Mutmaßlicher Landesverrat zu Lasten des BND - Teil 2
Anmerkungen zur weiteren Konturierung des Falls
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Dr. Gerhard Conrad
Das Medienecho auf den mutmaßlichen Verratsfall Carsten L. ist mittlerweile ebenso vielfältig wie detailreich und teilweise dramatisierend:
Der Fall – so jüngst – erschüttere den Bundesnachrichtendienst, er schade seinem Ruf als Partner im Verbund der Westgeheimdienste – ausgerechnet in einer Zeit, in der Russland Krieg gegen die Ukraine führe. Gerade jetzt komme es auf den sicheren Austausch geheimster Informationen an. Und ausgerechnet da lande heikelstes Material aus dem BND in Moskau. Es sei für den Dienst ein Worst-Case-Szenario – und eine peinliche Panne.
Der BND spüre die Folgen des Skandals bereits. Während die Spitzen anderer Dienste offiziell betonten, man wolle mit den Deutschen kollegial wie bisher kooperieren, bemerkten die Geheimen auf der Arbeitsebene deutliche Zurückhaltung der Nato-Alliierten. Zumindest zeitweise sollen die USA, die Briten und andere Dienste den Informationsfluss nach Berlin gedrosselt haben.
Irritiert habe die Partner auch, wie leicht es Carsten L. offenbar gefallen sei, das hochbrisante Material aus dem BND herauszuschmuggeln und nach Russland bringen zu lassen. Vieles spreche dafür, dass die internen Kontrollmechanismen beim BND versagt hätten. Deutliche Warn-zeichen – Hinweise etwa auf eine rechtsradikale Gesinnung von Beteiligten – seien ignoriert worden.
L. habe sich innerhalb des Dienstes offenbar ein kleines Netz aus meist wohl unfreiwilligen Helfern aufbauen können, ohne dass Vorgesetzte davon etwas bemerkt hätten. Das alles in einer Behörde, die infolge der Affäre um die US-amerikanische NSA in den vergangenen Jahren radikal umgestaltet und mit neuen Kontrollinstanzen versehen worden sei.
Dieser Thriller habe auch tragikomische Züge, auch wenn am Ende wohl nur die Russen darüber lachen könnten. Schon die drei Hauptfiguren wirkten nicht wie gewiefte Agenten.
Wie stets bedient eine Panne, und es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass es eine solche, überaus schmerzliche ist, die Neigung zur Fundamentalkritik, zur empörten Frage, wie denn so etwas überhaupt geschehen könne, gepaart mit der indirekten oder auch offen ausgesprochenen Forderung nach tiefgreifenden, eventuell auch tagespolitisch opportun erscheinenden Konsequenzen aller Art oder auch aller möglichen Sinnfragen. So wird andernorts festgestellt, die Affäre reihe sich in eine Serie von Pleiten, Pech und Peinlichkeiten beim BND ein; Behördenchef Bruno Kahl gerate zunehmend in Erklärungsnot. Angeführt werden in diesem Zusammenhang die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 20214, die bekanntlich keiner (!) der involvierten westlichen Dienste in ihrer taktischen Dynamik prognostiziert hatte. Genannt wird die „Ukrainepleite“, in der der BND sich, ungeachtet der expliziten und konkreten Warnungen der USA und Großbritanniens, lange zurückgehalten habe, wobei hier anzumerken wäre, dass dies auch die hauptbetroffene Ukraine selbst oder auch Frankreich so gehalten hatten. Dasselbe gilt – wie nur in einer kleinen Parenthese im Artikel der Form halber vermerkt - für die Überschätzung der russischen militärischen Möglichkeiten und die Unterschätzung des ukrainischen Widerstandswillen und der inzwischen erlangten Befähigungen. Bekanntlich waren es die USA, die Präsident Zelensky die Evakuierung gleich zu Kriegsbeginn im Angesicht des russischen Angriffs angeboten hatten und erst im Nachhinein anerkennend zugestehen mussten, dass sie sich ganz erheblich getäuscht hatten, ungeachtet aller präzisen Intelligence zu Ukraine und Russland. Darüber wird natürlich kein Wort bei in der Liste von „BND-Verfehlungen“ verloren. Erfreulich immerhin, dass man „zur Ehrenrettung“ (!) des Dienstes dessen Rolle bei der Informationsbeschaffung zum Kriegsverlauf aus Fernmeldeaufklärung zur Kenntnis nimmt; auch die seit Jahren konsistente BND-Berichterstattung zur zunehmenden Problematik Russlands unter Putin wird kulanterweise erwähnt. Was also unter dem Strich bleibt, ist eine Varianz im Ergebnisbild, wie sie auch bei allen anderen Diensten im internationalen Vergleich festzustellen ist, wenn man sich nur die Mühe machen wollte, einmal eine entsprechende Betrachtung anzu-stellen. Nicht umsonst kommt der Fachbegriff „intelligence failure“ aus dem angloamerikani-schen Raum und ist eine – natürlich unwillkommene aber letztlich nicht immer vermeidbare – Begleiterscheinung der Arbeit aller Dienste.
Es bleibt also der Fall Carsten L., der offenbar zu allseitiger „Fassungslosigkeit“ führt, „super-peinlich“ ist und „gleich eine ganze Reihe von Missständen im Innern des BND offenbart, einschließlich „massiver Mängel bei der Überprüfung der Mitarbeiter“.
Auf der Strecke bei all diesen notgedrungen von überwiegend außenstehenden, fremd- oder selbsterklärten Experten geäußerten emphatischen Pauschalurteilen bleibt ein nüchterner Blick auf die derzeit konkret erkennbaren Dimension der Affäre, ihre Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und natürlich auch mögliche praktische Konsequenzen im Sinne eines „lessons learned“. Auf der Strecke bleibt nicht selten auch ein ehrliches, sachbezogenes Bemühen um Problemverständnis und geeignete konkrete Abhilfe, insbesondere auch durch die Identifizie-rung und Überwindung möglicher Schwachstellen, und dies im gemeinsamen sicherheitspolitischen Interesse an einem funktionsfähigen und stabilen Dienst.
Im Interesse einer faktenorientierten Betrachtung sollen daher hier zunächst einmal die derzeit fassbaren zeitlichen und sachlichen Tatmerkmale zusammengestellt und geordnet werden, soweit dies auf der weiterhin notwendig unvollständigen Basis von Indiskretionen aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen an die Medien möglich ist. Hieraus ergibt sich zusammenfassend folgende Chronologie der Ereignisse:
Am 24.10 2020 lernt der ehemalige Bundeswehrsoldat und nunmehrige Geschäftsmann Arthur E. in Moskau den wohlhabenden russischen Unternehmer Visa M. kennen, der im Moskauer Milieu gut vernetzt ist und auch über Kontakte zum russischen Nachrichtendienst FSB verfügt.
Am 13.05.2021 lernt Arthur E. auf einer kleinen privaten Veranstaltung in einem lokalen Vereinsheim Carsten L. kennen. Über eine gemeinsame Bundeswehrvergangenheit bei den Fernmeldeaufklärern kommt man sich rasch näher, ohne dass sich hieraus in den folgenden 15 Monaten bereits erkennbar nachrichtendienstliche Weiterungen ergeben hätten. Carsten L. lässt jedoch erkennen, dass er beim BND arbeite.
Anfang August 2022 schlägt Carsten L. bei einem Essen seinem Gesprächspartner Arthur E. angesichts dessen weit verzweigter Kontakte in Afrika vor, ihn als nachrichtendienstliche Verbindung beim BND zu gewinnen, was dieser positiv bescheidet. Umgekehrt bittet Arthur E. um Unterstützung für seinen russischen Freund Visa M., der eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland anstrebe. Im Gegenzug könne Carsten L. am Afrikageschäft der beiden partizipieren. L. zeigt sich nicht völlig ablehnend und wird im Gesprächsverlauf von Arthur E. noch gebeten, doch einmal die aktuelle, gegen Russland gerichtete Sanktionsliste zu beschaffen.
Gegen Ende August 2022 trifft sich Carsten L. mit Arthur E. erneut, diesmal in Berlin und im Beisein eines für Afrika (Kongo, Zentralafrikanische Republik) zuständigen Anbahner/Verbindungsführers des BND. Arthur E. erhält ein operatives Mobiltelefon; ihm wird zu verstehen gegeben, dass er nunmehr im BND einen Decknamen als nachrichtendienstliche Verbindung habe.
Am 12.09.2022 treffen sich Carsten L. und Arthur E. erstmals persönlich mit dem russischen Geschäftsmann Visa M. in Starnberg, um die von diesem angestrebte Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland und die Beteiligung am Afrikageschäft zu erörtern. Visa M. lässt erkennen, dass er über gute Beziehungen in Moskau verfüge, und deutet an, dass man auch anderweitig zu beiderseitig gedeihlicher Zusammenarbeit kommen könne.
Am 23.09.2022 kommt es dann zur Übergabe eines ersten Konvoluts von dienstlichen Unterlagen an Arthur E. mit der Maßgabe, dieses nach Moskau zu bringen und an Visa M. oder dessen „Freunde“ zu übergeben. Die Kontaktaufnahme in Moskau mit FSB-Vertretern und die Materialübergabe erfolgen kurzfristig am Folgetag. Am 25.09. und 29.09. finden Folgetreffs von Arthur E. mit dem FSB statt, während derer umfangreiche und detaillierte Beschaffungsaufträge zur militärischen Lage in der Ukraine an Carsten L. übergeben werden. Die (offenbar zeitkritischen) Fragen übermittelt Arthur E. an Carsten L. per Messengerdienst.
Am 04.10.2022 stellt sich nach Rückkehr in Berlin heraus, dass Carsten L. die gestellten Fragen allein schon aus mangelnder dienstlicher Befassung nicht beantworten kann. Gleichwohl kommt es noch am selben Tag zur Übergabe eines weiteren Konvoluts an BND-Papieren an Arthur E., der diese abfotografiert und damit bereits am 06.10.2022 wieder nach Moskau zurückkehrt.
Am 06.10.2022 erhält Arthur E. während des Treffs von seinem FSB-Kontakt in Moskau operative Mobiltelefone zur weiteren Kontakthaltung auch mit Carsten L..
Am 09.10.2022 wird Arthur E. bei seiner Rückkehr aus Moskau am Flughafen München auf Veranlassung von Carsten L. von BND-Beamten formal regulär geschleust.
Mitte Oktober erfolgt ein Anruf aus Moskau an Arthur E im Beisein von Carsten L., in dem Unzufriedenheit mit den übergebenen Unterlagen geäußert wird. Zu etwa der gleichen Zeit sollen wohl auch die Ermittlungen im BND durch den Hinweis eines ausländischen Dienstes auf den Geheimnisverrat ausgelöst worden sein.
Am 30.10.2022 reist Arthur E. auf Aufforderung des FSB erneut nach Moskau, um etwas für Carsten L. abzuholen. Es handelt sich um vier große verschlossene Umschläge. Arthur E. wird bedeutet, dass man unverändert dringend auf die angefragten militärischen Daten warte. Ob Arthur E. seinerseits eine mögliche dritte Lieferung mit sich führte, ist derzeit dem Medienbild nicht zu entnehmen.
Erst am 11.11.2022 kehrt Arthur E. aus Moskau nach München zurück und wird erneut geschleust. Carsten L. nimmt die Umschläge kommentarlos in Empfang. Wie sich später herausstellt, enthalten diese Umschläge insgesamt die Summe von 400.000 €, die in einem von Carsten L. bei einem Goldhändler eingerichteten Schließfach gefunden werden.
Am 21.12.2022 wird Carsten L. unter dem Vorwurf des schweren Landesverrats verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Über die Zeit zwischen dem 11.11. und 21.12.2022 liegen keine Informationen in den Medien vor.
Am 22.12.2022 wird Arthur E. über das operative Mobiltelefon vom FSB über die Verhaftung von Carsten L. informiert und zur sofortigen Flucht nach Russland aufgefordert. E. zieht es jedoch vor, zu seiner Frau in die USA zu reisen, wo diese Verwandtschaft in Miami hat. Dort wiederum wird er vom FBI befragt und am 21.01.2023 nach Deutschland überstellt, wo er unter dem Vorwurf der Beihilfe zum Landesverrat in Haft genommen wird.
Auf der bisherigen, erkennbar immer noch stark von den Einlassungen des Arthur E. geprägten und weiterhin holzschnittartigen Informationsbasis lässt sich mithin erst einmal vorläufig festhalten, dass nachrichtendienstlich relevante Gesprächsinhalte offenbar erst Anfang August 2022 mit dem Angebot von Carsten L. an Arthur E., diesen aufgrund seiner eindrucksvollen Kontakte in Afrika als Informant für den BND zu gewinnen, in der bilateralen Beziehung eine Rolle zu spielen begannen. Ende August 2022 erfolgte dann die „Werbung“ von Arthur E. als NDV für Afrika durch einen Mitarbeiter der zuständigen Regionalabteilung des BND. Am 12. September 2022 fand das erste persönliche Treffen auch mit dem russischen Geschäftsmann Visa M. statt, in dem offenbar von diesem die Möglichkeit nachrichtendienstlicher Zuarbeit durch Carsten L. an die russische Seite angedeutet wurde. Nach dem 12 September 2022. muss dann bei diesem der konkrete Entschluss zur Tat gereift, und am 23. September 2022 mit der Übergabe eines Konvoluts dienstlicher Unterlagen an Arthur E. erstmals umgesetzt worden sein. Eine zweite Verratshandlung wurde am 04. Oktober 2022 begangen und mit der Übergabe an den FSB am 06. Oktober 2022 vollendet. Ab Mitte Oktober sollen bereits die Nachforschungen im BND nach dem Hinweis eines ausländischen Partnerdienstes eingeleitet worden sein. Am 11. November 2022 wird Carsten L. von Arthur E. die zuvor in Moskau entgegengenommene Summe von 400.000 € im Hinblick auf bisherige und künftige Leistungen übergeben. Ob es hierbei im Vorfeld noch zu einer dritten Übergabe von dienstlichen Materialien gekommen ist, kann den Medien nicht entnommen werden. Ebenso wenig berichten diese über die nachfolgende Zeit bis zur Verhaftung von Carsten L. am 21. Dezember 2022.
Sollte sich dieses Lagebild erhärten und substantiieren lassen, geht es mithin um einen zeitlich auf wenige Wochen begrenzten unmittelbar im Sinne des § 94 StGB (Landesverrat) strafrechtsrelevanten Tatverlauf, während dessen in zwei Fällen unzulässiger Zugriff auf dienstliche Unterlagen genommen worden ist, und der bereits früh aufgrund eines Hinweises von befreundeter Seite unter nachrichtendienstlicher Beobachtung gestanden hat. Darüber hinaus berichten die Medien unter Rückgriff auf ihnen zur Verfügung stehende Indiskretionen aus den Ermittlungsakten bisher keine weiteren Verratshandlungen. Die Qualifizierung von Carsten L. als „Maulwurf“ und die damit insinuierte Gleichstellung des Falls mit jahrzehntelang betriebener Unterwanderung des Dienstes wie im Fall Felfe in den fünfziger und sechziger Jahre ist damit fachlich unzulässig und politisch unlauter. Es handelt sich nach allem, was bisher bekannt ist, um einen eklatanten, jedoch zeitlich eng begrenzten individuell motivierten und eher improvisierten Verratsfall, der in seiner sich derzeit abzeichnenden Genese und den ersten Elementen einer persönlichen Motivation des Tatverdächtigen ebenso kurzfristig wie trivial ist. Nicht umsonst stellt selbst der Spiegel am Ende seiner eingangs zitierten „Generalabrechnung“ mit dem Dienst fest, dass „dieser Thriller auch tragikomische Züge habe“ und dass „schon die drei Hauptfiguren nicht wie gewiefte Agenten wirkten“. Der sich zeitweise aufdrängende Eindruck einer Burleske, allerdings mit einem durch sie hervorgerufenen mutmaßlich gravierenden Schadensfall, steht im Widerspruch zu den globalen Unwerturteilen und Mutmaßungen zu partnerpolitischem Vertrauensverlust. Dass zu Beginn eines Verratsfalls Partner das Gleiche tun, wie der betroffene Dienst selbst, nämlich die Schotten im Rahmen der Eigensicherung in den gefährdeten Bereichen dicht zu machen, ist „tradecraft“ und „due diligence“, die jeder Dienst, auch der BND im vergleichbarem Fall gegenüber einem anderen Dienst praktiziert. Sobald die Gefahr gebannt erscheint und mögliche Schäden behoben sind, kehrt man zur Zusammenarbeit zurück, die ja kein Gnadenakt ist, sondern auf wohlverstandenem allseitigem Interesse beruht. Gerade im nachrichtendienstlichen Schadensfall ist Professionalität auf allen Seiten gefragt und wird in der Regel auch praktiziert.
Neben der kurzfristig im Vordergrund stehenden nachrichtendienstlichen Schadensevaluierung und Schadensbehebung im engeren Sinne bleibt dann natürlich die Frage nach den in der Person wie in den weiteren Umständen liegenden Ursachen, die den Verratsfall im Ergebnis ermöglichten und begünstigten. Erst nach einer soliden Etablierung dieser Kausalitäten wird dann die Frage zu erörtern und zu beantworten sein, wo vermeidbare Schwachstellen zu identifizieren und nach Möglichkeit zu beheben sein werden. Auch hier ist ein nüchterner, von Wunschdenken und Vorurteilen möglichst freier Blick auf Realien und „condition humaine“ unabdingbar, um sowohl Indolenz und Fatalismus, zugleich aber auch Aktionismus und Symbolismus zu vermeiden. Auch politische „Ritualmorde“, so opportun sie im Einzelnen auch erscheinen mögen, dienen weder der Sache noch lassen sie Gerechtigkeit gegenüber jenen erfahren, denen diese Ambitionen gelten mögen. Entscheidend sind hier nicht nur die Achtung von Personen, sondern auch die Wahrung der Integrität der eigenen Institutionen. Pauschale Unwerturteile stellen in erster Linie ein schlechtes Zeugnis jenen aus, die sie – mit welcher Motivation auch immer – in die Welt setzen und verbreiten.
Unter professionellen Aspekten werden auch die Fälle von Arthur E. und Visa M. im Hinblick auf ihre nachrichtendienstlichen Dimensionen unter den Aspekten Gegenspionage und Spionageabwehr zu ermitteln und zu bewerten sein, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt, ob hier nicht – unabhängig von der Personalie Carsten L. – Ansatzpunkte und Anlass für eine nachhaltige Befassung mit personellen und sachlichen Hintergründen gegeben gewesen wären. Die vorliegende Kommentierung soll jedoch vornehmlich auf den Fall Carsten L. in seinem BND-Kontext ausgerichtet sein.
Es wird mithin sachorientiert zu ermitteln und zu bewerten sein, wann genau und unter welchen Umständen es zu dem Tatentschluss von Carsten L. im Rahmen seiner Kontakthaltung mit Arthur E. und Visa M. gekommen ist, und ob diese Vorgänge im Rahmen von Dienstaufsicht und Eigensicherung rechtzeitig hätten erkannt und gegebenenfalls verhindert werden können. Die bisher in den Medien in diesem Zusammenhang verbreiteten Angaben und Bewertungen sind erst einmal mit Vorbehalt zur Kenntnis zu nehmen:
Die Biographie von Carsten L. vor seiner Einstellung in den Bundesnachrichtendienst im Jahre 2007 wird so im Spiegel als „alles andere als unbedenklich“ qualifiziert, was auf der angeführten Faktengrundlage schon einmal zumindest diskussionswürdig erscheint:
„Bereits in den Neunzigerjahren sei L. strafrechtlich aufgefallen: Es habe Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung, Beleidigung von Polizisten und Trunkenheit am Steuer gegeben, zweimal habe er eine Geldstrafe bezahlen müssen. Seinen Job in der Bundeswehr habe er nicht verloren, und auch der BND habe beim Wechsel offenbar kein Problem mit dieser Vorgeschichte gehabt. Nach Angaben der ZEIT, gehen die in Frage stehenden Vorgänge auf die frühen 90er Jahre zurück, als L. als junger Leutnant an der Universität der Bundeswehr studierte. Die hier vorgebrachten Angaben lassen die für eine seriöse Bewertung zwingend erforderlichen straf- und disziplinarrechtlichen Dimensionen der Fälle auch nicht ansatzweise präzise erkennen: Ermittlungsverfahren sind keine Verurteilungen. Anzeigen sind schnell erhoben, Verfahren ebenso wieder ein-gestellt. Geldstrafen werden auf der Grundlage einer Verurteilung in Tagessätzen ver-hängt (§ 40 StGB). Grundsätzlich stellt jede Geldstrafe nach StGB eine Verurteilung dar. Allerdings taucht diese erst im Führungszeugnis des Betroffenen auf, wenn die Strafe mindestens 90 Tagessätze beträgt. Handelt es sich um eine niedrigere Geldstrafe, gilt der Täter nicht als vorbestraft. Davon abzugrenzen wäre zudem eine Verfahrens-einstellung gem. § 153a Strafprozessordnung, meist gegen Zahlung einer Geldsumme an eine gemeinnützige Einrichtung. Vor einer Erörterung in aller Öffentlichkeit wäre hier erst einmal zu klären gewesen, um welche und wie viele strafrechtlich relevante Sachverhalte es sich hier genau gehandelt hat. Die hier genannten Straftatbestände können bereits mit Wirtshausrempeleien und der Anpöbelung eines Polizeibeamten bei einer juvenilen Trunkenheitsfahrt im Rahmen eines einzelnen Handlungszusammenhangs erfüllt werden. Hierzu finden wir nichts in den bisherigen Darstellungen, die eher geeignet sind, einen mehrfach straffälligen und damit sehr auffälligen Menschen zu in-sinuieren. Ob man Carsten L hier in Wahrung von Persönlichkeitsrechten und Unschuldsvermutung in der Hauptsache gerecht wird, mag bezweifelt werden. Über in diesem Zusammenhang zwingend zu beachtenden disziplinarrechtlichen Würdigungen der Sachverhalte in der Bundeswehr wird ebenfalls nichts ausgesagt. Zum Versetzungszeit-punkt in den BND 2007 lagen die Vorgänge offenbar 10 bis 15 Jahre zurück. Ihre Indiz-wirkung für eine personalrechtliche oder sicherheitliche Bewertung im Einstellungsverfahren wäre mithin erst einmal seriös zu etablieren gewesen, bevor sie hier zulässigerweise in den Kontext sicherheitlicher „Verdachtsmomente“ gestellt werden kann.
Das Gleiche gilt für den behaupteten Umstand, dass Carsten L. „kurz vor Amtsantritt beim Nachrichtendienst sogar in einem Verfahren des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) aufgetaucht sei – als mutmaßliche Randfigur in einer Maßnahme gegen Rechtsextreme. Die Ermittlungen hätten den Verdacht gegen ihn nicht bestätigt. Wie mag die Eigenschaft als „mutmaßliche Randfigur“ zu der keine bestandskräftigen Verdachtsmomente bestehen, sachlich, fachlich oder gar rechtlich im Rahmen einer Sicherheitsüberprüfung zu bewerten sein? Wenn die hier vorliegende Darstellung der Medien zutrifft, wäre dies ein veritabler „non starter“, dessen Verfolgung unter anderen Vorzeichen von den gleichen Kritikern als Beweis für unverhältnismäßige, typische „Oberverdachtsschöpfung“ der Sicherheitsdienste herangezogen und wortreich beklagt werden würde. Auch hier ist ein unverstellter, an Fakten und Realitäten orientierter Blick Voraussetzung für eine angemessene und verantwortungsvolle Behandlung eines sensitiven Sachverhalts.
Die Feststellung, dass die im Kollegenkreis offenbar kolportierte radikale Gesinnung von Carsten L. „auch höheren Ebenen im Dienst nicht verborgen geblieben sei, da sie in seiner letzten Sicherheitsüberprüfung zur Sprache gekommen sei“, wird ebenfalls erst einmal in der Sache zu etablieren sein. Sicherheitsüberprüfungen sind Vorgänge, die durch die Abteilung Eigensicherung im BND auf der Grundlage des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (SÜG) durchgeführt werden. Die Zusammenstellung und Bewertung der hierbei durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des gehobenen und mittleren Dienstes in Gesprächen und Akteneinsicht erhobenen Informationen und Hinweise obliegt der dortigen Sachbearbeiter- und Referentenebene. Nur wenn man dort zur Schlussfolgerung kommt, es handele sich um gravierende Sachverhaltsmerkmale, werden „höhere Ebenen“ im Dienst, also Referats-, Unterabteilungs- oder Abteilungsleiter, involviert. Dieser Verwaltungsaufbau ist nicht BND-spezifisch, sondern findet sich in allen oberen Bundesbehörden. Aussagen zum Leumund eines Mitarbeiters bleiben im Arbeitsbereich der Abteilung Sicherheit, allein schon unter Datenschutzaspekten und der Wahrung der Persönlichkeitsrechte unter striktem Verschluss, es sei denn, sie würden eben als Anlass für Maßnahmen gewertet werden, für die eine höherrangige Autorisierung erforderlich ist. Hier wird also im Rahmen der Binnenrevision festzustellen sein, ob die Überwindung dieser Hürde im Rahmen der 2018 eingeleiteten Wiederholungsüberprüfung angesichts des seinerzeit zur Verfügung stehenden Meldungsbildes jemals zur Debatte stand, und welche Gründe für die damalige Fallbehandlung festgestellt werden können. Vorschnelle Unterstellungen verbieten sich hier.
In diesem Kontext wird auch zu berücksichtigen sein, dass im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen ein Augenmerk auch auf die soziale und familiäre Situation eines Mitarbeitenden gerichtet wird, und hier gibt es angesichts der medialen Berichterstattung wenig Zweifel daran, dass Carsten L. in seinem familiären Umfeld und sozialen Engagement über Jahre hinweg überwiegend anerkannt gewesen zu sein scheint, und nicht nur „das Bild einer heilen Familie im bayerischen Alpenvorland“ abgab. Was soll mit dieser Formulierung eigentlich zu verstehen gegeben werden?
Die Frage, ob Anhaltspunkte tatsächlicher Art zur politischen Radikalisierung von Carsten L und zunehmenden Illoyalität gegenüber seinen Dienst- und Treuepflichten in ausreichender Zahl und Qualität in die einschlägigen Akten des Dienstes hätten finden kön-nen und müssen, ist von erheblicher Bedeutung, jedoch keineswegs so trivial wie dies gerne dargestellt wird. Dies wird möglicherweise umso mehr der Fall sein, wenn die jeweiligen dienstlichen Beurteilungen des Betroffenen in der Bundeswehr und im Bundesnachrichtendienst herangezogen werden, in denen Wertungen zur dienstlichen und persönlichen Einstellung, Leistung und Eignung von den jeweils zuständigen direkten und indirekten Disziplinarvorgesetzten getroffen werden. Hiervon liest man in den Medien erst einmal nichts; für eine sachgerechte Bewertung des Falls wäre dies jedoch unerlässlich.
Ein Beamter oder Soldat, dessen politische Einstellung nicht mehr mit den Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes in Übereinklang zu bringen ist, unterliegt den jeweils geltenden disziplinar- und statusrechtlichen, im Extremfall auch strafrechtlichen Bestimmungen. Derartiges Fehlverhalten gilt es nach eindeutiger Rechtslage festzustellen und entsprechend zu würdigen, gegebenenfalls auch mit dem Entzug des Sicherheitsbescheids, insbesondere wenn davon ausgegangen werden muss, dass der Betreffende seine Loyalität gegenüber seinem Dienstherrn faktisch aufgekündigt hat, und damit die Schwelle für Verratshandlungen deutlich abgesenkt ist. Ob all dies im Fall von Carsten L rechtzeitig mit den zur Verfügung stehenden Mitteln möglich gewesen wäre, wird erst einmal die weitere Untersuchung zei-gen müssen. Ein pauschales und selbstgerechtes „Wie kann man nur“ ist hier weder angebracht noch zielführend.
Die Frage nach der Qualität materieller Sicherheitsvorkehrungen zur Vermeidung der Exfiltration von Verschlusssachen stellt sich bei jedem Verratsfall von neuem, sehr vergleichbar mit dem immerwährenden Bemühen im Rahmen von Cyber-Security im privaten wie öffentliche Raum. Kontrolle und Persönlichkeitsrechte stehen hier in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis, das sehr häufig je nach Bedrohungsperzeption und politischer Opportunität behandelt wird, in der Regel jedoch nur selten in der Sache zufriedenstellend gelöst werden kann. Die bisherige mediale Berichterstattung vermittelt den Eindruck, dass Carsten L. letztlich die Zeiten und Umstände in Erfahrung gebracht und genutzt hatte, zu denen keine Kontrollen stattfanden, frei nach der Devise „don’t fight the system, use it“. Auch dies ist im Übrigen kein zweifelhaftes Privileg des BND. Diese Schwächen treten immer wieder auch in anderen Diensten auf und fallen immer dann ins Gewicht, wenn sie entsprechend genutzt werden.
• Der BND hat im Nachgang zum letzten Verratsfall des Markus R. (2014) Tor- und Taschenkontrollen verschärft, nur um nach recht kurzer Zeit vom Bundeskanzleramt aufgefordert zu werden, dies wieder zu unterlassen, da es hierfür keine Rechtsgrundlage gebe. Dies wiederum geschah offenbar noch rechtzeitig, bevor hieraus erneut eine entsprechende Vorwurfslage gegen den Dienst („Totalüberwachung“ der Mitarbeiter) hätte entstehen können. Gleiches gilt auch für die Frage, wo und in welchem Umfang IMSI-Catcher oder Metalldetektoren anzubringen seien, um die – ohnehin verbotene – Mit-nahme von Mobiltelefonen zu unterbinden. Erneut wird hier – wie ja bereits angekündigt – eine erneute Revision der Sicherheitsvorkehrungen vorzunehmen, dann aber auch politisch und rechtlich zu indossieren sein.
Die Behauptung, Carsten L. habe sich „innerhalb des Dienstes offenbar ein kleines Netz aus meist wohl unfreiwilligen Helfern aufbauen können, ohne dass Vorgesetzte davon etwas bemerkt hätten“, verkennt nach dem gegenwärtigen in den Medien angebotenen Erkenntnisstand elementare soziale Zusammenhänge in größeren Arbeitskontexten, wie sie im Übrigen auch in jedem privatwirtschaftlichen und allgemeinbehördlichen Umfeld anzutreffen sind. Soziale Kompetenz und Kollegialität – in der Bundeswehr auch die gesetzlich nach § 12 Soldatengesetz gebotene Kameradschaft – bedingen Informationsaustausch, gemeinsames Handeln und gegenseitige Unterstützung. Bekanntlich sind diese Tugenden auch beurteilungsrelevant. Zu verhindern, dass aus ihnen auch „Laster“ bis hin zu Kollusion und Kameraderie werden können, ist die originäre Aufgabe von Dienst- und Fachaufsicht der jeweils zuständigen Vorgesetzten. Die Vorgänge um Arthur E. oder die Bitte um die Heranziehung von Unterlagen aus benachbarten Zuständigkeitsbereichen werden also erst einmal zu prüfen sein, inwieweit sie hier im Einzelnen für die Beteiligten auch erkennbar die Grenzen des Zulässigen, überschritten haben. Dies gilt auch für die eingeleitete Nutzung von Arthur E. als nachrichtendienstliche Verbindung, für die es einzuhaltende Prozeduren gibt, ebenso wie für die, offenbar ja auch formal auf dem Dienstweg beantragte Veranlassung von Schleusungen am Flughafen München. All dies hat mit einem „Netz unfreiwilliger Helfer“, die ohne Wissen von Vorgesetzten etabliert worden wäre, bis zum Beweis des Gegenteils nichts zu tun. Die Vorgänge lassen bis auf weiteres vielmehr darauf schließen, dass einfach ohnehin über die Jahre bestehende Kenn- und Arbeitsverhältnisse von Carsten L. spontan für die jeweilige Unterstützungshandlung im Rahmen im Ergebnis fehlgeleiteter „Selbst- und Kameradenhilfe“ genutzt wurden.
Von besonderer Bedeutung wird es bei der allgemeinen Bewertung und öffentlichen Behandlung der Vorgänge sein, Motivation und Zielorientierung der Belegschaft im Blick zu halten. Hierzu zählt im Binnenverhältnis neben den personenbezogenen Elementen wie Wertschätzung, Zielgebung und Partizipation in der Personalführung ganz wesentlich auch Employer Branding als unternehmensstrategische Maßnahme, bei der Konzepte aus dem Marketing – insbesondere der Markenbildung – angewandt werden, um ein Unternehmen insgesamt als attraktiven Arbeitgeber darzustellen und von anderen Wettbewerbern im Arbeitsmarkt positiv abzuheben. Jede elementare Einführung in betriebswirtschaftliches Personalmanagement misst diesen Faktoren eine zentrale Bedeutung für Unternehmenserfolg und Unternehmenssicherheit bei. Als soziale Realität gilt dies auch für den öffentlichen Dienst, dessen Angehörige gruppensoziologisch und individualpsychologisch den gleichen Einflussgrößen unterworfen sind. Hier sind, neben der Behörde selbst, Politik und Bundesregierung gefordert, und dies insbesondere im Krisenfall, um einem Imageschaden mit negativen Auswirkungen auf die Motivation, Leistungsbereitschaft und Loyalität (!) der Belegschaft entgegenzuwirken. Ob dies in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Trennung zwischen Pullach und Berlin, insbesondere auch in den Zeiten der diversen Krisen stets überall der Fall gewesen ist, mag durchaus bezweifelt werden, bedürfte jedoch ebenfalls einer gesonderten qualifizierten Untersuchung und Bewertung auf gesicherter Faktenbasis. Dies gilt auch für das allgemeine Raunen zum „bedenklichen Eigenleben“ in Pullach. Es wäre sehr zu wünschen, wenn all dies im Rahmen einer „Zeitenwende für den BND im Bereich von Selbstverständnis und hauseigener Kultur“ in besonderer Weise Berücksichtigung fände. Die Gelegenheit hierzu bietet sich bereits hier und jetzt in einem angemessenen, auch öffentlichkeitswirksamen Umgang mit dem Dienst und seiner Belegschaft in einer schwierigen Phase.
In Bezug auf die mediale Öffentlichkeit bedeutet dies: Kritische, auch scharfe Sachfragen nach möglichen Fehlern und ihren Ursachen in dem erkennbaren Bemühen um bessere Lösungen, um die Überwindung von Indolenz, um die Vermeidung von Fehlern und die Übernahme von operativer oder auch politischer Gestaltungsverantwortung, sind wichtig und richtig. Berichterstattung und Kommentierung mit der verbalen Abrissbirne auf unvollständiger Datenbasis und externen, nicht notwendig sachkundigen (Un)Werturteilen sind dies jedoch ebenso wenig wie deren kommentarlose Hinnahme in der Öffentlichkeit. Ein „Déjà vu“ des Artikels „Der Abendsonne entgegen“ vom Sommer 2011, der seinerzeit den Anschein erweckte, die vorzeitige Ablösung von BND-Präsident Ernst Uhrlau einläuten zu wollen oder zu sollen, scheint sich hier schon beinahe aufzudrängen. Es wäre im Interesse eines angemessenen Umgangs mit Personen und Institutionen zu wünschen, wenn sich dies als falscher Eindruck herausstellte.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad
Chronologie unter Nutzung von Exzerpten aus dem Spiegelbericht vom 10.03.2023
24.10.2020
Arthur E. übernachtet als Geschäftsmann im Hotel Ritz Carlton in Moskau (Zimmerpreis 500 €). Dort lernt er den russischen Unternehmer Visa M. kennen. Der reiche Mann redet über seine Geschäfte, er gilt auch als gut vernetzt in höchste Kreise der russischen Politik. E. wittert, so ist zu vermuten, an diesem Tag wohl das große Geld. Das Zusammentreffen mit dem russischen Unternehmer Visa M. im Moskauer Ritz Carlton schien für beide Seiten vielversprechend zu sein
Visa M., der millionenschwere Unternehmer ist mit einer der reichsten Frauen Russlands verheiratet und nach Erkenntnissen westlicher Dienste seit Jahren mit einem hochrangigen FSB-Funktionär befreundet.
13.05.2021
Erstes Zusammentreffen zwischen Carsten L. und Arthur E. bei einem geselligen Beisammensein im Vereinsheim des TSV Weilheim. Gastgeber/Veranstalter: Reno S., ein Bundeswehrsoldat und Funktionär der rechtsradikalen AfD. L. habe an diesem Abend viel getrunken und damit geprahlt, dass er für den Bundesnach-richtendienst (BND) arbeite. Arthur E. und der BND-Mann verstehen sich offenbar auf Anhieb.
Reno S. und Arthur E. gehörten ebenfalls zur Fernmeldetruppe der Bundeswehr
00.08.2022
Anfang August 2022 pflegten Arthur E. und Carsten L. ihre neue Bekanntschaft, sie kommen im »Pöltner Hof« zusammen, eine der besseren Adressen in Weil-heim. AfD-Funktionär Reno S. soll ebenfalls mit am Tisch gesessen haben, gilt in dem Verfahren jedoch nicht als Beschuldigter.
An dem Abend erzählt Arthur E. offenbar von seinen vielen Geschäftsreisen. Er räumt ein, dass die Staatsanwaltschaft München gegen ihn ermittelt, weil er einen gefälschten Diplomatenpass besessen und einen Diplomatenaufkleber auf seinem Auto platziert hatte.
BND-Mann Carsten L. soll von den Erzählungen fasziniert gewesen sein. E. gebe womöglich einen guten Zuträger für den BND ab, soll er gesagt haben, eine »Nachrichtendienstliche Verbindung«, kurz NDV, im Geheimdienstjargon. Er könnte zum Beispiel über terroristische Gruppierungen in Afrika berichten. E. findet die Idee »cool«, wie er selbst sagt.
Aber er will auch etwas von Carsten L. an diesem Abend. Denn er soll seinem reichen Freund aus Moskau, Visa M., mit einer unbefristeten Niederlassungser-laubnis für Deutschland helfen. Im Gegenzug könne er ihn an Afrikageschäften beteiligen. Carsten L. soll darauf ausweichend, aber nicht ablehnend reagiert ha-ben. Vielleicht sei das ja was für die Pension, soll er nach E.s Angaben gesagt haben.
Kurze Zeit später fragt Arthur E. unvermittelt nach einer aktuellen Sanktionsliste gegen Russland. Carsten L., sein neuer Bekannter vom BND, wird sie ihm laut E. später übermitteln.
00.08.2022
Drei Wochen nach dem langen Abend in Weilheim, trifft er sich wieder mit Arthur E., diesmal in einem Wirtshaus in Berlin. Ein Kollege vom BND ist dabei, er stellt sich als Philipp vor, ein »VF«, Verbindungsführer. Die Aufgabe dieser Beamten ist es, Quellen zu führen. Philipp sei für den Kongo und Zentralafrika zuständig, heißt es. Später bekommt Arthur E. von ihm ein dienstliches Telefon, er muss den Empfang des Handys quittieren. Intern soll er sogar schon einen Decknamen als BND-Mann erhalten haben. Das Gespräch der drei wird anschließend im Casino fortgesetzt.
00.09.2022
Versetzungsverfügung nach Berlin in die Abteilung Sicherheit.
12.09.2022
Nur wenige Wochen später, am 12. September, kreuzen sich erstmals die Wege der drei mutmaßlichen Hauptakteure gleichzeitig. Arthur E., Carsten L. und Visa M., der reiche Russe, treffen sich in »Hugo’s Beach Club« direkt am Ufer des Starnberger Sees. Arthur E. übersetzt, denn Deutsch spricht Visa M. nicht.
Wieder soll das Thema Niederlassungserlaubnis für Visa M. auf den Tisch kom-men. Und wieder soll es um eine Beteiligung von L. am Afrikageschäft der bei-den anderen gehen.
Visa M. sagte nach E.s Schilderung, er kenne in Russland eine ganze Menge wichtiger Leute. Vielleicht ergebe sich mal eine Situation, in der man etwas Gutes für die beiden Länder tun könne, für Russland und Deutschland. Wieder soll das Thema Niederlassungserlaubnis für Visa M. auf den Tisch kommen. Und wieder soll es um eine Beteiligung von L. am Afrikageschäft der beiden anderen gehen.
23.09.2022
Zwei Wochen nach dem Treffen in »Hugo’s Beach Club« am Starnberger See habe sich Carsten L. laut Arthur E. wieder bei ihm gemeldet. Er habe da etwas für dessen Freund Visa M.
Sie hätten sich in der Nähe des BND-Geländes in Pullach auf einem Sportplatz getroffen. Es ist Oktoberfest-Zeit, Carsten L. habe Lederhosen getragen. Der BND-Mitarbeiter habe Arthur E. einen Umschlag überreicht. Es seien bloß ein paar ausgedruckte Tabellen, habe Carsten L. ihn beruhigt
Arthur E. wird später in den Umschlag hineinschauen, wie er erzählt. Er habe Abkürzungen gesehen, die für Staaten stünden, etwas über Krankentransporte russischer Kämpfer in der Ukraine und sehr viele Ziffern, Buchstabenfolgen und Sonderzeichen, die er nicht verstanden habe. Die Details dessen, was Carsten L. an die Russen weitergegeben haben soll, werden die Ermittler nicht bekannt geben. Doch es waren wohl auch hochsensible Informationen darunter, etwa Daten über die Soldaten der russischen Söldnergruppe Wagner, die in Afrika und der Ukraine kämpfen. Und Hinweise auf laufende Überwachungsaktionen des BND – die Kronjuwelen jedes Geheimdienstes.
23.09.2022
Arthur E. meldet sich bei Visa M. Wenn dieser den Flug nach Moskau bezahle, komme er gern. M. sagt zu, noch am selben Abend, es ist der 23. September, fliegt E. über Istanbul nach Moskau.
24.09.2022
Eine Limousine wartet bereits am Flughafen als E. am nächsten Tag eintrifft, der Wagen bringt ihn in eine Wohnung, die wohl M. gehört. Ein Mann wartet, der sich als »Gassan« vorstellt. Er bittet E., sein Handy in den Flugmodus zu schalten. E. übergibt ihm den Umschlag.
25.09.2022
Einen Tag später überbringt Visa M. die Nachricht, Gassan wolle E. noch mal sehen. E., dem die Begegnung offenbar unbehaglich ist, fragt zurück, wen der Mann vertrete. »Lubjanka«, soll Visa M. geantwortet haben. An der Lubjanka hat der russische Inlandsgeheimdienst FSB seine Zentrale.
Am Abend des 25. September wartet FSB-Mann Gassan mit einem Kollegen namens Pawel in der Edelbrasserie Lambic auf Arthur E. Die Agenten bringen ihn in ein Separée. Das Essen steht bereit, doch E. rührt es nicht an, auch nicht den Tee, der gereicht wird. … Beiläufig ließen die beiden Russen durchblicken, wie viel sie über E. wüssten – seine Eltern, seine Frau, Verwandte allgemein.
29.09.2022
Vier Tage nach dem ersten Treffen erwarten die Geheimdienstbeamten Pawel und Gassan Arthur E. wieder in der Moskauer Edelbrasserie. Sie überreichen ihm ein Papier mit Fragen. Er fotografiert es ab und schickt es Carsten L. über einen verschlüsselten Messengerdienst. Die Ermittler werden später das Foto auf dem Mobiltelefon von Carsten L. finden. Es ist einer der Gründe, warum sie ihn für schuldig halten.
Die Russen wollen etwa wissen, wie viele US-amerikanische Mehrfachraketen-werfer des Typs Himars in die Ukraine geliefert wurden, ob deren GPS-Funktionen permanent aktiviert sind und wo genau sie sich befinden. Sie interessieren sich auch für die Transportroute des deutschen Luftabwehrsystems Iris-T, das ebenfalls in die Ukraine geliefert wurde.
In Sicherheitskreisen interpretiert man die Fragen eher als Ausdruck von Ver-zweiflung. Die Ukraine machte in diesen Tagen, als L. den Zettel erhielt, gewaltige Geländegewinne – auch wegen der US-Raketenwerfer. »Russische Nachrichtendienste tauchten damals so ziemlich an jedem nur vorstellbaren Winkel auf und fragten nach den Himars«, sagt ein hochrangiger Beamter eines Nachrichtendienstes.
04.10.2022
Nach seiner Rückkehr aus Moskau (Datum 04.10.2022 gem. Tagesschau, 02.03.2022) treffen sich Arthur E. und Carsten L. wieder in Berlin. BND-Mann L. sagt, er könne die Fragen der Russen nicht beantworten. Ob E. es nicht mit öffentlich verfügbarem Material versuchen wolle? E. sagt, er habe Angst.
Daraufhin bringt der BND-Mann seinen Freund E. in ein Restaurant in der Nähe der BND-Liegenschaft im Gardeschützenweg und bittet ihn, dort zu warten. L. sei im BND-Gebäude verschwunden und mit einer Aktentasche und Papieren darin zurückgekommen, erzählt Arthur E. später. Sorgen, beim Heraustragen der sensiblen Informationen erwischt zu werden, hatte L. demnach nicht. In einer Wohnung in Berlin habe E. die Dokumente abfotografiert, L. habe sie wieder an sich genommen.
06.10.2022
Wenige Tage später fliegt E. erneut nach Moskau. (Datum 06.10.2022 gem. ZEIT, 01.03.2023) Die abfotografierten Dokumente druckt er in der Businesslounge seines Hotels aus. Als er sie den Russen übergibt, sind sie unzufrieden. Die Qualität sei schlecht.
Arthur E. bekommt von den FSB-Agenten drei neue Mobiltelefone mit SIM-Karten. Eines für sich selbst, eines für Carsten L. und eines für Visa M. Damit man nun direkt kommunizieren könne. Noch am Abend erreicht E. eine Nach-richt auf dem Telefon von einer Nummer mit der Landesvorwahl +44, wie Großbritannien: »Test«. Er schickt einen Daumen-hoch-Emoji zurück, die Kommunikation mit den Russen steht.
Als E. jedoch Carsten L. von dem Telefon erzählt habe, hätte der den Daumen gesenkt. Er habe das für ihn bestimmte Handy offensichtlich lieber nicht haben wollen. Er ist Abhörexperte, vielleicht hatte er Grund zur Furcht.
09.10.2022
Bei der Rückkehr aus Moskau (Datum 09.10.2023, gem. ZEIT 01.03.2023) er-warten E. diesmal zwei BND-Mitarbeiter am Münchner Flughafen. Sie schleusen ihn an der Zollkontrolle vorbei, E. gefällt das.
Einer der beiden, wahrscheinlich ein Beamter des BND aus der Abhörabteilung, wird später ins Visier der Ermittler geraten: Ist er Teil der Verschwörung oder wurde er nur von L. benutzt, weil er glaubte, bei der Einreise eines neuen BND-Informanten zu helfen?
00.10.2022
Mitte Oktober haben die Russen laut Arthur E. auf dem von ihnen für ihn bereitgestellten Handy angerufen. Er und Carsten L. hätten gerade zusammengesessen. Die Anrufer hätten ihren Unmut über die Himars-Antworten geäußert. E. habe das Telefon auf Laut gestellt, doch L. habe kein Wort gesagt – nach Einschätzung von Ermittlern fürchtete er wohl, seine Worte könnten aufgezeichnet werden.
Etwa zu diesem Zeitpunkt dürften die verdeckten Ermittlungen zum inter-nen Leck beim BND begonnen haben. Der ausländische Nachrichtendienst hatte den BND vor einem Maulwurf gewarnt. Der Verdacht fiel zunächst auf eine junge BND-Mitarbeiterin. Später stellte sich heraus, dass Carsten L. zuerst ihren Chef und dann sie selbst um Hilfe beim Aufrufen des Materials im BND-Ablagesystem gebeten haben soll.
30.10.2022
Ende Oktober (Datum gem. SZ, 02.02.2023) bestellen Moskaus Agenten Pawel und Gassan Arthur E. erneut nach Moskau. Er solle etwas abholen, heißt es. Pawel übergibt ihm vier große Umschläge für seinen Freund vom BND. Arthur E. soll sicherstellen, dass dieser sie auch erhalte. Und sie wollten die Informationen über die Himars-Raketen, unbedingt, sagt einer der Russen laut E.s Schilderung.
11.11.2022
Als E. wieder nach Deutschland kommt (Datum gem. SZ, 02.02.2023), wartet am Flughafen wieder der Mann vom BND und bringt ihn – vermutlich auf Umschläge mit dem Lohn für den mutmaßlichen Verrat.
Als Arthur E. und Carsten L. sich wiedersehen, steckt L., so schildert es E., die Umschläge ungeöffnet und regungslos in seinen Rucksack. Die Ermittler finden später vier Umschläge in einem Schließfach, das L. bei einem Goldhändler an-gemietet hat. Sie enthalten eine sechsstellige Summe in Euro – astronomisch hoch für einen mutmaßlichen Doppelagenten im Anfängerstadium. Offenbar galt er den Russen als wertvoll.
21.12.2022
Festnahme von Carsten L. (ZEIT, 26.01.2023)
22.12.2022
Am 22. Dezember rufen die russischen Geheimdienstler Arthur E. aufgeregt an. Er solle nach Moskau kommen. Carsten L. sei festgenommen worden, es sei in den Nachrichten. Der Boden in Deutschland wird jetzt zu heiß für alle Beteiligten. Doch E. entscheidet sich anders. Er fliegt nach Miami, wo seine Frau bei ihrem Bruder zu Besuch ist. Doch offenbar bekommen die Amerikaner schnell mit, wer da eingereist ist: Beamte des FBI treten mit ihm in Kontakt, er gesteht schließlich alles.
21.01.2023
Im Januar (Datum 21.01.2023 gem. SZ, 02.02.2023) begleiten zwei der FBI-Leute E. im Flugzeug (Flug LH 461 von Miami) nach München. Bei der Ankunft nehmen ihn deutsche Beamte fest.