machten, dass die Ressorts ihnen schlechte Dienste leisten, regierten sie damit, dass sie den NSC-Stab ausbauten und ihm mehr Aufgaben und Einfluss verschafften.45 Heutzutage ist der NSC-Stab auf die Größe einer kleinen Behörde angewachsen.46 Die Ressorts wiederum beklagten sich daraufhin über die Zentralisierung der Außen- und Sicherheitspolitik im Weißen Haus und Mikromanagement durch den NSC-Stab.
So ist es nicht verwunderlich, wenn von den Befürwortenden eines Nationalen Sicherheitsrates für Deutschland mit seinem Ressortprinzip am NSC der USA vor allem die Zentralisierung des Entscheidungsprozesses und das Wachstum des NSC-Stabes beargwöhnt wird. Dabei werden die Ursachen für diese Entwicklung gelegentlich vernachlässigt.
Der Vorteil eines personell gut ausgestatteten außen- und sicherheitspolitischen Stabes in der Regierungszentrale besteht aus Sicht der Ressorts darin, auf der Arbeitsebene kompetente Ansprechpersonen für ihr Anliegen finden zu können, die ihrerseits Zugang zum Sicherheitsberater oder Regierungschef haben. So kann die Regierungszentrale fortlaufend und einfach unterrichtet und eingebunden werden. Auch lässt sich die Autorität der Regierungszentrale für Ressortinitiativen und -aktivitäten nutzen. Eine enge Abstimmung zwischen Ressort und Regierungszentrale erschwert es ausländischen Partnern, beide gegeneinander auszuspielen.
Allzu berechtigt ist indes die Sorge, der sicherheitspolitische Berater des Regierungschefs könnte mit dessen Unterstützung und mithilfe seines leistungsfähigen Stabes aus der koordinierenden und beratenden Rolle heraustreten und der Versuchung erliegen, außen- und sicherheitspolitisch operativ zu werden. Der NSC liefert dafür berühmte und berüchtigte Vorbilder. Zwar dürften Kanzlerinnen und Kanzler auch künftig in Ausnahmefällen besondere Missionen engen Vertrauten aus dem Kanzleramt übertragen. Aber anders als im präsidialen Regierungssystem der USA setzt in Deutschland das Ressortprinzip in Verbindung mit Koalitionszwängen operativen Versuchungen des Sicherheitsberaters engere und schärfere Grenzen.
Was Informationszugang und Lagebild betrifft, so hatte sich bereits Kennedys Sicherheitsberater McGeorge Bundy in den 1960er Jahren lesenden Zugriff auf die Kommunikation zwischen Außenministerium, Verteidigungsministerium und CIA mit den diplomatischen Vertretungen im Ausland verschafft und im Weißen Haus ein Lagezentrum einrichten lassen.
Was die Aufgabe betrifft, eine Nationale Außen- und Sicherheitsstrategie zu formulieren, so wird auch sie vom NSC-Stab erfüllt, spielt aber eine gänzlich untergeordnete Rolle. Die Gründe zeigt auch das deutsche Beispiel auf. Es ist gewiss kein Zufall, dass der zeitliche Abstand zwischen den „Weißbüchern zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr“ erheblich ist, wie die Münchener Sicherheitskonferenz kritisch feststellt. Der Abstimmungsaufwand für regierungsamtliche „schöne Literatur“ ist ganz beträchtlich, weswegen sie von den Bürokratien als zeit- und kraftraubende Strafarbeiten gefürchtet sind. Im Zeitpunkt ihres Erscheinens sind die Strategiedokumente und Weißbücher bereits veraltet. Antworten auf konkrete Herausforderungen vermögen sie ohnehin nicht zu geben.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Erfahrungen mit dem NSC-System in den USA sehr wohl instruktiv für die Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrats sind. Die Ressortkoordinierung ist Kernkompetenz des NSC-Systems. Die zentrale Rolle des Deputies Committee legt es nahe, dem Bundessicherheitsrat eine Staatssekretärskonferenz vorzuschalten. Zusätzliche Arbeitsgruppen oder Ausschüsse verleihen Anpassungs- und Handlungsfähigkeit, verlangen aber einen NSC-Stab und einen Sicherheitsberater oder eine Sicherheitsberaterin mit Autorität, der bzw. die die Prozesse steuert und zu Ergebnissen führt. Wer neben Koordinierung von einem Nationalen Sicherheitsrat auch Ideen, Optionen und sogar Initiativen wünscht, sollte sich an den Study Memoranda ein Beispiel nehmen. Wer besseres Krisenmanagement erhofft, dem sollte zu denken geben, dass sich der NSC-Stab bereits in den 1960er Jahren aus der Rolle des informationellen Kostgängers der Ressorts befreit hat. Wer hofft, durch einen Nationalen Sicherheitsrat als Kabinettsausschuss die Ressortchefs mit dem Regierungschef zu einem häufig und intensiv tagenden Diskussions- und Beratungsgremium zu formen, das der Außen- und Sicherheitspolitik größere Aufmerksamkeit widmet als in der Vergangenheit, sollte erkennen, dass diese Absicht wenig Aussicht auf Verwirklichung hat.
4.) Was tun?
Auf dem Weg von der Wunschliste zum Bauplan und zur Gebrauchsanweisung gibt es einigeszu bedenken und zu entscheiden. Wenn die „ratlose“ Zeit beendet werden soll, wäre es ratsam, den Sachverstand zu mobilisieren, der im außen- und sicherheitspolitischen Apparat Deutschlands vorhanden ist und die Praktikerinnen und Praktiker nach ihren Vorschlägen zufragen. Daher nachfolgend lediglich Empfehlungen zu den Punkten, die sich nach der vorstehenden Kurzbetrachtung aufdrängen.
4.1) Der Name ist Programm
Wenige Staaten sind auf so vielfältige Weise in trans-, supra- und internationale Gremien, Organisationen, Bündnisse und Staatenbünde integriert wie die Bundesrepublik Deutschland. Die Integration in die Europäische Union und in die NATO sind Teil unserer Staatsräson. Warum muss die neue Einrichtung dann Nationaler Sicherheitsrat heißen? Soll mit dem Namen bewusst einer Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik Ausdruck verliehen werden? Wenn nicht, dann sollte „Bundessicherheitsrat“ ausreichend und angemessen sein. Wenn die Befürwortenden vom US-Modell wenig mehr als den Namen übernehmen wollen, droht ohnehin Verwechslungsgefahr oder sogar Etikettenschwindel. Die Bezeichnung „Nationaler Rat für Frieden, Nachhaltigkeit und Menschenrechte“ ist zwar sehr programmatisch, aber hinsichtlich der „traditionellen“ Außen-, Sicherheits-, Europa- und Entwicklungspolitik nicht inklusiv und gleichfalls nationalistisch statt internationalistisch konnotiert.
4.2) Koordinierung verlangt Koordinierende
Wenn Koordinierung die Kernaufgabe sein soll, dann ist der Bundessicherheitsrat als beratender und beschlussfassender Kabinettsausschuss weniger wichtig. Seine Hauptfunktion wäre die der letzten Entscheidungsinstanz in einem System der Ressortkoordinierung und -planung. Ein Bundessicherheitsrat-System analog zum NSC-System benötigt eine Geschäftsführung, die organisatorisch dort aufgehängt ist, wo die Aufgabe der Ressortkoordinierung verortet ist: im Bundeskanzleramt. Und es benötigt Koordinierende. Um den Regierungschef in außen- und sicherheitspolitischen Fragen entlasten zu können, sollte die Sicherheitsberaterin oder der Sicherheitsberater den Rang einer Staatsministerin bzw. eines Staatsministers im Kanzleramt erhalten und der Staatssekretärskonferenz vorsitzen, die dem Bundessicherheitsrat vorgeschaltet ist. Die Staatssekretärskonferenz sollte zum zentralen Gremium des Bundessicherheitsrat-Systems ausgestaltet werden. Sie soll Aufträge an die Ressorts geben, z.B. analog den Study Memoranda im NSC-System, und Ausschüsse und Arbeitsgruppen berufen und auflösen und über Entscheidungsvorlagen für den Bundessicherheitsrat beschließen.
4.3 Stabsfunktionen; Krisenmanagement benötigt Lagefeststellung und Lagebeurteilung
Der Sicherheitsberaterin bzw. dem Sicherheitsberater im Kanzleramt sollten die drei Abteilungen für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, für Europapolitik und für die Koordinierung der Nachrichtendienste des Bundes weisungsabhängig unterstellt werden. Die Geschäftsführung (Büroleitung) von Bundessicherheitsrat, Staatssekretärskonferenz und den Ausschüssen und Arbeitsgruppen sollte innerhalb der Abteilung für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik angesiedelt und von den fachlich und beratend arbeitenden Referaten getrennt werden. Die Koordinierung der Nachrichtendienste des Bundes wird ausdrücklich um die Aufgaben ressortübergreifende Gesamtlagefeststellung und Lagebeurteilung erweitert und ein vollwertiges Lagezentrum aufgebaut. Die organisatorische Trennung zwischen den Abteilungen für Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik und Europapolitik einerseits und der nachrichtendienstlichen Abteilung mit Lagezentrum andererseits sollte aufrechterhalten werden.
5.) Neue Entwicklungen und neue Einwände
Die Vorschläge für einen Nationalen Sicherheitsrat und für eine Nationale Sicherheitsstrategiewaren Gegenstand der Sondierungsgespräche zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund FDP. Die Sondierenden einigten sich auf die Absicht, eine Nationale Sicherheitsstrategievorlegen zu wollen. Mit seiner Äußerung, man habe sich auf einen Nationalen Sicherheitsratverständigt, ging FDP-Chef Christian Lindner über die schriftlichen Ergebnisse hinaus. Ermachte damit öffentlich, welcher der drei Partner sich diesem Projekt verpflichtet fühlt.
Zum 1. Oktober 2021 veröffentlichte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politikwohl nicht zufällig im IPG-Newsletter der Friedrich-Ebert-Stiftung vier Einwände gegen dasVorhaben, mit dem sich dessen Befürwortende „[a]uf dem Holzweg“ befänden. Den Defiziten deutscher Außenpolitik, insbesondere ihrer Konzeptionslosigkeit, könne ein Nationaler Sicherheitsrat nicht abhelfen.
Im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik mit seinen Koalitionszwängen,so der erste Einwand, könne ein Nationaler Sicherheitsrat niemals die Wirkung entfalten wie sein Original im Präsidialsystem der USA.
„Im besten Fall wäre er unnötig, weil die Konsensfindung im Kabinett bzw. im Koalitionsausschuss stattfindet; im schlechtesten Fall wäre er blockiert.“
Ohne Frage ist das NSC-System für das präsidentielle Regierungssystem der USA optimiert. Doch sollte zu denken geben, dass auch Staaten mit parlamentarischen Regierungssystemen das US-Vorbild für ihre Zwecke adaptiert und beibehalten haben. Die erfahrungsgemäß wichtigsten Funktionen des NSC-Systems, interministerielle Koordination, Vorbereitung von Regierungsentscheidungen und Krisenmanagement, zahlen auf das anerkanntermaßen größte Defizit des außen- und sicherheitspolitischen Apparats der Bundesregierung ein. In einem parlamentarischen System mit Koalitionsregierung kommt diesen Funktionen noch größere Bedeutung zu als im Präsidialsystem. Der Bestfall Kaims ist der Normalfall im NSC-System der USA: Herausforderungen werden bis zur Entscheidungsreife des Sicherheitskabinetts gründlich und sorgfältig interministeriell abgestimmt. Der NSC ist das Sicherheitskabinett. Die Vorstellung, außen- und sicherheitspolitische Fragen regelmäßig an den Koalitionsausschuss zu delegieren, kann niemanden überzeugen, der eine aktive, sachlich-fachlich rational vorbereitete und berechenbare Außen- und Sicherheitspolitik anstrebt, die nicht häufiger als nötig innenpolitischen Opportunitätskalkülen unterworfen wird. Sie dürfte nicht einmal den Mitgliedern des Koalitionsausschusses behagen. Kaims schlechtester Fall ähnelt stark der Beschreibung des status quo ante der Debatte über einen Nationalen Sicherheitsrat für die Bundesregierung. Warum nicht den Versuch wagen, die Stärken des NSC-Systems für die außen-und sicherheitspolitische Koordinierung der neuen Bundesregierung fruchtbar zu machen?
Der zweite Einwand lautet, dass die Vorschläge für einen Nationalen Sicherheitsrat sich auf die Exekutive beschränken und die Rolle des Bundestages verkennen, insbesondere in Bezug auf den Haushalt und bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Der Vorschlag suggeriere eine „strategische Geschlossenheit“, … „wo es keine geben kann“.
Hier wird mit voller argumentativer Kraft auf einen Strohmann eingedroschen. Kaim unterstellt einen Anspruch, der gar nicht erhoben wurde. Die Befürwortenden eines Nationalen Sicherheitsrates für die Bundesregierung haben nie behauptet, damit und mit einer Nationalen Sicherheitsstrategie „strategische Geschlossenheit“ herstellen zu können. Die Münchener Sicherheitskonferenz will das „Handicap für die Konzipierung und Umsetzung deutscher Außenpolitik“ durch „[e]ffektive Koordinierungsmechanismen innerhalb der Bundesregierung ein Stück weit kompensieren“ (Hervorhebung durch den Verfasser). Einem Organisationsreformvorschlag für die Exekutive kann nicht zum Vorwurf gemacht werden, er vernachlässige Parlamentsfunktionen. Er darf die Funktionen des Bundestages nicht tangieren. Wer diese Kritik gedanklich zu Ende führt, wird vor dem Ergebnis stehen, dass eine vollkommene „strategische Geschlossenheit“ nur für den prohibitiven Preis der Aufgabe der Gewaltentrennung zu haben sein dürfte.
Viel aufschlussreicher ist der Hinweis auf die Rolle des Bundestages in anderer Hinsicht: In einem parlamentarischen Regierungssystem kann sich die Regierung im Normalfall auf eine parlamentarische Mehrheit stützen, die ihre Entscheidungen legitimiert, ihnen eine a priori-Akzeptanz verleiht und große Chancen auf Durchsetzung und auf Nachhaltigkeit. Im NSC-System der USA hat der Präsident zwar ungleich größere Vollmachten und Handlungsspiel-räume. Aber er muss sich parlamentarische Mehrheiten für seine Politik immer wieder neu suchen, selbst dann, wenn seine Partei über eine rechnerische Mehrheit in einer Parlamentskammer verfügt. Im Vergleich zum US-Kongress, an dem internationale Verträge scheitern und der Mühe hat, Haushalte rechtzeitig zu verabschieden, wirkt der Bundestag wie ein Musterbeispiel für Verlässlichkeit. Der Einwand die selbständige Rolle des deutschen Parlaments entwerte die Bedeutung eines Nationalen Sicherheitsrates, erweist sich bei näherer Prüfung nicht als stichhaltig, sondern lässt sich umkehren.
Der dritte Einwand lautet, dass die Befürwortenden des Nationalen Sicherheitsrates den Beleg schuldig geblieben seien, welche außenpolitischen Entwicklungen der Regierung Merkel mit einem Nationalen Sicherheitsrats besser ausgefallen wären. Dagegen habe der NSC die Außenpolitik der USA nicht vor Inkohärenz und Fehlern bewahrt.
Beide Argumente sind im Ansatz zutreffend, aber dennoch nicht durchgreifend. Seinen Befürwortenden zufolge soll ein Nationaler Sicherheitsrat für die Bundesregierung fehler- und mangelhafter Koordinierung entgegenwirken. Als Garant für eine fehlerfreie Außen- und Sicher-heitspolitik wird er nicht angepriesen. In der Tat zeigt das Beispiel des NSC in den USA, dass dies ein falsches Versprechen wäre. Kaims Kritik, die Argumente für den Nationalen Sicherheitsrat seien „durchweg abstrakt“, es fehle an konkreten Beispielen für dessen Nutzen, ist einerseits nicht unberechtigt. Andererseits ist die Forderung nach einem empirischen Beweis methodisch nicht zu erfüllen und deshalb überzogen. Regierungshandeln findet nicht unter Laborbedingungen statt und ist alternativen Versuchsanordnungen nicht zugänglich. Mit seinem Einwand fordert Kaim zu einem Tabubruch auf, wissend, dass niemand seiner Aufforderung öffentlich folgen wird. Denn die Forderung nach einem Nationalen Sicherheitsrat kommt überwiegend von denen, die in den letzten 16 Jahren an der Außenpolitik der Regierung Merkel tatkräftig mitgewirkt haben. Sie beklagen deren Koordinierungsdefizite abstrakt, weil sie Selbstbezichtigung und Illoyalität vermeiden wollen. Auch wenn sie den Beweis dafür schuldig bleiben muss, so wiegt schwer, dass sich die außen- und sicherheitspolitische Funktionselite einig darin ist, dass ein Nationaler Sicherheitsrat ein tauglicher Versuch wäre, erkannte Defizite aufzuarbeiten.
Der vierte Einwand lautet, der Vorschlag eines Nationalen Sicherheitsrates adressiere das falsche Problem: „Ein Konzeptionsproblem wird mit einem Koordinationsproblem verwechselt.“ Das eigentliche Problem deutscher Außen- und Sicherheitspolitik liege darin, dass der außenpolitischen Klasse die Bereitschaft und das Interesse fehle, sich jenseits der Tagespolitik vorausschauend mit der übernächsten Krise zu befassen und konzeptionell voraus zu denken.
Dieser Einwand trägt den Absender „politikberatende Wissenschaft“ und hat aus dieser Perspektive gewiss seine Berechtigung. Allerdings könnte er umstandslos von der Außen- und Sicherheitspolitik auf beliebige andere Politikbereiche erweitert werden. Politik in der schnelllebigen Medien- und Kommunikationsgesellschaft reagiert stets atemlos auf die letzte und größte Krise. Dies kann man beklagen und wird von den betroffenen Akteuren häufig genug selbst beklagt. Aber wie ist dieses Muster zu ändern? Leider deutet Kaim keine Lösungsvorschläge an.
Wenn Außen- und Sicherheitspolitik reaktiv strukturiert ist, ist es dann falsch die Qualität dieser Reaktionen verbessern zu wollen? Wenn mehr konzeptioneller Tiefgang von Entscheidungen verlangt wird, dann ist ein Bundessicherheitsrats-System, das nach dem Vorbild des NSC-Systems Pfadabhängigkeiten und Konsequenzen von Handlungsalternativen ausleuchtet und Reaktionsmöglichkeiten auf Krisen prüft, bevor sie Breaking News werden (vgl. oben 3.2), zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
6.) Chancen, Risiken und Interessen
Die Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrats zum Nervenzentrum eines neuen Systems der Ressortkoordinierung, Entscheidungsvorbereitung und des Krisenmanagements für Außen- und Sicherheitspolitik eröffnet eine Reihe von Chancen: Abstimmungsprozesse ließen sich routinierter und mit weniger Reibungsverlusten organisieren. Entscheidungen des Sicherheitskabinetts könnten systematischer, gründlicher und inklusiver vorbereitet werden. Politische Initiativen wären leichter in die Ministerialbürokratie einzuspeisen, insbesondere solche, die nicht eindeutig in bestehende Ressortzuständigkeiten fallen. Mit fachlich unabhängiger, aber organisatorisch integrierter Lagefeststellung und Lagenanalyse ließe sich die Krisenreaktionsfähigkeit der Bundesregierung verbessern. Wenn diese Organisationsreform gelänge, würde die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik reaktionsschneller, anpassungs-, handlungs- und insgesamt leistungsfähiger.
Die Risiken bestehen in zwei Formen des Scheiterns. In der oben skizzierten Form (vgl. 4.) könnte das Bundessicherheitsrats-System, erstens, für eine stärkere Zentralisierung der Außen- und Sicherheitspolitik im Kanzleramt statt für deren Koordinierung durch das Kanzleramt genutzt werden. Auf eine solche Machtverlagerung würden die Ressorts mit Widerstand reagieren. Statt reibungsfreierer Ressortkoordinierung wären Rivalitäten und wechselseitige Blockaden die Folge. Ab einem bestimmten Punkt würden die Konflikte in den Koalitionsausschuss eskalieren. Dieses Risiko lässt sich dadurch verringern, dass die Schlüsselpositionen im Bundessicherheitsrats-System, allen voran die der Staatsministerin bzw. des Staatsministers im Kanzleramt, mit Personen besetzt werden, die sich zu allererst der Koordinierungsfunktion verpflichtet fühlen. Auch wenn es ungewöhnlich und eine Herausforderung sein mag, aber vielleicht ließe sich diese Personalie im Einvernehmen der drei Koalitionspartner entscheiden.
Das Bundessicherheitsrats-System könnte, zweitens, durch Nichtgebrauch scheitern. Die SPD hat auf die Vorschläge für einen Nationalen Sicherheitsrat sehr zurückhaltend reagiert und keine Position bezogen. Auf die Gefahr der Überinterpretation hin scheint der Beitrag für die Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. 5.) doch die Nachfrage nach Ablehnungsgründen zu bedienen. Jedenfalls ist keineswegs selbstverständlich, dass Kanzler und Kanzleramtschef oder -chefin sich mit der Reform anfreunden und sie sich zu eigen machen. Letzteres ist aber Voraussetzung für deren Gelingen. Wird der Reformvorschlag kein gemeinsames Modernisierungsprojekt, sondern endet er als Zugeständnis an die FDP, so droht sein stilles Scheitern.
Ausschlaggebend dürfte die Interessenlage des größten Koalitionspartners sein. Ein Bundessicherheitsrats-System mag zwar die Chancen für eine aktivere Außen- und Sicherheitspolitik verbessern. Aber vielleicht ist das von der SPD gar nicht gewollt? Polemisch zugespitzt: Aus demselben Grund, aus dem maßgebliche Akteure in der SPD Drohnen für die Bundeswehr abgelehnt haben, könnten sie auch ein Bundessicherheitsrats-System ablehnen: Weil es für den Zweck, für den es entwickelt und optimiert wird, tatsächlich auch genutzt werden kann.