„Framing Zeitenwende“
Auf der Suche nach dem neuen Paradigma für die postliberale Weltordnung
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Thomas Horlohe
Herr Dipl.-Pol. Thomas Horlohe beschäftigt sich seit seinem Studium in Hamburg, Berlin und Washington, D.C. (Fulbright-Scholar) immer wieder mit außen- und sicherheitspolitischen Strategiefragen. Er trug ge-legentlich zur Rundfunksendung „Streitkräfte und Strategien“ des Norddeutschen Rundfunks bei und ver-öffentlichte in der "Zeitschrift für Politikberatung", in der Fachzeitschrift "Sicherheit & Frieden" und im Jahrbuch Terrorismus 2010 und 2013/14. Hauptberuflich ist er seit Oktober 2013 in der Ministerialver-waltung des Landes Baden-Württemberg tätig
Im Rahmen seiner Bemühungen um eine sachgerechte Diskussion von Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit und ihren Implikationen für die Nachrichtendienste kann der GKND einen weiteren sach- und fachkundigen Beitrag zur aktuellen Diskussion einer Neuorientierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in die Reihe seiner Hintergrundinformationen aufnehmen und präsentieren.
Die in ihrer politikwissenschaftlichen wie historischen Perspektive ebenso fundierte wie kritisch-konstruktive Betrachtung der außen- und sicherheitspolitischen Genese wie auch der aktuellen Bedingtheiten der „Zeitenwende“ kontextualisiert und akzentuiert die Thematik in eindrucksvoller Weise.
Umso mehr ist Herrn Horlohe für seine freundliche Bereitschaft zu danken, sein Papier dem GKND als Denkanstoß für die aktuelle politische Diskussion zur Verfügung zu stellen.
Für den Vorstand
Dr. Gerhard Conrad
Kurzfassung:
Russlands Überfall auf die Ukraine wurde vom Niedergang der liberalen internationalen Ordnung und von der Schwäche ihrer Führungsmacht USA ermuntert. Als Staats- und Regierungsform ist die liberale Demokratie seit einiger Zeit herausgefordert, von innen wie außen. Vor diesem Hintergrund steht Deutschland vor großem Handlungs- und Anpassungsbedarf. Die „Zeitenwende“ vom 27. Februar 2022 und die „globale Zeitenwende“ ein Jahr später werden diesen Herausforderungen mit dem Entwurf einer multipolaren Ordnung nicht ausreichend gerecht. Vielmehr zeichnet sich ein Systemkonflikt zwischen Autokratien und Demokratien ab, der an die Zwanzigjährige Krise von 1919 bis 1939 erinnert. Daher ist Antirevisionismus ein aussichtsreicher Kandidat dafür, zum Paradigma der postliberalen Weltordnung zu werden.
Abstract:
Russia’s war on Ukraine was encouraged by the decline of the liberal international order and by the weakness of its leading power, the US. For some time now liberal democracies have been challenged both domestically and from outside. Against this background, Germany faces profound challenges. Both the “historic pivot” (Zeitenwende) proclaimed on February 27, 2022 and the “Global Zeitenwende”, advancing a multipolar order one year later, fall short. Instead a systemic conflict between autocracies and democracies is taking shape, resembling the pattern of The Twenty Year’s Crisis from 1919 to 1939 in Europe. Thus Antirevisionism is a strong candidate for becoming the new paradigm of the postliberal world order.
1. Einleitung
Bundeskanzler Scholz versuchte mit seiner „Zeitenwende“-Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 zweierlei auf einen Begriff zu bringen: die Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung durch den russischen Überfall auf die Ukraine und Deutsch-lands Reaktion darauf. Rhetorisch ist dieser Spagat geglückt, analytisch und programmatisch eher weniger. Wiederum auf einem ganz anderen Blatt steht die Umsetzung der angekündigten sicherheitspolitischen Wende.
Am Maßstab der bisherigen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gemessen, markiert die Regierungserklärung eine Zäsur. Gemessen an den Veränderungen im internationalen System wirkt sie verspätet und als zu klein geraten. Mit seinem Aufsatz „Die Globale Zeitenwende“ legte der Bundeskanzler ein Jahr später programmatisch nach und stellte seine Zeitenwende nun in den Interpretationsrahmen einer neuen multipolaren Weltordnung. Dieses framing kontrastiert mit dem, was vielfach als weltweiter Systemkonflikt zwischen Autokratien und Demokratien angesehen wird. Im Wett-bewerb um die Deutungshoheit über die postliberale Weltordnung wirkt der Systemkonflikt stärker und konsensfähiger als die Multipolarität. Deshalb hat Antirevisionismus gute Aussichten darauf, das neue Paradigma der postliberalen Weltordnung zu werden.
Dieser Aufsatz kritisiert zunächst in Abschnitt 2 die Legendenbildung, denen die Zeitenwende-Rhetorik Vorschub leistet, und plädiert für eine selbstkritische und realitätstaugliche Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Anschließend wird die Zeitenwende in Abschnitt 3 an ihrem historischen Anspruch gemessen, auf die letzte Zeitenwende zurückgeblendet und auf das geblickt, was aus ihr geworden ist. Im Ergebnis erscheint Russlands Zerstörung der europäischen Sicherheit begünstigt von der Krise der liberalen internationalen Ordnung. Von dieser Ordnung hat Deutschland im besonderen Maße profitiert und steht daher vor besonders großem Anpassungs- und Handlungsbedarf. Hierin werden die Herausforderungen gesehen, auf die eine Zeitenwende Antworten zu geben hätte. In Abschnitt 4 wird die „Globale Zeitenwende“ von Bundeskanzler Scholz mit ihrer Vorstellung einer multipolaren Ordnung dem Systemkonflikt zwischen Autokratie und Demokratie gegenübergestellt. Der letzte Abschnitt hebt die Parallelen dieses Systemkonflikts zur Zwanzigjährigen Krise Anfang des vorigen Jahrhunderts hervor. Freiheitlich demokratische Rechtsstaaten sind nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht. Beide Bedrohungen hängen ursächlich miteinander zusammen. Es kommt darauf an, ihnen besonnen, aber entschlossen entgegenzutreten.
2. Die Legende von der Zeitenwende
Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik hatte in der letzten Februarwoche des Jahres 2022 ein Rendezvous mit der Realität. Es verlief enttäuschend. „Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger, wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“, berichtete am Morgen danach eine sichtlich ernüchterte Außenministerin Baerbock. Damit formulierte sie treffend, wie die Mehrheit der Deutschen den Überfall Russlands auf seinen Bruderstaat Ukraine empfand. Das „Wir“ war ein Identifikationsangebot an die Bürgerinnen und Bürger, im Angesicht des Schreckens mit der Außenministerin in eine Schicksalsgemeinschaft der Schockierten und Empörten einzutreten.
Drei Tage später verwendete Bundeskanzler Scholz in seiner Regierungserklärung dieselbe rhetorische Figur.
„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. (…) Und das bedeutet: Die Welt ist danach nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“
Doch ist es wirklich eine andere Welt, in der wir am 24. Februar aufgewacht sind? Hat Putin „eine neue Realität geschaffen“?
Wohl eher nicht. Der zweite Tschetschenien-Krieg im Jahr 1999, der gescheiterte Versuch Russlands, im Jahr 2004 in Kiew einen Präsidenten eigener Wahl zu installieren, der Georgien-Krieg im August 2008 mit anschließender Annexion von Südossetien und Abchasien, die Verletzung des Abkommens über Mittelstreckenwaffen (INF) im Jahr 2012, der Anschluss der Krim 2014 und die Interventionen in Donezk und Luhanzk, einschließlich des Abschusses von Passagierflug MH 17 mit 298 Toten, die Syrien-Intervention ab September 2015, die zwei Cyber-Angriffe auf den Deutschen Bundestag im Jahr 2015, die Cyber-Intervention in die Präsidentschaftswahl der USA im Jahr 2016, zahlreiche politische Attentate im In- und Ausland, die Militärinterventionen in Libyen im Jahr 2019, in Belarus im Jahr 2020, in Kasachstan und Mali im Jahre 2022, all das war von dieser Welt. Wer sehen wollte, konnte Kontinuität und Eskalation erkennen. Sie gipfelten in der maßlosen Forderung Russlands vom Dezember 2021 nach „Abzug aller Truppen und Rüstungen der USA aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie aus dem Baltikum“ und nach Rückbau der NATO auf den Stand des Jahres 1997. Die Forderungen waren mit der Androhung „militärtechnischer Maßnahmen“ verknüpft, weswegen das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) denn auch von einer „konditionierte[n] Kriegserklärung an die NATO“ sprach.
Man benötigte eine selektive Wahrnehmung, wenn nicht Realitätsverweigerung, um die „breite Spur“ der Gewaltanwendung in Putins Politik zu übersehen. Der 24. Februar 2022 markierte keine Zäsur in der Politik von Putins Russland. Doch der 27. Februar 2022 bedeutete eine Wende in deren Wahrnehmung durch die deutsche Politik. Warum war sie so lange unfähig, die russische Gewaltpolitik als das zu erkennen, was sie leider bereits seit langem ist?
2.1 Kollektiver Irrtum?
Häufig war seit Februar 2022 die Antwort zu hören, man habe sich geirrt oder getäuscht, hätte die wahren Absichten Putins früher erkennen müssen. Der frühere Außenminister Sigmar Gabriel beispielweise beklagt ein „massives Scheitern“ und einen „kompletten Fehlschlag“ deutscher Russlandpolitik und fordert, die Ursachen des gemeinschaftlichen Versagens gründlich aufzuarbeiten. Die Versuche hierzu beschränken sich auf Reportagen über deutsch-russische Politikernetzwerke.
Einen vielversprechenden Ansatzpunkt für die überfällige Aufarbeitung bietet die außen- und sicherheitspolitische Programmatik der SPD. Ihr damaliger Bundesgeschäftsführer Egon Bahr entwickelte 1980 als Mitglied der „Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit“ (sog. Palme-Kommission) die Idee der Gemeinsamen Sicherheit. Dem Anspruch nach sollte sie eine Alternative zur Doktrin der gegenseitigen Nuklearabschreckung sein.
Gemeinsame Sicherheit stand in der Kontinuität sozialdemokratischer Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre. Bahr wollte Entspannung auf militärischem Gebiet weitertreiben. Unter den Bedingungen gesicherter gegenseitiger Vernichtungsfähigkeit mit Kernwaffen gelte es, ideologische Gegensätze dem Imperativ der Friedenserhaltung unterzuordnen. In der Sicherheits- und Militärpolitik sollte über „Wandel durch Annäherung“, wie Bahr die Ostpolitik der SPD bereits im Sommer 1963 auf den programmatischen Begriff gebracht hatte, mittels Dialog, Vertrauensbildung, Kompromissen, Verhandlungen und Verträgen am Ende eine europäische Friedensordnung errichtet werden, ohne Kernwaffen und mit einem stabilen Gleichgewicht konventioneller Rüstung. Unter dem maßgeblichen Einfluss Bahrs setzte sich Gemeinsame Sicherheit in der Programmatik der SPD durch. Die Partei wurde in der Bundesrepublik „zum politisch einflussreichsten und wichtigsten Träger der Vorstellung“.
Mit Gemeinsamer Sicherheit trieb Bahr die politische Annäherung mittels wirtschaftlicher Verflechtung deutlich weiter als bisher in der Entspannungspolitik. In einer möglichst großen wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit sah er das Unterpfand für das Gemeinsame der Sicherheit.
„Ein solches Konzept gestattet für die Wirtschaft eine Entwicklung hin zu gegenseitiger Abhängigkeit. Bei gemeinsamer Sicherheit ist eine derartige wirtschaftliche Verflechtung möglich, daß daraus zusätzlich friedensstabilisierende gemeinsame Interessen wachsen. Natürlich sind damit Sanktionen, Boykotts oder ähnlich unwirksame Bestrafungen unver-einbar.“
Eine aus Verflechtung resultierende wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland war also politisch gewollt. Auch wenn Kontext und programmatische Urheberschaft der Gemeinsamen Sicherheit in Vergessenheit geraten zu sein scheinen, so wurde die Politik von allen Bundesregierungen und den sie tragenden Parteien fortgeführt. Daher überzeugt die These vom Irrtum deutscher Russlandpolitik nicht. Hinter ihr stand Absicht, eine ursprünglich durchaus ehrenhafte.
2.2 Wirtschaftliche Interessen
Sehr viel plausibler als die These vom kollektiven Irrtum ist eine Erklärung, die in unseren Nachbarländern in leiseren Tönen, vor allem aber in den USA offen vertreten wird. Danach beruhte die deutsche Russlandpolitik nicht auf einem Irrtum, sondern auf grober Fahrlässigkeit oder sogar bedingtem Vorsatz. Nach einer politischen Güterabwägung wurde wirtschaftlichen Interessen Vorrang vor dem eingeräumt, was uns nach dem 24. Februar 2022 immer häufiger als „werteorientierte Außenpolitik“ begegnet. Die Aggressionen Russlands wurden in Kauf genommen, wenngleich stets unter Protest. Doch die Wettbewerbsvorteile für die deutsche Wirtschaft aufgrund der preisgünstigen Energieimporte aus Russland waren einfach zu attraktiv, um diese Politik nicht auch dann noch fortzusetzen, als ihre außen- und sicherheitspolitische Schadensbilanz unübersehbar wuchs.
Die deutsche Wirtschaft hat einen hohen Industrieanteil und ist ausgeprägt exportorientiert. Preiswerte Energie aus Russland war für sie wettbewerbsrelevanter als für andere Ökonomien, z.B. solche mit einem starken Dienstleistungssektor. Dieser Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkt übersetzte sich in Ertragsstärke und Wachstum der Unternehmen, hohe Beschäftigung und Wohlstand. Um diesen ökonomischen Mechanismus nicht zu gefährden, wurde gegenüber der Außenpolitik Russlands unter Putin Vorsicht und Nachsicht geübt. So wird das Veto Deutschlands (und Frankreichs) im April 2008 gegen den NATO-Beitritt von Ukraine und Georgien nachvollziehbar, ebenso wie die in ihren Konsequenzen zurückhaltende Reaktion auf den ersten Überfall auf die Ukraine im Jahr 2014.
Als Folge der energiepolitischen Interessenallianz zwischen dem ‚System Putin/Gazprom‘ und der ‚Deutschland AG‘ täuschte sich die politische Funktionselite Deutschlands mehrheitlich über den Charakter und insbesondere auch über die strategischen Zielsetzungen der russischen Außenpolitik hinweg. Was nicht in das von den wirtschaftlichen Interessen beeinflusste Russlandbild passte, das wurde verdrängt oder wegerklärt. Das fiel leicht, weil mit der Idee von der Gemeinsamen Sicherheit die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland normativ überformt waren: Sie waren nicht nur wirtschaftlich nützlich, sondern auch politisch gut und wertvoll. Begünstigt wurde dieses Wunschdenken zusätzlich durch das Bewusstsein historischer Schuld wegen der Verbrechen Deutschlands an den Russen und anderen Sowjetvölkern während des Zweiten Weltkriegs.
2.3 Enttäuschungen
Der Unterschied zwischen Irrtum und Selbsttäuschung erscheint klein, ist aber bedeutend. Wer sich irrt, wusste es nicht besser. Wer sich hingegen selbst täuscht, hätte es besser wissen können, im Falle einer kollektiven Selbsttäuschung sogar besser wissen müssen. Ein individueller Irrtum ist allzu menschlich und leicht zu verzeihen. Die Selbsttäuschung der politischen Funktionselite Deutschlands über die Politik Russlands hingegen, stellt ihr ein schlechtes Zeugnis aus. Sie war jahrzehntelang nicht realitätstauglich, saß einem selbstgemalten Trugbildes auf und verleugnete die Interessen, die sie leiteten und denen sie diente. Es ist nicht unproblematisch, eben dieser Funktionselite die Verantwortung für eine Neuorientierung anzuvertrauen. Allerdings wird aktuell die Enttäuschung über die Verantwortlichen für Deutschlands Russlandpolitik von der viel größeren Enttäuschung über Russlands Krieg und den Zusammenbruch der europäischen Friedensordnung überschattet, für manche gewiss eine willkommene Nebenwirkung.
Mit ihrer rechtschaffenen Empörung über Russlands monströsen „Zivilisationsbruch“ lenkt die Zeitenwende-Rhetorik davon ab, dass eine realistische und verantwortungsvolle deutsche Politik längst hätte erkennen müssen, dass sich Russland unter Putin schrittweise aus dem zivilisatorischen Grundkonsens verabschiedet hatte, er also gar nicht mehr bestand. Und sie hätte danach handeln müssen. Insofern ist die „andere Welt“, in der wir am 24. Februar 2022 angeblich aufgewacht sind, Legende.
Berechtigt ist die Rede von der „neuen Realität“ jedoch insoweit, als Russlands Angriffskrieg dramatische Veränderungen in Europa und darüber hinaus ausgelöst hat, denen sich alle Staaten stellen müssen, und deren Ausmaß und Tragweite noch nicht absehbar sind. Vor allem das Wörtchen „aufgewacht“ in der Rede Baerbocks lässt daher aufhorchen. Wer aufgewacht ist, muss bis dahin offenbar geschlafen und geträumt haben. Die Bestürzung beim Aufwachen ist eine zunächst betrübliche, aber im Grunde positive Erfahrung. Sie befreit von Täuschungen und eröffnet einen neuen, frischen Zugang zur Wirklichkeit. Schocks und Enttäuschungen sind auch Chancen.
3. Die Zeitenwende 1989 und ihre Folgen
Eine „andere Welt“ verlangt nach neuer Politik. Die wiederum bedarf neuer Deutungs-muster und aktueller Handlungsanleitungen. Wer nichts Geringeres ausruft als eine Zeitenwende, der fordert dazu auf, mit Politikempfehlungen aufzuwarten, die der neuen Realität gerecht werden. Seit dem 27. Februar 2022 ist die Suche nach einem neuen Paradigma eröffnet.
Wer sich der Nachfrage nach Sinnstiftung stellt, begibt sich in ein Dilemma: Verstanden werden nur solche Deutungsmuster, die an bekannte anknüpfen, also für Konstellationen entwickelt wurden, die in der Vergangenheit liegen. Historische Analogien sind aber zwangsläufig unzureichend für das Verständnis aktueller Zusammenhänge und vor allem von Entwicklungen, die sich erst abzeichnen. Bereits die griechischen Philosophen wussten, dass derselbe Mensch nicht zweimal in denselben Fluss steigt. Das Bekannte am historischen Vergleich kann zudem den Blick auf das Neue verstellen, verfälschen oder auch ermüden lassen. Mag der geschichtliche Vergleich methodisch problematisch sein, so ist er doch kommunikativ alternativlos.
Die Zeitenwende muss sich gefallen lassen, an ihrem historischen Anspruch gemessen zu werden. Wie funktionieren eigentlich Zeitenwenden? Was geschieht danach? Wie war das noch mit der letzten Zeitenwende?
3.1 Geschichte mit Happy End?
Die letzte Zeitenwende ereignete sich vor etwas mehr als 30 Jahren. Die Auflösung des sowjetischen Herrschaftssystems führte zum Ende des Kalten Krieges, der zu diesem Zeitpunkt 44 Jahre angedauert hatte. Dieses einschneidende Ereignis war im Westen herbeigesehnt und auch herbeigeführt worden. Aber sein Zeitpunkt und sein gewaltfreier Verlauf hatten selbst Experten nicht vorhergesehen.
Unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Umwälzungen sagte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Sommer des Jahres 1989 nicht weniger voraus, als „das Ende der Geschichte“. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei deren zugrundeliegende Ideologie ein für alle Mal diskreditiert. Es gebe keine Alternative zur Idee des Westens mehr. Der wirtschaftliche und politische Liberalismus habe triumphiert.
„Was wir möglicherweise beobachten, ist nicht bloß das Ende des Kalten Krieges oder das Vergehen einer bestimmten Periode der Nachkriegszeit, sondern das Ende der Geschichte als solcher, d.h. den Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Form menschlicher Regierung.“
Der Sieg des Liberalismus als Idee war für Fukuyama Vorbote des Sieges der liberalen Demokratie als Regierungsform. Was für die USA noch zu tun blieb, waren gewissermaßen ‚Aufräumarbeiten‘ in der Staatenwelt.
Fukuyama traf mit seiner Vorstellung von einer Geschichte mit Happy End das damalige Lebensgefühl in den westlichen Gesellschaften. Seine steile These vom ‘Endsieg‘ des Liberalismus war höchst befriedigend. Man stand auf der richtigen Seite der Geschichte, konnte die Ängste des Kalten Krieges endlich hinter sich lassen und grundoptimistisch in eine strahlende Zukunft blicken. Der Frieden schien ausgebrochen, alles gut zu werden.
Vor allem aber lieferte Fukuyama das, was jede Zeitenwende benötigt: ein Paradigma oder – wie man es heute nennt – ein wirkmächtiges Narrativ. Das Ende der Geschichte taugte zugleich als Realanalyse, Standortbestimmung und Programmatik. Aus diesem Grunde wurde die These vom historischen Siegeszug des Liberalismus handlungsleitend für die Außenpolitik der USA, mal konstruktiv, mal überheblich.
3.2 Der Amerikanische Friede
Die konstruktive Wendung der ‚Aufräumarbeiten‘ der USA bestand einerseits in dem Bemühen, Russland, den ehemaligen Ostblock, aber auch die Volksrepublik China als „verantwortliche Interessenträger“ in die liberale Weltordnung zu integrieren und damit zu deren Stützen zu machen. James Baker, Außenminister von Präsident George H.W. Bush, formulierte das liberale Glaubensbekenntnis jener Zeit so:
„Die Geschichte zeigt, dass wirtschaftliche und politische Reformen zwei Seiten derselben Medaille sind. Gibt man ihnen wirtschaftliche Freiheit, so wollen sie auch politische Freiheit.“
Für Russland schnürten die G 7, Weltbank und Weltwährungsfonds unter Führung der USA Anfang 1992 ein 24 Milliarden-Dollar-Stabilisierungspaket.37 Im Jahr 1998 bewahrte der Internationale Weltwährungsfonds Russland vor der Zahlungsunfähigkeit. Mit einem bilateralen Abkommen ebneten die USA im November 2006 Russland den Weg in die Welthandelsorganisation, der im August 2012 erfolgreich beendet wurde. Die Partnerschaft für den Frieden zwischen NATO, Russland und zahlreichen Nicht-NATO-Staaten sollte zwischen einstigen Gegnern Vertrauen bilden, eine kooperative Sicherheitsarchitektur erproben und das Drängen der Osteuropäer auf NATO-Mitgliedschaft abfangen.
Andererseits konnte die US-Regierung der Versuchung nicht widerstehen, der Geschichte ein wenig nachzuhelfen zu wollen. Die Befreiung Kuwaits von seinen irakischen Besatzern im Jahr 1990 wurde von Präsident George H.W. Bush zum Kreuzzug für eine neue Weltordnung, friedliche Streitbeilegung, Solidarität gegenüber allen Aggressoren und Gerechtigkeit gegenüber allen Völkern überzeichnet. Dabei ging es doch in erster Linie um die Wahrung der bestehenden geopolitischen Rahmenbedingungen die den ungehinderten Zugang zu den regionalen Öl- und Gasvorkommen gewährleisten sollten.
In Europa machten die Balkankriege bereits Anfang der 1990 Jahre klar, dass sich nach der Zeitenwende 1989/90 keineswegs alles zum Guten wenden würde. Wiederum waren es die USA, die diplomatisch und militärisch eingriffen und den Krieg beendeten. Wie später im Jahre 2014 und im Februar 2022 hieß es auch damals, der Krieg sei zurück in Europa. War er denn jemals wirklich fort?
Nein, sagten die Kritikerinnen und Kritiker Fukuyamas. Der Kalte Krieg sei eine Abweichung vom historischen Normal gewesen. Blockkonfrontation und Systemkonkurrenz hätten nationalstaatliche und ethnische Konflikte vorübergehend diszipliniert und zugedeckt. Nach seinem Ende tauchten sie wieder auf. Die Geschichte sei nicht am Ende, sondern wieder zurück. Die Zukunft sei also nicht rosig, sondern düster, nicht friedlich, sondern gewaltreich wie eh und je.
Die liberale internationale Ordnung, die sich nach Ende des Kalten Krieges unter Führung der siegreichen Supermacht USA entwickelte, wird auch als Pax Americana bezeichnet. Der Begriff des Amerikanischen Friedens spielt auf die Herrschaft Roms über die gesamte damals bekannte Welt an, auf die Vergänglichkeit und auf die Doppelgesichtigkeit jeder hegemonialen Ordnung. Für diejenigen, die integriert sind und sie tragen, bringt die liberale Ordnung Sicherheit und Wohlstand. Diejenigen, die sich ihr widersetzen, werden nötigenfalls gewaltsam zur Ordnung gerufen oder niedergeworfen. Entsprechend ambivalent ist die Rolle der Führungsmacht. Einerseits ist sie Garant und ‚Dienstleister‘ der von ihr geschaffenen Ordnung. Andererseits vermag sie ihre Interessen darin leichter und umfassender durchzusetzen als andere Staaten, denn schließlich ist die Ordnung vor allem nach ihren Interessen gestaltet. Führung und Herrschaft sind schwierig zu trennen und eine Frage der Perspektive. Die Hegemonialmacht kann ihre Interessen im Zweifel sogar ungestraft durchsetzen, allerdings nicht rücksichtslos. Denn auch Führungsmächte sind darauf angewiesen, dass ihnen andere Gefolgschaft leisten: keine Ordnung ohne Legitimation.
3.3 Die Krise der liberalen internationalen Ordnung
Die Legitimationskrise der liberalen internationalen Ordnung hat verschiedene Ursachen und Facetten, die kaum von der Politik ihrer Führungsmacht USA zu trennen sind.
Die Hybris der einzigen Supermacht trug gewiss ihren Teil zur Krise der liberalen Ordnung bei. Die USA reagierten auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 mit dem weltweiten „Krieg gegen den Terror“ und einer Politik des Regimewechsels in antago-nistischen Ländern. Deren Exzesse und verheerenden Folgen zeigten einerseits, dass sogar die Machtmittel der einzigen Supermacht begrenzt waren – und ihre politische Weisheit ohnehin. Interventionen, Besatzung, Unterdrückung, Folter und Zerrüttung von Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere im Irak und in Afghanistan, entlarvten den liberalen Anspruch von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Wohlstand als entbehrlich, wenn es darauf ankam. Das Liberale an der liberalen Ordnung erschien als Doppelmoral, das Friedliche am Amerikanischen Frieden als leere Beteuerung.
Außerdem erfüllte sich das zentrale Versprechen der liberalen Theorie nicht. Der weltweite Siegeszug des Kapitalismus führte keineswegs überall zu bürgerlichen Freiheiten, Demokratie und Frieden. In zwei sehr prominenten Fällen ging die Zauberformel vom Wandel durch Handel nicht auf.
In der Volksrepublik China entwickelte sich zwar eine wohlhabende urbane Mittelschicht. Aber insoweit Wohlstand und Bildung ihr Verlangen nach Freiheit weckt, wird dieses von der Kommunistischen Partei unterdrückt. Demokratische Reformen finden nicht statt. Stattdessen zeigt das Regime nach innen zunehmend totalitäre Züge und nach außen wachsende Gewaltbereitschaft. In Russland hat sich ein Bürgertum als Träger des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts bis heute nicht entwickelt. Russlands Wirtschaftssystem gleicht dem eines Entwicklungslandes. Sein Wohlstand hängt von Rohstoffexporten ab und wird von der herrschenden Oligarchie abgeschöpft. Beiden Systemen ein Demokratiedefizit zu attestieren, hieße die Folgen für das internationale System und für ihre Nachbarländer zu verharmlosen. Die Volksrepublik China und Russland bekämpfen Demokratiebewegungen als systemgefährdend aktiv. Darüber hinaus propagiert die Kommunistische Partei Chinas ihren autoritären Staatskapitalismus selbstbewusst als erfolgreiche Systemalternative, die den westlichen Demokratien überlegen sei. Gefährlich wird das Fehlen demokratischer Kontrolle in beiden Systemen, weil deren Herrschaftselite eine revisionistische, wenn nicht revanchistische Außenpolitik verfolgt.
Überaus erfolgreich war die liberale Ordnung jedoch hinsichtlich der Entwicklung der Weltwirtschaft, vielleicht zu erfolgreich. Die Liberalisierung von Waren- und Kapitalmärkten, an der die Mehrheit der nationalen Volkswirtschaften im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten partizipierten, ermöglichte eine wachsende internationale Arbeitsteilung. Sie ließ die Volkswirtschaften der Schwellenländer schneller wachsen als die der westlichen Industrieländer. Die „Globalisierung“ verschob die Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft. Durch einen rasanten technischen Fortschritt beschleunigt, sank die relative wirtschaftliche Bedeutung der westlichen Industriestaaten, auch die der USA. Sie mussten sich dem Wettbewerb aus den Schwellenländern stellen. Die Volkswirtschaften der westlichen Industriestaaten mussten Strukturanpassungen vornehmen, was nicht immer gelang und Globalisierungsverlierer hinterließ. Der Westen und die USA wurden in dieser Hinsicht Opfer des erfolgreichen Exports ihres eigenen Wirtschaftsmodells. In den USA fanden die Globalisierungsverlierer Ausdruck und Stimme im antiliberalen, protektionistischen, fremdenfeindlichen und nationalistischen Populismus des Donald Trump.
Mittlerweile finden sich in allen westlichen Gesellschaften identitäre Bewegungen und Parteien. Sie sprechen mit vergleichbaren politischen Parolen diejenigen an, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen, sei es, weil ihre Arbeitsplätze verschwunden oder gefährdet sind, sei es, weil sie sich durch Einwandernde in ihrer kulturellen Identität bedroht fühlen. In mehreren Ländern sind nationalistische und identitäre Parteien mehrheitsfähig, in einigen an der Regierung. Aber ausgerechnet am Beispiel der Führungsmacht der liberalen internationalen Ordnung wurde unübersehbar, welch politischer Sprengstoff sich im Schatten der Globalisierung angesammelt hatte.
3.4 Ein scheiternder Staat als Führungsmacht?
Am 6. Januar 2021 stachelte der noch amtierende US-Präsident Trump nach seiner Wahlniederlage einen bewaffneten Mob an, auf das Parlament zu marschieren, um die Wahl seines Nachfolgers gewaltsam zu verhindern. Ein Putsch in der ältesten modernen parlamentarischen Demokratie? Das Unvorstellbare war greifbar nahe und wurde, so die rückblickende Beurteilung, nur durch die chaotische Vorbereitung der Putschisten selbst verhindert.
Der Befund ist bitter: Angesichts der Terroranschläge des 11. September 2001 erwies sich die US-amerikanische Gesellschaft als wehrhaft nach außen und solidarisch nach innen. Zwanzig Jahre später war sie tief gespalten und hatte dem Angriff von innen gegen ihre verfassungsmäßige Ordnung wenig entgegen zu setzen. Aus den United States of America sind innerhalb von zwanzig Jahren die „Disunited States of America“ geworden.
Über die Ursachen gehen die Meinungen auseinander. Der Krieg gegen den Terror habe einerseits wie eine „Schnellladesäule“ für die extreme und militante Rechte in den USA funktioniert. Andererseits sei autokratischer Populismus weltweit sehr erfolgreich. Trump habe das Erfolgsmodell nachgeahmt, Putin kopiert und während seiner Amtszeit die USA auf Kurs in Richtung Autokratie gebracht. Wieder andere sehen die Ursache schlicht im „maroden“ politischen System der USA.
Über die Folgen herrscht hingegen Einigkeit. Die Demokratie in den USA sei geschwächt, das Land anfällig für gewalttätigen Extremismus geworden und reif für dezentrale, bewaffnete Aufstandsbewegungen. Das größte Sicherheitsrisiko für die USA sei ihre eigene innere Zerrissenheit. In diesem Zustand könnten die USA weder Führungsmacht, noch verlässlicher Partner für ihre Verbündeten sein. Ein scheiternder Staat tauge nicht zur Führungsmacht.
Die offensichtliche innere Schwäche der USA ermunterte ihre Widersacher in Beijing und Moskau.
„Der Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 ist das dramatischste Zeichen für die Erosion liberal-demokratischer Normen gewesen, die nicht nur die Stabilität der liberalen Demokratien, sondern auch die der liberalen internationalen Ordnung bedroht. Die Tatsache, dass das liberal-demokratische Modell in einigen westlichen Demokratien zunehmend umstritten ist, hat die revisionistischen Mächte unbestreitbar ermutigt, ihre alternativen Vorstellungen sehr viel selbstbewusster anzupreisen.“
Man darf wohl davon ausgehen, dass das Schauspiel vom 6. Januar 2021 Putins Risikokalkül hinsichtlich der Konsequenzen seines Überfalls auf die Ukraine beeinflusst hat. Tatsächlich offenbaren die allerersten Reaktionen der Regierung Biden am 23. und 24. Februar äußerste Zurückhaltung gegenüber Russlands Überfall auf die Ukraine. Erst mit deren Abwehrerfolgen wurde die Politik der USA robuster, die in der Folge in ihre Rolle als Führungsmacht zurückfand.
Die innere Schwäche der USA hat Konsequenzen für ihre Außenpolitik. Für ihre Verbündeten ist das Grund zur Besorgnis, für ihre Gegner in Beijing und Moskau Chance und Ansporn. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat dem noch Ende 2019 von Frankreichs Präsidenten Macron hirntodgesagten NATO-Bündnis neues Leben eingehaucht und den Wertekanon der westlichen Demokratien wieder relevant und verteidigungswürdig werden lassen. Damit erhalten auch die USA als unverzichtbare Führungsmacht des Westens dringend benötigte, frische Legitimation.
3.5 Abschied von der splendid integration
Wie bereits im Kalten Krieg, hat Deutschland auch nach 1989 vom Amerikanischen Frieden außerordentlich profitiert. Deshalb ist es von dessen Niedergang besonders stark betroffen. Mit dem Kalten Krieg endete seine permanente und geopolitisch unmittelbare Kriegsbedrohung. Mit der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit war das Staatsziel der Bundesrepublik erreicht und zugleich der Aufstieg zur stärksten Volkswirtschaft des europäischen Kontinents eingeleitet. Die NATO-Erweiterung verschaffte Deutschland im Osten ein geopolitisches Glacis. Fortan war es „von Freunden umzingelt“ (Volker Rühe) und konnte eine für den Wiederaufbau der östlichen Landesteile auch hochwillkommene Friedensdividende einstreichen. EU-Erweiterung und Währungsunion verschafften der deutschen Wirtschaft neue Absatz- und Zuliefermärkte, auf denen sie ihre Wettbewerbsfähigkeit ausspielen konnte. Für kaum eine Ökonomie war die internationale Handels-und Finanzmarktordnung, integraler Bestandteil der liberalen Weltwirtschaftsordnung, so vorteilhaft wie für die exportorientierte deutsche Wirtschaft. Weil es so großartig in die internationale liberale Ordnung integriert war, brachten die mehr als dreißig Jahre Pax Americana Deutschland und Wohlstand. Beides ist nun gefährdet.
Die Vorteile, die Deutschland aus dem Amerikanischen Frieden gezogen hat, müssen auf ihre Zukunftsfähigkeit geprüft und über die Zeitenwende hinweg in eine neue Weltordnung gerettet werden, eine noch anspruchsvollere Aufgabe als die sicherheitspolitische Wende. Das Modell Deutschland muss sich in großen Teilen neu erfinden. Bei der Programmatik der Zeitenwende muss nachgearbeitet und Führung nachbestellt werden, um die Worte des Bundeskanzlers aufzugreifen.
4. Auf der Suche nach dem neuen Paradigma
In der Politikwissenschaft besteht längst Einvernehmen, dass die nach 1990 entstandene liberale Ordnung sich dem Ende zuneigt. Einige Vertreter sahen ihr Ende bereits vor dem Amtsantritt von Präsident Trump gekommen, einige mit ihm, jedenfalls vor Ausrufung der Zeitenwende durch den Bundeskanzler.
Die Münchner Sicherheitskonferenz verzeichnet eine Reihe prominenter Stimmen aus unterschiedlichen Lagern, die sich in einem Punkt einig sind: Die internationale Politik ist in eine Umbruchphase eingetreten, in der die Weichen für die postliberale Weltordnung gestellt werden. Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche und militärische Macht, sondern auch um Visionen, Leitbilder, letztlich um ein neues Paradigma.
4.1 Zeitenwende globalisiert
Rechtzeitig vor dem Jahrestag seiner Regierungserklärung legte Bundeskanzler Scholz bei der Zeitenwende programmatisch nach. Er wählte dafür das Zentralorgan des außenpolitischen Establishments der USA, die Zeitschrift Foreign Affairs.
Mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sieht Scholz das Ende einer dreißigjährigen Periode relativen Friedens und Wohlstands für den größten Teil der Welt besiegelt Nicht nur Europa, sondern die ganze Welt erlebe eine „epochale tektonische Verschiebung“. Diese sei auf eine Phase außergewöhnlicher Globalisierung zurückzuführen, die sich allerdings abschwäche. Neue Mächte hätten sich herausgebildet, alte seien zurück, insbesondere das wirtschaftlich starke und politisch selbstbewusste China.
Zentral für Scholz‘ Realanalyse ist sein Bild einer „neuen multipolaren Welt, in der unterschiedliche Länder und Regierungsmodelle miteinander im Wettbewerb um Macht und Einfluss“ stehen. Mit „Wettbewerb“ verwendet er denselben Euphemismus, wie die Nationale Sicherheitsstrategie der USA vom Oktober 2022. Ausdrücklich widerspricht der Kanzler der These vom Ende der Geschichte und auch der von ihrer zwangsläufigen Wiederholung in Form des Hegemonialkonflikts zwischen USA und VR China. Hiervon befürchtet er einen neuen Kalten Krieg mit Blockbildung, den es – so der Untertitel seines Aufsatzes – unbedingt zu vermeiden gelte. Rechtsgrundlage für die neue multipolare Ordnung soll weiterhin die Charta der Vereinten Nationen sein.
Nach Scholz‘ Vorstellung fällt die neue Weltordnung inklusiver und gleichberechtigter aus als die alte. Die Bereitschaft zu Dialog und Zusammenarbeit müsse sich über die „demokratische Komfortzone“ hinaus erstrecken, auch dies ein Topos aus der Nationalen Sicherheitsstrategie Präsident Bidens. Gleichwohl macht Scholz aus seiner Präferenz für Demokratien keinen Hehl und versäumt nicht, an Deutschlands historische Verantwortung dafür zu erinnern, Faschismus, Autoritarismus und Imperialismus zu bekämpfen. Weite Teile seines Beitrages nutzt Scholz für einen Rechenschaftsbericht sei-ner Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik seit Februar 2022.
Insgesamt zeigt sich der Kanzler in seinem Aufsatz als pragmatischer und vorsichtiger Realpolitiker. Der kraftvolle antirevisionistische Impuls aus seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 ist verloren gegangen. Seine Aussagen zu Russland und zu den Prinzipien des Völkerrechts sind über den Westen hinaus Konsens. Jenseits dessen vermeidet der deutsche Regierungschef klare Positionierungen. Darum bleibt seine multipolare Ordnung ein wenig blass, bis auf einen Punkt, an dem sein Hauptmotiv deutlich wird. Die „zentrale Frage“ laute: Wie können wir als Europäer und als Europäische Union in einer zunehmend multipolaren Welt unabhängige Akteure bleiben?“ Scholz sieht die Handlungsfreiheit und die Stellung Europas durch die ausgreifende Konfrontation zwi-schen den USA und der VR China bedroht. Darin erkennt er für Deutschland als europäische Führungsmacht die größte Herausforderung der postliberalen Weltordnung.
4.2 Multipolarität: Zustand, Ordnung und Kampfbegriff
Scholz fällt es leichter zu benennen, was die neue multipolare Ordnung nicht sein soll, als ihre Eigenschaften positiv zu beschreiben. Das ist bis zu einem gewissen Grade verständlich, schält sich die neue postliberale Ordnung doch gerade erst aus der alten liberalen heraus. Und die Trennung von ihr fällt schwer. So erinnert die neue multipolare Ordnung des Kanzlers denn auch stark an die alte liberale Ordnung, nur mit mehr Mitbestimmung und einem diverseren Vorstand. Scholz vermag dem, was er nach der Zeitenwende kommen sieht, einen Namen, eine Struktur und eine Rechtsgrundlage zu geben, aber keine Richtung, kein Programm und keine Strahlkraft. Die multipolare Ordnung des Kanzlers bleibt eine Kreatur ohne Eigenschaften und Antrieb. Den Anspruch an ein Paradigma, nämlich Realanalyse, Standortbestimmung und Programm zugleich zu sein, erfüllt sie nicht. Die multipolare Ordnung ist daher kein aussichtsreicher Kandidat für das neue Paradigma der postliberalen Weltordnung.
Eine Ursache dafür liegt zunächst an der programmatischen Schwäche des Konzepts der Multipolarität selbst. Multipolarität beschreibt eher einen unspektakulären Zustand als eine Ordnung. So wurde die kurze Zeit unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges als „unipolarer Moment“ für die USA bezeichnet, was Vergänglichkeit ausdrücken sollte. Multipolarität ist der Normalzustand einer vielfältigen Staatenwelt. Es kommt aber auf die Beziehungen der stärksten Mächte zueinander und zu den Mächten zweiter und dritter Ordnung an, damit sich aus dem Zustand eine Struktur entwickelt. In dieser Hinsicht bleibt Scholz‘ multipolare Ordnung statisch und stumm. Sie wirft Fragen auf: Soll das Verhältnis Europas zu den USA und zu China gleichgewichtig, tripolar und äquidistant sein? Was wird dann aus dem transatlantischen Bündnis und dem, was sich am Beispiel des Ukraine-Krieges als westliche Wertegemeinschaft erweist? Wie wird in einer multipolaren Weltordnung Stabilität gewährleistet? Was tun, wenn Russland und China den Appell wider die Blockbildung nicht beherzigen, ihre „strategische Partner-schaft“ vertiefen und zu einer ‚revisionistischen Internationale‘ erweitern?
Man kann Scholz‘ multipolare Ordnung als Chiffre für den Anspruch der Europäischen Union verstehen, in der postliberalen Ordnung ein Machtzentrum von ähnlicher Qualität sein zu wollen wie die USA und China. Für Deutschland reklamiert er die Führungsrolle in Europa. Doch dieser Anspruch wird bestritten und Deutschland tut sich schwer, ihm gerecht zu werden. Zudem entfernt sich die Vision von einem integrierten und harmonischen Europa immer weiter von der Realität. Die immer engere Union ist von vielen osteuropäischen Mitgliedstaaten nicht gewollt, sondern ein Bund von Nationalstaaten mit gemeinsamen Binnenmarkt, Transfermechanismen und Deutschland als zahlungsbereitem Geberland.
Hinzu kommt: „Multipolarität“ ist kein harmloses Etikett, sondern ein politischer Kampfbegriff. Im rhetorischen Arsenal der chinesischen Staats- und Parteiführung steht er neben dem „internationalen Kräftegleichgewicht“ und den Warnungen vor „Hegemonie“, „Blockbildung“ und einer „Mentalität des Kalten Krieges“. Diese Begriffe sollen gegen die USA mobilisieren und ihre Führungsrolle delegitimieren. In gleicher Absicht verwendet Putin den Begriff „Multipolarität“. In Russlands Überfall auf die Ukraine sieht er „den Anfang eines radikalen Zusammenbruchs der US-Weltordnung und den Übergang von einer liberal-globalistischen, egozentrisch amerikanischen zu einer wahrhaft multipolaren Welt“. Gemeinsam mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping fordert Putin eine “gerechtere, multipolare Weltordnung“. Das neue Konzept für die Außenpolitik der Russischen Föderation vom 31. Januar 2023 führt nicht nur die „multipolare Welt“ gegen die „Hegemonie“ der USA und ihrer Vasallen ins Feld. Sie nimmt außerdem an der „regelbasierten Ordnung“ Anstoß, welche die Nationale Sicherheitsstrategie der Regierung Biden, die Münchner Sicherheitskonferenz und auch der Bundeskanzler als Minimalausstattung für eine postliberale Weltordnung ansehen.
4.3 Die Warnung vor einem neuen Kalten Krieg: Die Suche nach dem kleineren Übel
Scholz‘ Warnung vor einem neuen Kalten Krieg hat ebenfalls einen seltsamen Beiklang. Sie ist zwar von Seiten eines deutschen Regierungschefs verständlich, durch dessen Land jahrzehntelang die Frontlinie des alten Kalten Krieges verlief. Und wie die USA den Kalten Krieg und den „Krieg gegen den Terror“ austrugen, weckt die Sorge, sie könnten sich in ähnlicher Weise in den nächsten Kalten Krieg mit der VR China stürzen. Doch verglichen mit dem heißen Krieg, der aktuell in der Mitte Europas tobt, wirkt der Kalte Krieg wie eine zwar gefährliche, aber immerhin noch regelbasierte Ordnung.
Damals war die Sowjetunion faktisch eine Status quo-Macht. Heute verfolgt Putins Russland eine aggressiv revisionistische Politik, wie Scholz in seiner Zeitenwende-Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 anprangerte. Damals traf ein mehrköpfiges Politbüro die wichtigsten Entscheidungen. Heute ist es der Alleinherrscher Putin, umgeben von einer Gruppe gleichgesinnter Opportunisten und Gefolgsleute. Im Kalten Krieg wurden Verträge geschlossen, überwacht und im Wesentlichen eingehalten. Außerdem gab es ungeschriebene Regeln, um das Risiko eines heißen Krieges zwischen den Blöcken und insbesondere den Supermächten zu kontrollieren. Heute werden Verträge offen gebrochen und elementare Normen des humanitären Völkerrechts verachtet, sodass keine Vertrauensbasis mehr besteht. Und mit dem Risiko nuklearer Eskalation und der Angst vor ihr treibt Putin sein Spiel. Während der Kalte Krieg Demarkationslinien, Pufferzonen und Stellvertreterkriege kannte, werden heute Grenzen verletzt, aufgeweicht, überschritten und ausgelöscht.
Prüft man diesen Kriterienkatalog für die VR China durch, fällt das Ergebnis ähnlich beunruhigend aus, nur, dass der Krieg gegen Taiwan nicht erklärt, sondern lediglich angedroht ist und vorbereitet wird.
Verglichen mit dem aggressiven Revisionismus von heute, weist der Kalte Krieg von damals sogar durchaus erstrebenswerte Elemente auf. So gesehen arbeitet sich der Kanzler am falschen Objekt ab und wendet sich an die falsche Adresse. Indem der Bundeskanzler vor einem neuen Kalten Krieg und neuer Blockbildung warnt und sich dem Ziel einer multipolaren Weltordnung verschreibt, macht er sich rhetorisch mit Putin und Xi Jinping gemein und Front gegen die USA. Wie ist das gemeint? Wohin soll das führen?
4.4 Systemkonflikt zwischen Autokratie und Demokratie
Eine ganze Reihe von Beobachterinnen und Beobachtern sieht die parlamentarische Demokratie mit Gewaltenteilung, Rechtsstaat und individuellen Freiheitsrechten herausgefordert, weltweit.Ratsschlussfolgerungen der Europäischen Union und Strategiepapiere des transatlantischen Bündnisses benennen diese Herausforderung spätestens seit 2014. Mit Russlands Überfall auf die Ukraine ist für viele aus der Herausforderung eine manifeste und unmittelbare Bedrohung geworden.
Außenministerin Baerbock sah bereits am 18. März 2022 einen Konflikt zwischen der regelbasierten internationalen Ordnung auf Grundlage der liberalen Idee auf der einen Seite und autoritären Regimen auf der anderen Seite. Am 19. Oktober 2022 war für sie „klar, dass wir in einem hybriden Krieg sind, dass wir in einem Wettstreit zwischen den Systemen sind, zwischen Demokratien und autoritären Regimen.“ Deshalb müsse Deutschland sich auch außerhalb von Europa dem „Wettbewerb“ mit autoritären Regi-men stellen. Ausdrücklich stellte die Außenministerin den Bezug zur Volksrepublik China her. Dies ist eine deutlich andere Sicht der Dinge, als sie Bundeskanzler Scholz in Foreign Affairs vorträgt. Die programmatischen Differenzen zwischen Außenministerin und Regierungschef liegen hier offen zutage.
Auch der Bundespräsident sprach in seiner Rede zum Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2022 von einem „Systemkonflikt zwischen Demokratien und autoritären Regimen“.
Dieser Systemkonflikt, gegen den Scholz argumentiert, ist Leitthema der Nationalen Sicherheitsstrategie der US-Regierung vom Oktober 2022. Sie benennt klar, dass es dabei um die Gestaltung der neuen internationalen Ordnung geht. Sehr deutlich wird der Zusammenhang zwischen innerer Staatsverfassung und aggressiver Außenpolitik hergestellt: „Die drängendste Herausforderung (…) stellen Mächte dar, die auf ihr autoritäres Regime noch eine revisionistische Außenpolitik setzen.“
„Ihr Verhalten fordert den internationalen Frieden und die Stabilität heraus, besonders die Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen, das aktive Untergraben demokratischer Prozesse in anderen Ländern, der Einsatz von Technologie und Lieferketten für Erpressung und Unterdrückung sowie der Export eines illiberalen Modells für die internationale Ordnung. Viele Nicht-Demokratien schließen sich den Demokratien der Welt an und verurteilen dieses Verhalten. Unglücklicherweise zählen Russland und die Volksrepublik China nicht dazu.“
So eindeutig die Nationale Sicherheitsstrategie der USA in der Sache ist, so umsichtig und besonnen ist ihr Tonfall. Einer neuen Blockkonfrontation und einem neuen Kalten Krieg, denen die Sorgen des Bundeskanzlers gelten, erteilt sie eine Absage. Statt von Systemkonflikt ist von einem „Wettbewerb“ die Rede. Es wird Selbstkritik an den Unzulänglichkeiten der Pax Americana ebenso geäußert wie die Bereitschaft, neue, inklusivere Bündnisse und Partnerschaften einzugehen, auch mit undemokratischen Regierungen. Denn unabhängig von der Systemkonkurrenz wird die Notwendigkeit anerkannt, zur Lösung globaler Probleme auch mit Rivalen zusammenarbeiten zu müssen. Das Strategiepapier räumt sogar Schwächen des eigenen demokratischen Systems ein, welche die Stärke und Glaubwürdigkeit der Führungsrolle der USA in der Welt beeinträchtigten. So viel Bescheidenheit, Selbstkritik und Kooperationsbereitschaft ist selten in US-Strategiepapieren. Der Kontrast zum selbstbewussten Gestaltungsanspruch der USA zu Anfang der 1990er Jahre („neue Weltordnung“, Regimewechsel) könnte kaum größer gewählt werden, um nicht Gefahr zu laufen, innenpolitisch als verweichlicht und als Verrat an der amerikanischen Sache gegeißelt zu werden.
Die Münchner Sicherheitskonferenz griff den Systemkonflikt zwischen Autokratien und Demokratien im Einleitungskapitel „Re:vision“ ihres Munich Security Report 2023 auf. Mehrdeutig ist dort von einem „Revisionistischen Moment“ die Rede, einem Motiv und Impuls oder einer bedeutsamen Entwicklung, die sich aber – so die optimistische Interpretation – als vorübergehender historischer Augenblick erweisen könnte.
Damit ist die Frage nach der historischen Qualität des Systemkonflikts zwischen revisionistischen Autokratien und den dem liberalen Status quo verpflichteten Demokratien aufgeworfen.
4.5 Die Zwanzigjährige Krise
Die Vertreter des antirevisionistischen Paradigmas ziehen unheilschwangere historische Parallelen. Wolfgang Schäuble vergleicht Putins Überfall auf die Ukraine mit Hitlers Einmarsch in die Tschechei. Der Generalstabschef Großbritanniens spricht vom Jahr 2022 als „unserem Jahr 1937“: „Wir befinden uns nicht im Krieg. Aber wir müssen schnell handeln, damit wir nicht in einen hineingezogen werden, weil wir es versäumen, territorialer Expansion Einhalt zu gebieten.“ Colin Kahl, Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium, zieht denselben Vergleich: „Wir haben schon einmal in einer solchen Welt gelebt: Man nannte sie die 1930er Jahre. Und es endete im katastrophalsten weltweiten Konflikt der menschlichen Geschichte.“
Die Analogie zu den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts wirkt deshalb treffend, weil sie die innere und die äußere Dimension des Systemkonfliktes zusammen denkt und abbildet. So hob Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede zum Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2022 hervor:
„Der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Idee der liberalen Demokratie und auf die Werte, auf denen sie gründet: Freiheit, Gleichheit, die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde. Dieser Krieg macht uns auf brutale Weise klar, dass wir unsere Demokratie schützen und verteidigen müssen – nach innen und nach außen!
Die US-Politikwissenschaftler Cooley und Nexon ziehen den Vergleich zur „Zwanzig-jährigen Krise“ zwischen den Weltkriegen,
„.. als sich Demokratien vielfältigem Druck ausgesetzt sahen, wie der Großen Depression, reaktionärem Konservatismus, revolutionärem Sozialismus und wachsenden internationalen Spannungen. Die liberalen Demokratien wirkten orientierungslos, zerstritten und insgesamt den Herausforderungen nicht gewachsen. Sie kämpften mit der Anpassung an eine technologische Globalisierung, die neue Massenkommunikationsmittel mit sich brachte, welche die illiberalen Kräfte geschickt zu ihrem Vorteil zu nutzen wussten. Internationale Migration fachte Nativismus an. Illiberale Politik und Ideen waren weltweit auf dem Vormarsch und verbreiteten sich in alten und neuen Demokratien gleichermaßen.“
„Die Zwanzigjährige Krise“ ist der Titel des Buches des britischen Diplomaten und Historikers Edward Hallet Carr, das am Vorabend der Zweiten Weltkriegs erschien. Es gilt als Standardwerk der modernen Realistischen Theorie der Internationalen Beziehungen. Seine historische Perspektive ist für Deutsche gewöhnungsbedürftig, aber lehrreich. Während in der deutschen Wahrnehmung die Katastrophen der beiden Weltkriege häufig die Zeit dazwischen überschatten, gilt Carrs Interesse genau dieser Zeitspanne vom Frieden von Versailles bis zum Kriegsausbruch im September 1939. Während Deutschland nach 1919 eine revisionistische Macht war, vertrat Carr eine Siegermacht, die den Status Quo verteidigte.
Das macht Carrs Betrachtung aktuell und suggestivkräftig. Er war Zeitzeuge, wie die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs errichtete liberale Ordnung erst erodierte und dann von revisionistischen und imperialistischen Mächten zerschmettert wurde. Carr warf der damals herrschenden Liberalen Theorie Machtvergessenheit vor. Ihren Vertretern hielt er entgegen, sie betrachteten das nach dem Ersten Weltkrieg geschaffene Internationale Recht als von nationalen Interessen unabhängig und ihnen ethisch überlegen. Dabei sei die Internationale Rechtsordnung geronnene Politik: „Das Recht ist keine Abstraktion. Es kann nicht unabhängig von dem politischen Fundament verstanden werden, auf dem es ruht und von den politischen Interessen, denen es dient.“ Als zentrales Problem einer internationalen Ordnung identifiziert Carr ihre Reformfähigkeit: Die Frage, wie politischen Kräfteverschiebungen in friedlicher Weise Rechnung getragen werden kann, also
„ … eine Revision der internationalen Gesellschaft mit anderen Mitteln herbeizuführen als durch Krieg, das ist das allerwichtigste Problem der internationalen Politik von heute.“
4.6 Machtkonflikt und Systemkonflikt
Von einer hohen Abstraktionsebene aus betrachtet fällt die Antwort auf die Problemstellung Carrs leicht. Analytisch lassen sich drei Reaktionsmöglichkeiten unterscheiden. Man kann versuchen, den Revisionisten ihre Ansprüche abzukaufen. Um ihre Ansprüche zu befriedigen, kann man ihnen Zugeständnisse machen, beispielsweise territoriale. Oder man kann versuchen, revisionistische Mächte durch Androhung und Anwendung militärischer Gewalt von der Durchsetzung ihrer Ansprüche abzuhalten.
In der konkreten politischen Praxis wird es schwieriger. Die beträchtlichen Wohlstandstransfers nach Russland haben das Regime Putin von seiner aggressiv revisionistischen Außenpolitik nicht abgehalten. In der VR China ist die politische Strategie des Wandels durch Handel gescheitert. Das Primat der Politik vor der Ökonomie wird von der Partei- und Staatsführung durchgesetzt und wirtschaftliche Macht zum Mittel der Außenpolitik gemacht.
Sieht man im Veto Deutschlands und Frankreichs gegen den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens im Jahr 2008 und im Minsker „Friedensprozess“ nach 2014 den Versuch, den Revisionswünschen und Sicherheitsbedürfnissen Russlands entgegenzukommen, so ist er spätestens am 22. Februar 2022 gescheitert. Liegt die Ursache für Aggression und Krieg indes im großrussisch-imperialistischen Geschichtsbild und in der faschistoiden Ideologie der Clique um Putin, so könnte Zurückhaltung sogar als Schwäche ausgelegt worden sein und zur Aggression ermuntert haben. Sieht man in der Rückgabe Hongkongs an die VR China unter der Bedingung „Ein Land, zwei Systeme“ den Versuch, berechtigte territoriale Revisionswünsche zu erfüllen, ohne das liberale politische System der ehemaligen Kronkolonie preiszugeben, so zeigt dessen brutale Gleichschaltung, dass die Partei- und Staatsführung in Beijing in Systemfragen keine Kompromisse akzeptiert.
Verlegen sich die Demokratien hingegen auf militärische Abschreckung und Abwehr, so begeben sie sich auf ein Terrain, auf dem Autokratien und Diktaturen natürliche Vorteile genießen. Putins Drohungen mit taktischen Atomwaffen und die Friedensappelle deutscher Intellektueller zeigen das. Die hohen Kosten, Unwägbarkeiten und Risiken von Gewaltpolitik sind aus dem Kalten Krieg in lebhafter und schlechter Erinnerung.
Und doch befinden wir uns bereits genau auf diesem Weg, weil Integrationsangebote, Abkaufen von Ansprüchen und Befrieden durch Zugeständnisse bei den Autokratien nicht verfangen haben. Die Ursachen hierfür sind erkannt. Es geht ganz offenbar nicht allein um Wohlstand, Territorium und historisch begründete Geltungsansprüche. Es geht ganz wesentlich um Wertvorstellungen, die sich gegenseitig ausschließen. Wir haben es nicht allein mit einem Machtkonflikt zu tun, sondern auch mit einem Werte- und Systemkonflikt. Aus den oben zitierten Programmdokumenten, der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA aus dem Oktober 2022 und dem Konzept für die Außenpolitik Russlands von Ende März 2023 ist dies gut abzulesen. Die politischen Systeme Demokratie und Autokratie schließen sich wechselseitig aus.
Das systemische Element des Konflikts tritt an seinen geopolitischen Grenzlinien besonders deutlich hervor. Eine zynische Realpolitik hätte die Unabhängigkeit der Ukraine dem Bestreben nach Befriedigung der Revisionsansprüche Russlands geopfert. Doch was hätte das für die liberale Ordnung und ihre Werte wie Souveränität, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Unverletzlichkeit der Grenzen bedeutet? Sie wären in zentralen Punkten unglaubwürdig geworden. Wenn man nur weit genug in die Geschichte zurückgeht, lassen sich auch die Ansprüche der VR China auf Taiwan begründen. Die Insel ist geopolitisch exponiert. Aber Taiwan ist eine Demokratie. Gibt man Taiwan den Ansprüchen der VR China preis, gibt der Westen auch ein Stück weit seine eigenen Wertvorstellungen auf. Es geht auch hier um mehr als um Territorium und um Wohlstandsinteressen des Westens. Es geht um das Wesen, die Werte und die Legitimation des politischen Systems, in dem wir leben. Wenn wir den Systemkonflikt nicht annehmen, besonnen und ernsthaft, und das verteidigen, was die liberale Demokratie ausmacht, so riskieren wir tatsächlich, in einer „anderen Welt“ aufzuwachen.
5. Schlussbemerkung
Paradigmen sind Erfindungen einer relativistischen Erkenntnistheorie, die sich von der Idee einer absoluten Wahrheit verabschiedet hat und feststellt, dass Reichweite und Qualität von Erklärungen über deren Akzeptanz und Erfolg entscheiden. In diesem Sinne ist die Suche nach dem Paradigma für die postliberale Weltordnung in Politik und Politikwissenschaft noch in vollem Gange. Doch erklärt das Narrativ von der Systemrivalität zwischen Autokratien und Demokratien mehr und hat zahlreichere Anhänger als der Gegenentwurf einer multipolaren Weltordnung. Als Interpretationsrahmen (frame) für die Zeitenwende wirkt die Multipolarität schief, die System- und Machtkonkurrenz hingegen passender.
Zur breiteren Anerkennung des Paradigmas „Macht- und Systemkonflikt“ trägt bei, dass sie fatal an die Zwanzigjährige Krise von 1919 bis 1939 erinnert. Dieser Déjà-vu-Effekt macht sie im Westen historisch und politisch anschlussfähig. Das neue Paradigma ist zwar noch nicht elegant ausformuliert, aber mit dem etwas sperrigen Begriff „Antirevisionismus“ bereits aussagefähig skizziert. Seine Realanalyse und Positionsbestimmung be-sagen, dass die westlichen Demokratien nicht nur an Strahlkraft eingebüßt haben, sondern sich mittlerweile konkreten und nachhaltigen autoritären Angriffen auf ihre politische Ordnung erwehren müssen. Sie sind in der Defensive. Programmatisch geht es darum, gewaltsame wie subversive Veränderungsbestrebungen zurückzuweisen und gleichzeitig die Legitimation einer neuen, inklusiveren regelbasierten internationalen Ordnung zu stärken und zu verbreitern. Im Unterschied zur Multipolarität ist Antirevisionismus Realanalyse, Standortbestimmung und Programm zugleich und besitzt damit alle notwendigen Voraussetzungen, um zum neuen Paradigma der postliberalen Weltordnung werden zu können.