Mutmaßlicher Landesverrat zu Lasten des BND
Erste Anmerkungen zur Konturierung des Falls
Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen
Dr. Gerhard Conrad
Jüngste umfangreiche Medienrecherchen, haben nunmehr weitere Hinweise im mutmaßlichen Landesverratsfall zu Lasten des Bundesnachrichtendienstes erbracht. Sie bestätigen bis auf weiteres die bereits in der ersten Stellungnahme des GKND geübte und angesichts dramatisierender öffentlicher Kommentierungen und Vergleiche empfohlene Zurückhaltung in der Bewertung des Falls und seiner Implikationen:
Mit einem vorgeblichen Edelmetall- und Diamantenhändler, Arthur E., ist offenbar die Person ermittelt und inzwischen in Untersuchungshaft genommen worden, die nach eigenen Aussagen bei Reisen nach Moskau vom 06. – 10. Oktober und 31. Oktober bis 11.November 2022 zwei Konvolute von angeblich mehreren Dutzend Seiten mit geheimen Verschlusssachen aus dem Arbeitsbereich des BND-Angehörigen Carsten L.nach Moskau gebracht und dort offenbar Ansprechpartnern aus dem FSB übergebenhat. Diese Reisen seien in russischen Flugdatenbanken dokumentiert, nicht jedoch inden vom FSB im Rahmen seiner grenzpolizeilichen Aufgaben betriebenen Ein-und Ausreisedatenbanken.
Die erste Materiallieferung, darunter ausgedruckte Screenshots geheimer Tabellen und Informationen zu russischen Opferzahlen im Ukrainekrieg, soll qualitativ nicht zur Zufriedenheit der mutmaßlichen russischen Auftraggeber ausgefallen sein, die daraufhineine Nachbesserung gefordert hätten. Erst bei der zweiten Lieferung sei dann auch Bargeld in einem Umschlag übergeben worden Arthur E. habe die übergebenen Verschlusssachen zumindest zum Teil vor Übergabe selbst noch einmal fotografiert.
Das erhaltene Bargeld will Arthur E. nach Rückkehr nicht direkt an Carsten L. sondern an einen weiteren BND-Mitarbeiter übergeben haben, der auch für seine diskrete Schleusung am Flughafen München gesorgt habe. Dieser Behauptung werde nach Medienberichterstattung im Rahmen der Ermittlungen nachgegangen.
Arthur E., der nach Aussagen der Bundesanwaltschaft kein BND-Angehöriger ist oder war, soll nach Medienrecherchen die Bekanntschaft von Carsten L. im Sommer 2021 anlässlich eines Fußballfestes in Oberbayern gemacht haben. Bei etlichen Bieren habe L. hierbei durchblicken lassen, dass er beim BND arbeite, jedoch mit diesem Land, dieser Republik und diesem Dienst abgeschlossen habe. E. habe daraufhin gesagt, er habe da einen Bekannten beim russischen Geheimdienst. Zur Zeit zwischen diesem Treffen und den Hinweisen auf die tatsächliche Verübung von Landesverrat im Oktober 2022 liegen bisher keine Rechercheergebnisse der Medien vor.
Zum persönlichen Hintergrund von Arthur E. wird berichtet, er sei 1991 in Russland geboren, in den späteren neunziger Jahren mit den Eltern, Wolgadeutschen, nach Deutschland übergesiedelt und 1999 mit diesen aus der russischen Staatsbürgerschaft entlassen worden. 2009 habe er sich für 12 Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr verpflichtet und sei zum IT-Unteroffizier mit letztem Standort in Feldafing am Starnberger See ausgebildet worden. Bereits nach sechsjähriger Dienstzeit habe er 2015 um seine Entlassung aus dem Dienstverhältnis gebeten und sich offenbar als Kaufmann selbständig gemacht. Gehandelt habe er mit Edelmetallen und Diamanten und habe sich nach eigenem Bekunden und ausweislich mehrerer hundert seit 2017 registrierter internationaler Flugbuchungen Kontakte in der ganzen Welt, unter anderem in Afrika, aufgebaut und unterhalten. Zugleich habe er zahlreiche Reisen nach Russland unternommen, mit jeweils meist nur kurzen Aufenthalten in Moskau, Sotchi, Kasan, Nischnekamsk oder auch Sankt Petersburg. Allein nach Februar 2022 sei er sechsmal nach Russland gereist. Für einen Berufseinsteiegr und Jungunternehmer besonders auffällig sei jedoch, dass er, ungeachtet seiner zahlreichen, im Einzelnen bisher nicht konkretisierbaren Geschäftsbeziehungen keinen nennenswerten digitalen „Footprint“ habe: Es gebe keine Accounts in Facebook, Instagram oder Twitter, ebenso wenig Berufsprofile bei Linkedin, Xing oder eine Website für seinen angeblichen Diamantenhandel, wohl aber mehr als 1000 Online-Bewertungen zu Hotels, Restaurants, Bars, Supermärkten und anderen Geschäften weltweit. Entsprechende Einträge aus dem Jahr 2022 indizierten auch Hotelaufenthalte in Weilheim und Berlin.
Arthur E. habe wohl zuletzt in München gelebt. Er sei mit einer russischen Zahnärztin verheiratet, deren Bruder in Miami/USA lebe. Zum Schwager und seiner Familie bestehe ein reger Kontakt.
So sei Arthur E. auch bei seinem letzten Familienbesuch Mitte November 2022 vom FBI aufgesucht worden und habe sich dort den Beamten offenbar umfänglich eröffnet. Er sei wohl bereits seit längerem aus hier nicht erwähnten Gründen im Visier der amerikanischen Ermittler gewesen. Das FBI habe Mobiltelefone, ein Laptop und eine externe Festplatte beschlagnahmt. E. sei dann am 21.01.2023 nach Deutschland abgeschoben und bei Ankunft in München in Untersuchungshaft genommen worden.
Der Verratsfall erhält – bei allem notwendigen Vorbehalt gegenüber Umfang, Qualität, Details und Hintergrund der bisherigen Veröffentlichungen, und insbesondere der Aussagen von Arthur E. – damit etwas klarere Konturen. Von einer „Ausweitung“ des Falls, wie dies in medialer Übertreibung kolportiert wird, kann dabei eher nicht die Rede sein, solange die von Arthur E. behauptete Schleusung durch einen weiteren BND-Mitarbeiter am Münchener Flughafen am 11. November 2022 nicht erhärtet und gegebenenfalls in ihrem möglichen Hintergrund aufgeklärt ist. Dass Carsten L. einen „Führungs- und Meldeweg“ haben musste, lag ja rein operativ auf der Hand. Dass dieser persönliche Kontakte impliziere, ebenfalls.
Zur Zeit liegen nun erst einmal die folgenden vorläufigen Schlussfolgerungen und weiterführenden Fragen nahe:
Die bisher erkennbare konkrete Tatverübung in Form von Dokumentenübergaben scheint zeitlich auf Oktober und November 2022 beschränkt gewesen zu sein. Es wird in diesem Zusammenhang darauf ankommen, ob und insbesondere wann sich eine konkrete dienstliche Verhaltensänderung von Carsten L. nach seinem ersten Zusammentreffen mit Arthur E. im Sommer 2021 erkennen lässt: Hier wird viel von den Aussagen der Kollegin abhängen, von der L. dienstliche Unterlagen angefordert hatte, die nicht in seinem originären Aufgabenbereich lagen. Davon unabhängig wäre allerdings auch zu untersuchen, inwieweit es Informationsabflüsse an Arthur E. im Rahmen von Gesprächsaufklärung bei Treffen zwischen Sommer 2021 und Herbst 2022 gegeben hat. Von Belang wäre hier auch zu wissen, seit wann E. in München lebte, ob sich hier gegebenenfalls zumindest ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Ansiedlung in München und seiner Bekanntschaft mit Carsten L. herstellen lässt, oder ob der Wohnsitz München sich bereits aus der Bundeswehrzeit in Feldafing ergeben hatte.
Zumindest ein Teil der übergebenen Unterlagen ist nach Umfang und Qualität identifizierbar und einer Schadensbewertung zugänglich. Dies gilt bisher jedoch nicht für möglichen verbalen Geheimnisverrat während gelegentlicher oder gar regelmäßiger Treffen über einen Zeitraum von maximal einem Jahr. Eine erste Indizwirkung könnten hier die Reisebewegungen von Arthur E. haben, z.B. ob er im Nachgang zu Aufenthalten in Weilheim oder Berlin zeitnah nach Russland gereist war.
Die Aufklärung des Falls ist offenbar eng mit der FBI-Operation gegen Arthur E. verbunden: Dass sich BND-Unterlagen in russischem Gewahrsam befänden, würde sich spätestens aus den Vernehmungen von E. durch das FBI und der Kenntnisnahme der von ihm angefertigten Fotographien ergeben haben.
Von maßgeblicher Bedeutung für das weitere Verständnis des Falls dürften die Erkenntnisse aus der FBI-Fallakte sein: War Arthur E. als Person mit verdächtigen Beziehungen nach Russland „auf den Schirm“ geraten, oder aufgrund anderer möglicherweise fragwürdiger geschäftlicher Beziehungen als angeblicher Edelmetall- und Juwelenhändler? Wäre das Ermittlungsinteresse des FBI auf mögliche allgemein-kriminelle Aktivitäten gerichtet gewesen, und der Verratsfall nur ein Beifang? Offensichtlich ist, dass das bisher bekannte Aktivitätsprofil von Arthur E. durchaus auch den Schluss hätte erlauben können, seine behauptete vielfältige internationale Geschäftstätigkeit habe in erster Linie der Legendierung nachrichtendienstlicher oder krimineller Vorhaben gedient.
Arthur E., möglicherweise aber auch sein persönliches und geschäftliches Umfeld, sind Schlüsselfiguren, gerade auch in Bezug auf die Involvierung russischer Geheimdienste. Als solche waren sie daher im Nachgang zur Verhaftung im November auch ebenso exponiert wie persönlich gefährdet. Die Warnungen des BND-Präsidenten am 22. Dezember 2022 kamen hier ganz offenkundig nicht von ungefähr. Zu E. ergeben sich zahlreiche wesentliche erkenntnisleitende Fragen: Kommt er als ein aufgrund seiner umfänglichen internationalen Reisetätigkeit und seines persönlichen wie familiären Bezugs nach Russland eher kurzfristig verpflichteter FSB-Kontakt in Betracht, oder ist die spätestens zwei Jahre nach dem Ausscheiden aus der Bundeswehr dokumentierte zunehmend globale Kontaktpflege bereits Teil einer „gelebten Legende“, die im Rahmen einer Rekrutierung durch einen russischen Dienst für den Einsatz in verschiedenen operativen Kontexten systematisch aufgebaut wurde? Können Indizien hierfür aus seinen Reisen nach Russland gewonnen werden? Dem Vernehmen nach seien seine Grenzübertritte nach Russland im Oktober und November 2022 in den FSB-Datenbanken nicht registriert worden, was auf eine entsprechende Interessenlage des Dienstes hinweisen würde. Wie steht es mit anderen derartigen Reisen, vor 2021 und danach? Wie kam im Sommer 2021 der Kontakt mit dem um zwanzig Jahre älteren Carsten L. in Weilheim genau zustande? Was führte E. überhaupt nach Weilheim? Wer kannte hier wen? Wer hat hier wen wem vorgestellt? Wie kam es dazu, dass Carsten L. so von den Afrikareisen seines neuen, deutlich jüngeren Bekannten fasziniert gewesen sein soll?
Von außen und mit nachrichtendienstlicher Perspektive betrachtet wirkt die sich bisher abzeichnende Konstellation so, als wäre hier der dem Vernehmen nach sehr sozialkompetente Arthur E. im Sommer 2021 auch unter Nutzung seines ehemaligen Bundeswehrhintergrunds an Carsten L. „herangespielt“ worden, um diesen zu forschen und gegebenenfalls auch als Quelle zu werben. In gleicher Weise wird auf der Grundlage einer solchen Arbeitshypothese auch der Frage nachzugehen sein, ob E. sich in und um München auch nach weiteren interessanten Gesprächspartnern aus dem Dienst oder anderen sicherheitsrelevanten Zielobjekten russischer Spionage umgesehen haben könnte. Erkenntnisse zu Intensität, Umfang und Qualität derartiger möglicher Aktivitäten würden eine Bewertung der nachrichtendienstlichen Relevanz der Person Arthur E. und seiner Beziehung zu Carsten L. maßgeblich beeinflussen.
Die Glaubhaftigkeit verschiedener in den Medien kolportierter Aussagen von Arthur E. muss angesichts seiner naheliegenden Interessenlage, den eigenen Tatbeitrag, aber auch zum Eigenschutz seine Beziehungen zu russischen Diensten zu minimieren, jedenfalls bis auf weiteres in Zweifel gezogen werden: Dies gilt insbesondere für Behauptungen, er habe die Unterlagen an die russische Seite in dem Glauben übergeben, es handle sich hier um eine verdeckte, von Carsten L. im Auftrag des BND durchgeführte Operation. Gleiches gilt für die behauptete Schleusung am Flughafen München durch einen weiteren, unbekannten BND-Angehörigen und die Übergabe von Geld an diesen, anstatt an Carsten L. Vorbehaltlich korrekter medialer Wiedergabe besteht ohnehin schon ein Widerspruch zwischen der Aussage E.s, Carsten L. habe die FSB-Kontakte für die Treffen in Moskau arrangiert und seiner Einlassung, er habe im Erstgespräch (!?) mit L. bereits im Sommer 2021 eigene Beziehungen zum FSB erwähnt. Hier bleiben noch zahlreiche Fragen offen, nicht zuletzt auch angesichts des berichteten Umstands, dass E. sich als eine Person mit erheblichem Geltungsbedürfnis präsentiere.
Die bisher erkennbare Mehrzahl an Indizien deutet jedenfalls weiterhin darauf hin, dass der Verratsfall eine zwar unverändert schwere, in seiner operativen Bedeutung wie seinem Schadensumfang aber eher begrenzte Dimension hat: Carsten L. wäre da „in etwas hineingeraten“. Ein – weiterhin unverzeihlicher, jedoch zeitlich wie materiell und operativ eher limitierter – „Sündenfall“ wäre hier zu beklagen, nicht jedoch eine bereits seit langem bestehende, nicht erkannte verdeckte Zuarbeit als „Maulwurf“ für einen russischen Dienst. Vergleiche mit den langjährig verübten, Menschenschicksale zerstörenden, schwerwiegenden Verratsfällen eines Heinz Felfe oder einer Gabriele Gast würden sich hier jedenfalls als voreilig erweisen.
So sehr dies im Interesse des Dienstes wie der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu wünschen wäre, so wenig zulässig wäre es auf der zur Verfügung stehenden, weiterhin rudimentären Grundlage, dies bereits heute als eine gesicherte Schlussfolgerung zu propagieren. Das „worst case-Szenario“, nach dem Arthur E. nur eine Figur, ein kleiner Kurier „im Netz“ der „Hochwertquelle des FSB“ Carsten L. gewesen wäre, kann unverändert noch nicht völlig ausgeschlossen werden. Eine solche Annahme wäre jedoch erst auf der Grundlage einer ganzen Reihe schwerwiegender und beweiskräftiger Erkenntnisse vertretbar.
Fazit, gerade auch für die öffentliche Behandlung, ist daher weiterhin: Niedriger hängen, Fakten und Kontext in ihrer Lebensrealität verstehen, von Dramatisierungen und Mystifizierungen Abstand nehmen und insbesondere auch an die Sicherheit unschuldig oder schuldig involvierter Personen denken.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad