Messgrößen für eine systematische und perspektivische ND-Policy

Eine Stellungnahme


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Gerhard Conrad

Im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um die Leistungsfähigkeit des Dienstes aus Anlass der Wagner-Revolte in Russland sind erneut eine durchaus verbesserungsfähige Sachkunde und Systematik in der medialen und politischen Befassung mit dem Bundesnachrichten-dienst ebenso deutlich geworden wie die weiterhin gängigen, unreflektierten negativen Perzeptionen, Topoi und Schemata zu dessen Aufgaben, Befähigungen und Möglichkeiten.

Der aktuelle Vorwurf, der Dienst habe „wieder einmal“ zu spät zu wenig gewusst und berichtet, hatte bekanntlich seinen Anfang mit der Beschwerde von Angehörigen des Auswärtigen Aus-schusses genommen, man habe noch am Vormittag des 23. Juni in einer vertraulichen Unter-richtung des BND zu Russland kein Wort zu den sich anbahnenden Ereignissen vernommen. Die parteiübergreifende Kritik gewann bereits am Folgetag noch an Schärfe durch Berichte aus den USA, den dortigen Dienste hätten durchaus vorab Hinweise zur Verfügung gestanden, diese jedoch auf einen kleinen nationalen Empfängerkreis limitiert. Die Äußerung des Bundeskanzlers vom 28. Juni, die Dienste hätten „natürlich“ nicht vorab von den Ereignissen gewusst, wurde weithin und seitens der Bundesregierung zunächst auch unwidersprochen als Kritik am Dienst und seinem Präsidenten perzipiert, kolportiert und konsequenterweise zum Anlass genommen, unter Hinweis auf die „Fehler und Versäumnisse“ im Zusammenhang mit Afghanistan (2021), der Ukraine (2022) und dem Verratsfall Carsten L. (2022) die Notwendigkeit eines Wechsels an der Spitze des BND zu diskutieren, wenn nicht zu fordern. Erst am 03. Juli, mithin nach zehn Tagen ungebremster medialer Eigendynamik, wurde in der Regierungspressekonferenz mit einer Antwort auf die Frage, ob der Präsident des BND noch das Vertrauen des Bundeskanzlers genieße, allgemein affirmativ in die Debatte eingegriffen, ohne dass dieser Impuls viel am Tenor der öffentlichen Diskussion hätte ändern können, die sich auf einen „Showdown“ am 05. Juli vor dem Auswärtigen Ausschuss und im Parlamentarischen Kontrollgremium fixiert hatte. Dieser fand auch statt, allerdings offenbar unter umgekehrten Vorzeichen: Parteiübergreifend wurden der Dienst und sein Präsident für eine verantwortungsvolle und professionelle Handhabung der Prigoschin-Revolte quasi kompensatorisch-überschwänglich gewürdigt und allen Versuchen, einen Personalwechsel herbeizureden, eine klare Absage erteilt. Im Lichte dieser „Generalabsolution“ fand die ebenfalls für Mittwoch zum Thema an-beraumte PKGr-Sitzung offenbar ein sang- und klangloses Ende.

Es wäre nicht verwunderlich, wenn damit die Befassung mit den wichtigen Fragen der Zeitenwende für die Position, Aufgaben, Befähigungen und Mandatierungen des Dienstes genauso schnell im anbrechenden Sommerloch verschwinden würde wie sie zuvor durch den vermuteten „Skandal“ des „BND-Versagens“ zutage gefördert worden ist. Dass all dies nichts mit einem verantwortlichen und professionellen politischen wie medialen Umgang mit dem BND zu tun hat, muss wohl ebenso wenig weiter ausgeführt werden wie die Tatsache, dass dieser Vorgang genuiner Ausdruck einer langjährigen, dysfunktionalen deutschen „intelligence culture“ ist, die es im allseitigen Interesse dringlich zu überwinden gilt. Die verantwortungsvolle sicherheitspolitische Befassung mit nachrichtendienstlichen Belangen bedarf als Teil der gesamtstaatlichen Daseinsvorsorge eines systematischen, von tagespolitischen Opportunitäten weitgehend ferngehaltenen, aufmerksamkritischen und sensiblen, jedoch zugleich sachorientierten, sachkundigen und perspektivischen Ansatzes.

Vor diesem Hintergrund legt der Gesprächskreis Nachrichtendienste nachfolgend eine Liste von grundsätzlichen Kriterien/Fragestellungen vor, die aus fachlicher Sicht im Rahmen des seit Jahren geforderten „Kassensturzes“ zur Lage des BND als Messgrößen für den aktuellen Sachstand ebenso wie als Zielgrößen für eine Weiterentwicklung des Dienstes eine Rolle spielen sollten:

  1. Klare, aktuellen und künftigen Herausforderungen angemessene Aufgabenstellung des Dienstes nach Umfang, Art und Qualität der zu erbringenden Leistungen. Gefordert ist hier die Bundesregierung, auch im Lichte der Nationalen Sicherheitsstrategie.

  2. Kontinuierliche, strukturierte, wirksame und verbindliche Austausch- und Konsultationsformate zwischen Bundesregierung und BND auf Leitungs- und Arbeitsebene. Organisatorische Einbeziehung der Beratungsleistung des Dienstes in die Entscheidungsprozesse der Bundesregierung.

  3. Adäquate rechtliche Befugnisse zur Auftragserfüllung im In- und Ausland. Orientierung an Rahmenbedingungen in demokratischen Partnerstaaten mit dem Ziel einer gleichartigen Operationsumgebung.

  4. Adäquate finanzielle Ausstattung, auf der Grundlage von mittel- und langfristig angelegten perspektivischen budgetären Planungszyklen jenseits der jeweils aktuellen Legislativperiode.

  5. Adäquate, leistungsstarke und resiliente technische Ausstattung (Sensorik nach Qualität, Reichweite und Leistungsfähigkeit) auf Spitzenniveau in Orientierung am Auftrag und an relevanten Partnern und Verbündeten. Ziel: Zumindest Gleichstand in der Qualität der Befähigungen.

  6. Bedarfs- und auftragsgerechte Dislozierung von Technik im In- und Ausland (national/in Kooperation mit Partnern)

  7. Auftragsgerechtigkeit und quantitative/qualitative Leistungsfähigkeit von Kapazitäten zur Entwicklung/Einführung/Anwendung von Zukunftstechnologie (KI, Quantum-Computing) in Beschaffung, Auswertung, Berichterstattung und außen-/sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse.

  8. Auftragsgerechtigkeit und quantitative/qualitative Leistungsfähigkeit von HUMINT-Befähigungen (Operative Infrastruktur, personeller Kräfteansatz, technischer Ansatz)

  9. Auftragsgerechtigkeit und quantitative/qualitative Leistungsfähigkeit von OSINT/ SOCMINT-Befähigungen (Erfassung, Datenanalyse)

  10. Auftragsgerechtigkeit und quantitative/qualitative Leistungsfähigkeit von IMINT/ GEOINT-Befähigungen

  11. Auftragsgerechtigkeit, Leistungsfähigkeit und strategische Perspektive der Personalausstattung, Personalführung und Personalentwicklung in Quantität und Qualität.

  12. Sicherstellung einer auftragsgemäßen Personalgewinnung in Quantität und Qualität durch innovative Maßnahmen, einschließlich zielführender Veränderungen in Laufbahn- und Besoldungsstrukturen und -Verfahren.

  13. Auftragsgerechte Sach- und Fachkunde des Personals (Profunde Expertise, qualifizierte Methodik, Befähigung zum Blick über den Tellerrand aus gesicherter Fachkompetenz).

  14. Systematischer Personaleinsatz gemäß den spezifischen Befähigungen der Mitarbeitenden.

  15. Umfassende fachliche Aus- und Weiterbildung des Personals, insbesondere in Schlüsselqualifikationen auch außerhalb des MINT-Bereichs, im Interesse optimaler Auftragserfüllung. Budgetäre und organisatorische Priorisierung von Ausbildungs-/Weiterbildung/Qualifizierung als strategische Investitionen.

  16. Strukturen und Prozesse zur Gewährleistung und Weiterentwicklung bedrohungsadäquater personeller, materieller und operativer Sicherheit unter Berücksichtigung technologischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Entwicklungen.

  17. Stabile, flexible und resiliente Aufbau- und Ablauforganisation mit klaren Zuständigkeiten und wirksamen Hierarchien, kurzen Wegen für Kommunikation und Kooperation zwischen den Organisationseinheiten und der Befähigung zur raschen Schwerpunktbildung von operativen und analytischen Kräften.

  18. Leistungsfähige technische Infrastruktur zur Analyse und Berichterstattung; technische Einbindung in die Entscheidungsprozesse der Abnehmer.

  19. Hohe und resiliente Motivation des Personals und Unternehmensbindung: Sense of Purpose.

  20. Fachkompetent-kritischer, dabei jedoch wertschätzender Umgang mit dem Ansehen des Dienstes in Politik und Medien.

  21. Angemessene systematische Einbeziehung des Dienstes in die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung wie der parlamentarischen Gremien.

  22. Angemessene kontinuierliche Selbstdarstellung des Dienstes und Erläuterung seines Auftrags wie seiner Arbeit im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und unter Berücksichtigung der Sicherheitserfordernisse.

Diese „Checkliste“ soll und kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit und (sicherheitlich in der Öffentlichkeit ohnehin unzulässige) Detailtiefe erheben, umschreibt jedoch die Konturen der in einer Bestandsaufnahme auf jeden Fall relevanten Themen.

Sie soll so einen Beitrag zu einer umfassenden, systematischen sachorientierten Befassung mit den verschiedenartigen, sich immer wieder neu stellenden Fragen und Handlungserfordernissen leisten, die – nicht nur in Deutschland! – im Rahmen einer konsistenten und ergebnisorientier-ten ND-Policy zu behandeln sind.

Auch wenn ein Großteil der aktuellen öffentlichen Kritik erneut offenbar unberechtigt ist, was nicht weiter überraschen sollte, besteht weder grundsätzlich noch gar im Zeichen der Zeiten-wende mit ihren gravierenden, langfristig virulenten sicherheitspolitischen Risiken und Herausforderungen Anlass zur Selbstzufriedenheit. Einer der wenigen nachdenklicheren aktuellen Berichte titelt so auch: „Was darf und muss der BND wissen?“ und stellt einige der hier aufgeführten Fragen.

Auch vor dem Hintergrund der Nationalen Sicherheitsstrategie mit ihren neuen, in vielen Fällen noch wesentlich klarer herauszuarbeitenden Anforderungen und Zielvorgaben werden eine solche Bilanzierung und ihre kontinuierliche Fortschreibung erforderlich sein. Ein solcher Prozess ist die notwendige Grundlage dafür, Stärken zu erkennen und weiter zu konsolidieren, ebenso wie identifizierten möglichen Schwächen und Defiziten strukturiert und perspektivisch entgegenzuwirken. Eine derartige systematisch angelegte ND-Policy wird nur in gemeinsamer Verantwortung und im Zusammenwirken zwischen dem Dienst, der Bundesregierung und den parlamentarischen Gremien kontinuierlich mit regelmäßigen Zwischenbilanzen geleistet werden können.

Für den Vorstand

Dr. Gerhard Conrad

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