Impulse aus nationaler und internationaler Praxis für integrierte Lagearbeit und Entscheidungsfindung
Ein Diskussionsbeitrag zum 7. Kongress Wehrhafte Demokratie in Berlin 16.-17.06.2025
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Dr. Gerhard Conrad (Direktor im BND a.D./Director EU INTCEN a.D.)
Der von der Bundesregierung in der Koalitionsvereinbarung erklärtermaßen angestrebte „Whole of Government Approach“ in der Sicherheitspolitik erfordert eine strukturelle Umstellung von Zuständigkeiten und Arbeitsabläufen auf Bundes- und Bund-Länder-Ebene. Dieser Prozess ist alles andere als trivial, zumal er vor dem Hintergrund eines allseitigen, letztlich wider besseren Wissens jahrzehntelang durchgehaltenen institutionellen wie politischen Beharrungsvermögens, umzusetzen sein wird. Er wird Zeit, Konstruktivität und Gestaltungskraft im Sinne der Ganzen auf allen Ebene erfordern sowie den Willen aller Beteiligten zur eigenen Umorientierung und Anpassung an neue Gegebenheiten. Er stellt damit eine Herausforderung für den Führungs- und Gestaltungswillen, und insbesondere für das Bewusstsein einer gemeinsamen, gesamtstaatlichen Verantwortung auf Bund- und Länderebene dar.
Eine wesentliche und zugleich notwendige Änderung wird die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats samt Unterbau im Bundeskanzleramt sein, den die neue Bundesregierung in der Koalitionsvereinbarung auch in Aussicht gestellt hat. Sie zieht damit auch Konsequenzen aus den Empfehlungen der Enquête-Kommission Afghanistan vom 27.01.2025, die ihrerseits Schlussfolgerungen aus der Dysfunktionalität außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungsprozesse der vergangenen 20 Jahre sind.
Ein derartiger Sicherheitsrat wird von allen Ressorts beschickt werden müssen, in deren Zuständigkeitsbereich sicherheitsrelevante Sachverhalte, insbesondere auch aus den Bereichen der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, infrastrukturellen und gesellschaftlichen Resilienz und Zukunftsfähigkeit, liegen.
Sicherheit kann nicht an zwei oder drei Kernressorts (BMVg, BMI, AA) quasi ausgelagert werden, während der Rest die sicherheitliche Dimension im eigenen Zuständigkeitsbereich ignoriert, vernachlässigt oder ohne systematische Rückbindung an die anderen betroffenen Stellen wahrnimmt.
Nur durch gemeinsam und in Arbeitsteilung vorgenommene Erhebung, Betrachtung, Bearbeitung und Analyse im Rahmen von Lagefeststellung und Lagebeurteilung wird im Laufe der Zeit ein gemeinsames, auch handlungsleitendes Sicherheitsbewusstsein entstehen, das wiederum auf eine gemeinsame Kultur ressortspezifischer Aufgabenwahrnehmung rückwirkt.
Die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland bringt es mit sich, dass neben der Bundes- auch die Landesregierungen unter Einschluss der Arbeitsebene ebenso sachgerecht wie wirksam einzubinden sind.
Vor diesem Hintergrund wird ein Sicherheitsrat als ressortübergreifende gesamtstaatliche Aufgabe zwingend im Bundeskanzleramt angesiedelt sein müssen. Es ist das Bundeskanzleramt, das unbestritten für die Koordination des gesamtstaatlichen Handelns auf Bundes- wie Länderebene verantwortlich ist. Mit der Übertragung von Federführung an einzelne Ressorts würde eine unzulässige und insbesondere dysfunktionale Auslagerung der Gesamtverantwortung einhergehen.
Der Sicherheitsrat ist ein Kabinettsausschuss. Er dient der koordinierten Entwicklung und Vorlage abgestimmter sicherheitspolitischer Maßnahmen auf strategischer, operativer und taktischer Ebene, die von Bundes- und Landesregierungen im Rahmen ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Kompetenzen beschlossen und koordiniert umgesetzt werden.
Die notwendige Grundlage für sachgerechte Entscheidungen ist ein zutreffendes, aktuelles und analysiertes Lagebild zum jeweils in Frage stehenden staatlichen Problem-, Handlungs- und Regelungsbereich mit dem Anspruch auf größtmögliche Objektivität, aus dem entsprechende operative Konsequenzen abgeleitet werden können.
Zu diesen strategischen, aber auch taktischen Lagebildern müssen alle jeweils fach- und sachkompetenten Stellen von Bund und Ländern im Rahmen eines strukturierten und geregelten Prozesses bereits auf Arbeitsebene beitragen, um gemeinsam eine fachliche Sicht auf die Fragestellungen zu entwickeln.
Das organisatorische Zentrum dieses gesamtstaatlichen, ressortübergreifenden Lagefeststellungs- und Lagebeurteilungsprozesses muss als Unterbau des Sicherheitsrats erneut im Bundeskanzleramt liegen. Die Leitung dieses Zentrums sollte direkt der Leitung des Sicherheitsrats unterstehen, der wiederum für die Fach- und Dienstaufsicht zuständig ist und im Zusammenwirken von Bund und Ländern die Rahmenbedingungen für dessen Aufbau- und Ablauforganisation setzt.
In einem solchen „Gemeinsamen Lage- und Analysezentrum (GLAZ)“ von Bund und Ländern könnten Vertreter der Ressorts, Bundes- und Landesbehörden in gemeinsamen Fachgruppen auf Arbeitsebene strategische und taktische Lagen zur Unterstützung der Entscheidungsvorschläge des Sicherheitsrats erarbeiten. Erreicht werden soll auf diese Weise ein gemeinsames, von fachlichen und nicht politischen Interessen getragenes möglichst objektives und umfassendes Arbeits-, Analyseergebnis mit einer greifbaren Aussage zur kurz- bis mittelfristigen Lageentwicklung und hieraus resultierenden Handlungserfordernissen (contingencies).
Aufbau- und ablauforganisatorisch kann das GLAZ grundsätzlich auf den bestehenden Strukturen im Bundeskanzleramt (024/Lagezentrum, Spiegelreferate) aufbauen, sofern jeweils eine klare und ausschließliche Aufgabenzuweisung im Sinne einer fachlichen Lagebearbeitung mit bestimmten Dienstposten verbunden wird. Die entsprechenden Dienstposten müssten ihrerseits mit bestehenden oder zu schaffenden Lagestäben in den Ressorts und Bundesbehörden verbunden werden. Diese wiederum müssten im Rahmen der föderativen Ordnung auf existierende oder gegebenenfalls einzurichtende komplementäre Lagestrukturen in den Landesregierungen und Landesbehörden zurückgreifen können.
In gleicher Weise werden strukturierte Arbeits- und Austauschbeziehungen zu den komplementären integrierten multinationalen Lage- und Analysestrukturen in EU (INTCEN, EUMS.INT) und NATO (JISD) zum Abgleich, zur Ergänzung und Konsolidierung der jeweiligen Lagebilder einzurichten sein.
Entscheidend für ein tragfähiges Ergebnis ist, dass Lagefeststellung und Lagebeurteilung auf fachlicher Ebene und unter fachlichen Aspekten stattfinden. Die Sinnstiftung und Zielsetzung der Mitarbeitenden muss auf einen gemeinsamen Erfolg im Sinne eines optimalen Arbeitsergebnisses gerichtet sein, nicht auf die optimale Vertretung der Interessen der jeweiligen Herkunftsbehörde. Hier bedarf es eines voraussichtlich aufgrund möglicher beruflicher Prägungen nicht immer trivialen Schulungs- und Orientierungsprozesses. Dies gilt ebenfalls für die methodischen Fertigkeiten, die mit einer auswertenden Tätigkeit notwendig verbunden sind. Auch hier sind Schulungsmaßnahmen gerade in der Etablierungsphase eines gemeinsamen Lagezentrums zu empfehlen, nicht zuletzt auch, um bereichsübergreifend gemeinsame methodische Ansätze und Verfahrensweisen zu etablieren.
Die Lagestäbe sollten auf allen Ebenen befugt und aufgerufen sein, im Bedarfsfall auch externe fachliche Expertise für die Lagefeststellung und Analyse beizuziehen, ggf. unter Berücksichtigung der erforderlichen Geheimschutz- und Sicherheitsbestimmungen. Hierzu werden bereits vorab entsprechende Kommunikations- und Beratungsstrukturen zu schaffen sein, um das zeitliche und fachliche Risiko von Ad-Hoc-Konsultationen zu minimieren.