Bundesnachrichtendienst unter Druck?

Eine Stellungnahme zum politischen Umgang mit dem „Fall Prigoschin“


Die folgende Fassung des Papers enthält keine Fußnoten. Die vollständige Fassung können Sie über das PDF abrufen

Dr. Gerhard Conrad

„Natürlich wussten es die Dienste nicht vorher“

Am 28.06.2023 beendete Bundeskanzler Scholz in einer TV-Sendung die öffentliche Diskussion, was der BND über den „Putsch“ von Wagner-Chef Prigoschin wann gewusst und weitergegeben bzw. nicht weitergegeben habe. Auf gewohnt lakonisch-kryptische Weise bemerkte er auf Anfrage, dass

„die Dienste in Deutschland das natürlich nicht vorher gewusst (haben)“, jedoch „dann aber auch immer weiter berichtet (haben), was zu beobachten ist“.

Hiermit sollte wohl der in den Medien beschriebene und von diesen kritisierte Umstand zusammengefasst werden, dass eine explizite Berichterstattung des BND an das Bundeskanzleramt zu den Truppenbewegungen der Wagner-Kräfte erst am Abend des 23.06.2023 erfolgte. In den deutschen Hauptnachrichten vom 23.06.2023 spielten die Ereignisse jedenfalls noch keine Rolle. Das Meldungsbild in sozialen Medien (z.B. Meduza) deutete allerdings seit ca. 16.00 Uhr auf eine mögliche operative militärische Eskalation hin.

Die Aussage des Bundeskanzlers wird wohl auch so zu verstehen sein, dass gleichermaßen nachrichtendienstliche Hinweise oder gar Erkenntnisse, die ausreichend konkrete Anhaltspunkte für die denklogisch notwendige taktische Vorbereitung der Aktion in den vorausgegangenen Tagen oder gar deren Konzeption und Planung gegeben hätten, im Vorfeld der Ereignisse jedenfalls nicht berichtet worden seien. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass auch in den Medien frühere Hinweise auf mögliche operative Vorbereitungen der Wagner-Truppe nicht bekannt sind. Selbst das sehr detailliert berichtende Institute for the Study of War (ISW) vermerkt am 22.06.23 lediglich, dass eine bis 01.07.2023 vom russischen Verteidigungsministerium angestrebte Unterordnung der Wagner-Verbände unter das Streitkräftekommando nicht absehbar sei, und Wagner dabei sei, eine eigene Polizei für die von ihnen kontrollierten Gebiete im Donezk aufzubauen Wie alle anderen, kann ISW erst über Social Media Exploitation / Analysis zeitgleich mit den anderen Medien die Ereignisse am Abend des 23.06.2023 erfassen und entsprechend berichten.

Die Aussage des Bundeskanzlers lässt nicht erkennen, ob und insbesondere mit welchem Tenor der BND in den Monaten zuvor zu den bekannten Spannungen und eskalierenden Machtkämpfen zwischen Prigoschin und der russischen Streitkräfteführung berichtet hatte. Öffentlichkeitswirksam ist in diesem Zusammenhang nur die Aussage von BND-Präsident Kahl vom 22.05.2023 vor der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) geworden, der zufolge es „trotz vereinzelter Kritik - etwa, was Munitionslieferungen angehe - … keine Anzeichen (gebe), dass das System ins Wanken gerate oder implodiere. Dies sei aber auch nicht auszuschließen“. Aus Kreisen des PKGr wird jedoch angemerkt, dass seither die krisenhaften Entwicklungen um Prigoschin sehr wohl weiter verfolgt und berichtet worden seien. Die „langen Linien“ und Konfliktpotentiale seien durchaus erkannt und bewertet worden. Sollte dies so gewesen sein, wäre es im Rahmen eines fairen und wertschätzenden Umgangs mit dem Dienst und seiner Leitung bestimmt hilfreich gewesen, dies auch entsprechend anzumerken. Dies gilt auch für den Umstand, dass die negative mediale Interpretation der Formulierung, die Dienste hätten „dies natürlich“ nicht vorhergesehen, unwidersprochen im Raume stehen gelassen worden ist. Damit hat sich in den vergangenen Tagen der traditionelle unreflektierte, nahezu zwanghafte öffentliche Diskurs von den „unfähigen“ Diensten eigendynamisch bis hin zu Mutmaßungen über notwendige personelle Konsequenzen verselbständigt, der nicht erkennen lässt, dass man sich der Mühe einer näheren Betrachtung der bisher erkennbaren Fakten hat unterziehen wollen. Ein vergleichbarer ebenso fahrlässiger wie interessegeleiteter öffentlicher Umgang mit dem Dienst ist bereits in einem anderen Zusammenhang kritisch vermerkt worden.

Die USA wussten es besser?

auf dem Kriegsschauplatz durch die offenbar aus Kreisen der US-Regierung oder ihrer Dienste an die amerikanischen Leitmedien geleakten Informationen, denen zufolge man bereits Mitte Juni nachrichtendienstliche Hinweise auf entsprechende Ambitionen und Planungen Prigoschins erhalten und diese auch an einen sehr engen ausgewählten Empfängerkreis in Washington weitergegeben habe. Die Rebellion der Wagner-Gruppe sei nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Der sich zuspitzende Machtkonflikt zwischen Prigoschin und der russischen Armeeführung sei ja in aller Öffentlichkeit, einschließlich eines Austauschs von gegenseitigen Drohungen, ausgetragen worden. Man habe zudem Berichte und Indikationen erhalten, dass Wagner im Vorfeld der Rebellion Waffen und Munition zusammengezogen hätten. US-Dienste hätten angesichts der heftigen Spannungen und Konflikte bereits früher mit einzelnen Zusammenstößen gerechnet, jedoch eine größere Revolte erst Tage später im Lichte der dann beobachteten militärischen Vorbereitungen für eine größere Operation als mögliche Handlungsoption für Prigoschin in Betracht gezogen.

Am 21.06. habe man nachrichtendienstliche Hinweise zu konkreteren operativen militärischen Vorbereitungen erhalten und dies erneut einem engen, besonders autorisierten Abnehmerkreis in Washington berichtet. Unter Bezugnahme auf eine besonders sensitive Quellenlage und die Brisanz des Sachverhalts habe man allerdings aus operativen Sicherheitsgründen davon Abstand genommen, bereits zu diesem Zeitpunkt Nachrichtendienste der Partner, selbst der Ukraine, zu informieren. Zu viel habe auf dem Spiel gestanden. Eine mögliche Ausnahme sei Großbritannien gewesen, jedenfalls aber nicht der BND, und auch nicht die Bundesregierung als solche. Irritationen und Frustrationen von Partnern und Alliierten habe man hier aus übergeordneten Interessen in Kauf nehmen müssen.

Mit den Verbündeten habe Washington dann erst im Laufe des 24.06.23 auf politischer Führungsebene Kontakt aufgenommen, um sie ins Bild zu setzen und mit ihnen eine Politik der äußersten öffentlichen Zurückhaltung abzusprechen.

Reality-Check: Need to Know und Need to Share

Es bleibt mithin zunächst einmal festzuhalten, dass der BND hier offenbar das Schicksal der meisten Verbündeten – mit der möglichen Ausnahme Großbritanniens – teilte, an den US-Erkenntnissen nicht zeitnah partizipieren zu können. Es bleibt auf der bisher verfügbaren medialen Informationsbasis auch zu konstatieren, dass Partnerdienste offenbar auch nicht aus eigenem Aufkommen zur Schlussfolgerung gekommen sind, eine Revolte der Wagnertruppen stehe bald oder sogar unmittelbar bevor. Sollte die Medienberichterstattung in dieser Form zutreffen, wäre somit der wenig überraschende Umstand festzuhalten, dass es der USA mit ihren außergewöhnlichen nachrichtendienstlichen Möglichkeiten erneut gelungen wäre, exklusive Einblicke in taktische Entwicklungen von erheblicher politischer Bedeutung zu nehmen, diese aber an praktisch keinen externen Partner weitergegeben hätten.

Aus fachlicher Sicht ist hierzu grundsätzlich anzumerken, dass es gängige, allseits – auch in Deutschland – verfolgte Praxis von Nachrichtendiensten ist und im Interesse aller sein muss, sensible Informationen nur dann zu teilen, wenn dies der eigenen operativen Interessenlage dient und insbesondere nicht eigene, exponierte hochwertige Quellen gefährdet. Dies ist ein elementares Gebot der operativen Sicherheit und wird auf professioneller Ebene allseits praktiziert und akzeptiert. Dies ist umso plausibler, wenn eine Offenlegung der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse kein unmittelbares politisches oder militärisches Handlungserfordernis im Vorfeld des künftigen Ereignisses generiert, so dass eine Zurückhaltung die Interessen des Partners schädigen würde, der sich dann nicht zeitgerecht hätte darauf vorbereiten können. In einem solchen sich abzeichnenden möglichen Dilemma würde dann eine Ausnahme unter Wahrung striktester Geheimhaltung gemacht werden können. Die sich abzeichnenden Ereignisse in Russland waren jedoch zumindest auf kurze Sicht zwar von potentiell hoher Bedeutung, implizierten jedoch nicht erkennbar gravierende unmittelbare Sicherheitsrisiken und aktuelle vorbeugende Handlungserfordernisse, zum Beispiel für die Bundesrepublik Deutschland, die bekanntlich nicht unmittelbar in die Vorgänge auf dem Kriegsschauplatz involviert ist. Also galt hier offenbar eindeutig die praktische Umsetzung des „need to know“- und „need to share“-Prinzips, was aus nachrichtendienstlich-professioneller Sicht nicht nur nicht zu beanstanden, sondern einzu-fordern ist. Mit „nice to know“ und „nice to share“ sind Krisen und Konflikte nicht adäquat zu meistern. Die berichtete amerikanische Zurückhaltung ist so insbesondere auch kein Indiz für eine mangelnde Einbindung in internationale Austauschbeziehungen zwischen Nachrichtendiensten. Sie ist einfach business as usual und best practice, bestimmt aber kein Grund für eventuelle verletzte Eitelkeiten in der verfehlten Annahme einer wie auch im Einzelnen zu begründenden Sonderstellung der Bundesrepublik Deutschland als Freund, Verbündeter und Partner. Was hier zählt, sind operative Sicherheit und damit verbunden eben auch Sicherheit und Leben von Quellen.

Post Mortem

Eine andere Frage ist es allerdings, ob die Vorbereitungshandlungen zur Rebellion zumindest teilweise hätten auch von anderen Diensten mit eigenen Mitteln aufgeklärt werden können, wenn sie denn wirklich so offensichtlich gewesen waren, wie von amerikanischer Seite angedeutet. In den internationalen Medien ist hiervon bei erster Durchsicht erst einmal wenig zu erkennen, einmal abgesehen von Meldungen von Ende Mai/Anfang Juni, denen zufolge der bekannte russisch-ukrainische Militärblogger Girkin Prigoschin die Vorbereitung eines Putsches vorgeworfen hatte. Nicht überraschen kann, dass auch die öffentlichen täglichen Lageberichte des britischen Verteidigungsministeriums keine Hinweise enthalten; alles andere hätte sich ja aus den oben aufgeführten Beweggründen bereits verboten.

Es bleibt hier mithin im Rahmen eines in solchen Fällen professionell immer erforderlichen internen (!) Postmortems zu prüfen, ob es tatsächlich mit nationalen Mitteln erfassbare Indikationen gegeben haben könnte, die eventuell aufgrund fehlerhaft eingesetzter oder a priori defizitärer Sensorik verpasst oder im Analyseprozess nicht erkannt und sachgerecht interpretiert sein könnten. Dies würde dann der sattsam bekannten Kategorie der intelligence failures zuzuordnen sein, vor denen kein Dienst, auch die US-Intelligence Community, nicht gefeit ist.

Am Anfang steht hierbei allerdings erst einmal die Frage, ob die eigenen Potentiale in Beschaffung und Auswertung derartige Aufklärungsergebnisse überhaupt ermöglichen: Stehen die geeigneten Sensoren in ausreichender Zahl, Leistungsfähigkeit und Dislozierung zur Verfügung? Lassen sich alternative Beschaffungsoptionen für den in Frage stehenden Aufklärungsraum entwickeln, bereitstellen und einsetzen? Müssen bereits bestehende Potentiale optimiert oder in anderer Weise eingesetzt werden? Könnten die erforderlichen Informationen im Zusammenwirken mit Partnerdiensten von vergleichbarer operativer Leistungs- und Handlungsfähigkeit im Rahmen von Burden-Sharing erhoben und ausgewertet werden? Die im politischen Raum bei derartigen Vorwürfen und Abqualifizierungen zum Standardrepertoire gehörende implizite Gleichsetzung von Erwartungshaltungen an den BND und die US Intelligence Community, frei nach dem Motto „Wenn das die Amerikaner können, wieso dann nicht der BND?!“, wirkt angesichts der dramatischen, allseits bekannten, anerkannten oder auch bei passender Gelegenheit opportunistisch verurteilten amerikanischen Überlegenheit unfreiwillig komisch und wenig sachkundig. Zusätzlich sollte in diesem Zusammenhang nicht versäumt werden, sich der jahrzehntelangen Unterfinanzierung und Mangelausstattung des Dienstes, aber eben auch seiner rechtlichen Einschränkungen bewusst zu sein, die ja in anderem Kontext als internationales Alleinstellungsmerkmal durchaus immer wieder positiv hervorgehoben werden: Es geht nicht beides zusammen: Auszehrung von Kapazitäten als Friedensdividende, gepaart mit höchster Skrupulosität im Mitteleinsatz, und die pauschale Forderung nach nachrichtendienstlichen operativen und analytischen Spitzenergebnissen „auf US-Niveau“. Die möglicherweise ernüchternde Erkenntnis, dass die Bundesrepublik Deutschland in ihrer „vorwendezeitlichen“ Sicherheitsarchitektur und „intelligence culture“ nicht unbedingt „in der ersten Liga“ mitspielen kann, sollte inzwischen eigentlich überall Platz gegriffen haben und allmählich einer realitätsbezogeneren und insbesondere handlungs- und veränderungsorientierteren Einstellung weichen.

Analyse und Konsequenzen

Es wäre mithin zu wünschen, wenn nun im Zusammenhang mit der causa Prigoschin anstehende Fragen in einer sach- und lösungsorientierten Weise behandelt werden könnten. Damit würde dem Dienst wie der Sache gleichermaßen Gerechtigkeit widerfahren. Darüber hinaus könnte so auch ein konkreter Beitrag für die ohnehin dringliche weitere Ertüchtigung des Dienstes als Teil der insgesamt renovierungsbedürftigen Sicherheitsarchitektur geleistet werden. Die personellen, materiellen, operativen und prozeduralen Befähigungen werden, ebenso wie die rechtlichen Rahmenbedingungen, einer rigorosen Bestandsaufnahme mit Blick auf nötige und mögliche qualitative, prozessuale und strukturelle Optimierungspotentiale zunächst innerhalb, dann jedoch zum frühestmöglichen Zeitpunkt auch außerhalb des bestehenden budgetären Rahmens, zu unterziehen sein. Dieser vom GKND bereits seit langem geforderte und im Rahmen des Möglichen thematisch konkretisierte überfällige Kassensturz, wie ihn die Bundeswehr hat durchführen müssen, wird auch dem BND, der Bundesregierung, aber auch den für die legislativen und budgetären Rahmenbedingungen zuständigen parlamentarischen Gremien nicht erspart bleiben.

Für den Vorstand

Dr. Gerhard Conrad

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Parlamentarische Kontrolle der Dienste - Praxis und Praktikabilität